KRANKENVERSICHERUNG Kapitulation
Als sie am Montag vergangener Woche das Bonner Palais Schaumburg verließen, waren die praktizierenden Mediziner und Spitzenfunktionäre der fünf westdeutschen Ärzteverbände sich über zwei Erkenntnisse einig, die sie während ihres Gesprächs mit dem Kanzler gewönnen hatten: Konrad Adenauer sehe nach seiner Krankheit noch gar nicht wieder gut aus, und er stehe im Streit um die Krankenversicherung nach wie vor aktiv auf ihrer Seite
Die Verbandsmänner Fromm, Voges, Häußler, Roos und Berensmann* hatten ihre Bonn-Visite durch ein Schreiben vom 6. Dezember »an den Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands« eingeleitet, in dem es heißt: »Wir bedauern zutiefst, daß wir uns wegen der Krankenversicherungsreform unmittelbar an Sie wenden müssen, da eine Entwicklung eingetreten ist, die im Gegensatz zu den Grundsätzen steht, denen wir in dem Gespräch mit Ihnen am 17. 8. 1960 zustimmten.«
Bei dem Treffen im August hatten die Arzte dem Kanzler einige jener Zusagen abgerungen, mit denen er gern aufdringliche, aber einflußreiche Lobbyisten seines Wohlwollens versichert und die
sich bei der praktischen Gesetzesarbeit oft als hinderlich erweisen.
Die Aufgabe, von den vernünftigen Reformvorschlägen des Bundesarbeitsministers Theodor Blank wenigstens einige in das seit Jahresfrist diskutierte Gesetz über die Krankenversicherung hinüberzuretten, hatte der Arbeitskreis IV ("Arbeit und Soziales") der CDU -Fraktion übernommen. Die Fachleute der Christlichen Demokraten reagierten auf den Interessentendruck der Weißkittel souveräner und ablehnender als ihr Parteichef.
Als Dr. Friedrich Voges von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung - gestützt auf das August-Gespräch mit Adenauer - vor dem Sozialausschuß des Bonner Bundestags Vortrag hielt, kam es sogar zu einem Zwischenfall. Voges referierte »in seiner bekannten kernigen Art« (SPD-Ausschußmitglied Professor Schellenberg), was der CDU-Sozialfachmann Josef Stingl verärgert mit dem Zwischenruf: »Kasernenhof-Ton« quittierte. Redner Voges seinerseits zeigte sich darüber so erbost, daß den Fraktionskollegen eine Entschuldigung Stingls ratsam schien.
Brieflich ließ deshalb der CDU-Mann den Ärztefunktionär wissen, er habe nicht geahnt, daß es sich bei dem Redestil des Dr. Voges nicht um eine Provokation, sondern um seinen gewöhnlichen Umgangston gehandelt habe. Dies vorausgeschickt, stehe er nicht an, sich für seinen Zwischenruf zu entschuldigen.
Die kühle Aufnahme ihrer Vorschläge durch die CDU-Vertreter erboste die Mediziner um so mehr, als es ihnen während ihrer voraufgegangenen Lobbyisten-Tätigkeit bereits gelungen war, einen der Kernpunkte des Blank-Entwurfs - die Selbstbeteiligung der Patienten - auszustechen. Von einer solchen Kostenbeteiligung hatten sie einen Rückgang des Zustroms jener Patienten in die Sprechzimmer befürchten müssen, die bisher wegen jedes Zipperleins den Arzt aufzusuchen pflegen.
Nach mehrmonatigen Attacken ersetzte schließlich die CDU die Selbstbeteiligung durch- eine harmlose Krankenscheingebühr. Was zu umkämpfen für die Ärztefunktionäre übrigblieb, waren nunmehr in der Hauptsache die Vollmachten und Praktiken ihrer Verbandsorgane bei der Verteilung der Arzthonorare.
Dem Kanzler hatten die fünf das Einverständnis dazu abgehandelt, daß »in Fortentwicklung des bisherigen Kassenarztrechtes« weiterhin die Preußische Gebührenordnung (Preugo) gelten sollte, nach der jede ärztliche Einzelleistung - Spritze, Arztbesuch oder ähnliches - honoriert wird. Zum anderen legte die Kassenärztliche Vereinigung das Protokoll über ihr August -Gespräch mit dem Kanzler dahingehend aus, daß die Kassenarzt-Organisation zum Empfang der Honorare berechtigt sein und wie bisher nach einem von Funktionären selbst errechneten Schlüssel die Gelder unter die Ärzte aufteilen sollte.
Im CDU-Arbeitskreis IV lehnte man dieses Verfahren für die Zukunft ab. Künftig sollte die Kassenärztliche Vereinigung das Gesamtaufkommen der Honorare nur treuhänderisch entgegennehmen. Und anstatt dem einzelnen Arzt nach Verbandsschlüssel einen Anteil an den Zahlungen der Krankenkassen zuzuweisen, sollten die Funktionäre ihren Ärzten in Zukunft bei jedem abgerechneten Krankenschein aufzeigen, welcher Betrag vom Honorar für die Verbandstätigkeit einbehalten wird.
Der Kostenabschlag sollte durch einen Prozentsatz kenntlich gemacht und der
Restbetrag direkt dem Arzt überwiesen werden. Bei dem bisher praktizierten Pauschalsystem kann der einzelne Arzt nicht kontrollieren, wieviel Honorar auf ihn selbst entfällt und welcher Kostenanteil für Verwaltung und Sozialmaßnahmen in der Bundesvereinigung hängenbleibt:
Entgegen dem Vorschlag der Funktionäre befürworteten die CDU-Sozialpolitiker auch, die Preugo nach einer Übergangszeit abzuschaffen. An ihre Stelle sollte Theodor Blanks etwas umständlich als Leistungsansatz-Gebührenordnung bezeichnete neue Abrechnung treten.
Sie unterscheidet sich von der Preugo hauptsächlich dadurch, daß sie viele Einzelleistungen, beispielsweise die Verabreichung jeder einzelnen Spritze, zu einer Gesamtleistung - in diesem Fall zum Posten »Spritzenbehandlung« - zusammenzieht. Die neue Ordnung würde die Abrechnung des Arztes mit der Kasse erleichtern und überdies die
Versuchung ausschließen, einen Patienten beispielsweise mit mehr Injektionen zu traktieren als erforderlich.
Der CDU-Arbeitskreis opponierte auch gegen Konrad Adenauers Versprechen, »die vertragliche Vereinbarung über die DM-Beträge der Gebührenordnung ... wie bisher zwischen der (einzelnen) Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung« zu schließen.
Dr. Friedrich Voges und seine Mitstreiter wollen mit jeder der 2038 westdeutschen Krankenkassen einzeln über die Tarifsätze verhandeln, weil sie so leichter eine Kasse gegen die andere ausspielen können. Ähnlich der Praxis der Gewerkschaften, für gut florierende Industriegruppen vorweg hohe, andere Branchen präjudizierende Löhne festzusetzen, könnte die Organisation der Kassenärzte mit finanziell gutgestellten Krankenkassen hohe Arzthonorare aushandeln, um sie dann auch schwächeren Kassen aufzuzwingen.
Die CDU-Politiker aus dem Arbeitskreis IV dagegen fordern, daß die Tarifsätze künftig jeweils zwischen dem Landesverband der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Landesvereinigung ausgehandelt werden.
In ihren Funktionärsrechten direkt angegriffen fühlten sich die Verbandsvertreter schließlich durch eine Vorschrift aus dem Arbeitskreis IV, mit der sie gezwungen werden sollen, die Höhe ihrer Amtseinkünfte in der Satzung der Vereinigung fest- und offenzulegen.
In dem Brief vom 6. Dezember beklagten sich die fünf Verbandsleiter deshalb bei Konrad Adenauer, die ärztliche Selbstverwaltung werde durch die Beschlüsse seiner Fraktionsexperten »eingeengt« und »ausgehöhlt«. An anderer Stelle hieß es: »Sollten derartige Vorstellungen Gesetz werden, so könnte die Ärzteschaft daraus nur den Schluß ziehen, daß ... ein Knebelungsgesetz gegen die Ärzteschaft geschaffen werden soll.«
Sogar auf den Zwischenruf des Abgeordneten Stingl nahm Dr. Voges peinlich genau Bezug: »Bei einer erneuten Anhörung von Sachverständigen im Sozialpolitischen Bundestagsausschuß zeigte sich bei einigen Sozialpolitikern der CDU gegenüber den Vertretern der Ärzteschaft eine ausgesprochen feindselige Haltung, die offen vor den anwesenden Vertretern von SPD und FDP demonstriert wurde.«
Das Schreiben gipfelte in der Aufforderung an den Parteichef Adenauer, »nochmals Ihre von einigen Sozialpolitikern Ihrer Partei anscheinend in Frage gestellte Autorität geltend zu machen«.
Von seiner Erkrankung kaum genesen, lud Konrad Adenauer deshalb die Funktionärsvertreter schnell zu ihrem jüngsten Besuch nach Bonn ein. Gleichzeitig fahndete er unter der Beamtenschaft nach Widerspenstigen, die, wie ihm zu Ohren gekommen war, ebenso wie die CDU-Parlamentarier Blanks Vorschläge für die besseren halten.
Der Kanzler schickte den Ärztebrief an seinen Arbeitsminister weiter und forderte ihn auf, ihm jene Beamten zu benennen, die sich im Sinne der CDU -Arbeitskreis-Beschlüsse und gegen seine Absprachen mit den Ärzten vom 17. August geäußert hätten. Er, so betonte Adenauer schriftlich, werte das »an Sabotage grenzende Verhalten« solcher Beamten sehr ernst.
So ohnmächtig indes Theodor Blank dem Kanzler-Willen und der Intervention der Ärzte ausgeliefert ist, so entschlossen deckte er seine Mitarbeiter. Einen der in Kanzler-Ungnade Gefallenen, den Ministerialrat Dr. Hans Schmatz, hielt er sogar in seinem Hause, nachdem dieser, des Kampfes müde, schon vorher um seine Versetzung gebeten hatte. Blank ließ ihn, Adenauer und den Ärzten zum Trotz, auf seinem Posten. Die nachhaltige Einflußnahme der Mediziner auf den Regierungschef kann er jedoch nicht verhindern.
In Anwesenheit des Bundesarbeitsministers sowie der CDU/CSU-Abgeordneten Horn, Arndgen und Memmel trugen die fünf Verbandsfunktionäre am Montag vergangener Woche ihre Forderungen ein weiteres Mal im Palais Schaumburg vor. Nach den drei Verhandlungsstunden stand fest, für wen Konrad Adenauer sich entschieden hat. Auf keinen Fall für seinen Arbeitsminister.
Wenn nicht die CDU-Fraktion noch offen gegen Adenauer Partei ergreift, werden die Ärzte die alte Gebührenordnung behalten und ihre Verbandsmacht in Verhandlungen mit jeder einzelnen der 2038 Kassen einsetzen dürfen.
Allein die Frage der Honorarzahlung könnte weiterhin unterschiedlich ausgelegt werden, weil sich der verwirrte Adenauer ebenso für die Gesamtvergütung zu Händen der Kassenarzt -Organisation wie für den Rechtsanspruch des einzelnen Kassenarztes auf sein Einzelleistungshonorar nach dem Vorschlag der CDU-Experten ausgesprochen hat.
Selbst dieses Problem aber wird dank der rastlosen Filibustertätigkeit der Verbandsfunktionäre vermutlich erst vom nächsten Bundestag entschieden werden können. Der Sozialpolitische Ausschuß des Bundestags jedenfalls ist nicht in der Lage, den immer wieder umgestoßenen Gesetzentwurf während der verbleibenden 16 Sitzungstage dieser Legislaturperiode abschließend zu beraten.
Bestenfalls schafft das Parlament noch ein Teilgesetz mit den Bestimmungen, bei denen Bonn bereits vor den Ärzten kapituliert hat.
* Dr. Ernst Fromm, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages; Dr. Friedrich Voges, Erster Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung; Dr. Siegfried Häußler, Erster Vorsitzender des Verbandes der Ärzte Deutschlands (Hartmann-Bund) e. V.; Dr. Kaspar Roos, Vorsitzender des Verbandes der Niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV) e. V., Dr. Rolf Berensmann, Vorsitzender des Marburger Bundes.
Die Welt
Minister Blank und seine Krankenversicherungs-Reform