SCHRIFTSTELLER / KARL MAY Karl der Deutsche
Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!
Letzte Worte Karl Mays am 30. März 1912.
Einen geborenen Verbrecher und Jugendverderber nannten ihn seine Feinde, aber einer seiner Monographen beschrieb ihn als »liebevoll und weich«, als einen »verträumten, in sich versponnenen, herzensguten Mann, in dessen Innerem so sehr alles Weibliche überwiegt«. Und auf den Maler George Grosz, der ihn in seiner Radebeuler Villa besuchte, wirkte der bleichgesichtige Sachse mit den wasserblauen Augen - Größe 1,66 Meter -, »als stünde er immer im Winde und fröre«.
Einer millionenstarken Gemeinde Jugendlicher und nicht mehr ganz Junger hingegen repräsentiert Karl May seit Ende des vergangenen Jahrhunderts das Traum-Ideal fehlerloser Virilität. Achtzehn Millionen Buchkäufern und mehreren Hundert Millionen Lesern zur Feier, reitet sein Heros Old Shatterhand seit über achtzig Jahren durch amerikanische Prärien, sein Heros Kara Ben Nemsi durchs Morgenland: ein christlicher Kraftmichel in exotischen Landschaften, die sein weniger potenter Autor bis ins späte Alter hinein nie zu Gesicht bekommen hat.
Auf annähernd 60 000 Buchseiten verherrlichte der Romancier mit der kriminellen Vergangenheit und mit den widersprüchlichen Charakterzügen des Psychopathen das unkomplizierte und urwüchsige Leben in zivilisationsfernen Kontinenten, pries er die »finsteren und blutigen Gründe« indianischer Territorien und die Wüstenflächen des Orients. Aber noch im wildesten Westen bleibt sein Held fromm wie der Katechismus, bieder wie das Bürgerliche Gesetzbuch und deutsch wie die Nationalhymne - ein Übermensch nach Kleinbürger-Maß, der seinem Urheber folgerichtig den Ruhmestitel eines »Volksschriftstellers« einbrachte.
Karl May, rühmte der spätere Literatur-Nobelpreisträger Hermann Hesse seinem weitaus einflußreicheren Kollegen nach, wurde »der glänzendste Vertreter eines Typs Dichtung, der zu den ganz ursprünglichen gehört und den man etwa 'Dichtung als Wunscherfüllung' nennen könnte«.
Fünfzig Jahre nach seinem Tod und kurz vor Ablauf der Urheberschutzfrist für seine 70bändigen »Gesammelten Werke« am 31. Dezember 1962 ist Karl May vollends zu einem der »folgenreichsten Schriftsteller deutscher Zunge« (May-Forscher Arno Schmidt) avanciert - zu einer Art Praeceptor Germaniae, dessen Einfluß zweifellos größer war als der jedes anderen deutschen Autors zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann.
Drei. Leser-Generationen lang, über Kaiserreich, Weimarer Staat, Hitler-Regime und dreizehn Jahre Bundesrepublik hinweg, hat Karl May, nach Schriftstellerart eher seßhaft, Deutschlands Teenager mit dem Traumbild heroischer Freizügigkeit versorgt. Er faszinierte Philister und Großgeister, Pädagogen und Demagogen, Faschisten, Sozialisten und Pazifisten. Die Wirkung seiner Bücher war so groß, daß - so der Dissertant Viktor Böhm in seiner May-Studie* - »sogar erörtert wurde, ob nicht die Entstehung des Wandervogels und der ganzen romantischen Jugendbewegung überhaupt erst durch Karl May ausgelöst wurde«.
Katholische Kirchenfürsten lobten seine Reiseerzählungen als »sittlich rein« und forderten für sie »einen Platz in dem Hause der christlichen Familie«; der Arbeiterführer Karl Liebknecht bekannte, daß er Mays Bücher »seit Jahren schätze und immer wieder gern lese«. May-Enthusiast Hitler empfahl die Abenteuergeschichten Mays seinen Generälen als belebende Lektüre, und von der Jugend der dreißiger Jahre verlangte der nationalsozialistische Gauleiter und bayrische Kultusminister Hans Schemm im Jargon des Dritten Reichs »Mut, Initiative, Schneid, Abenteuerlust und Karl-May-Gesinnung«.
Die Wiener Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 1905, Bertha von Suttner ("Die Waffen nieder"), wies May einen »achtunggebietenden Rang« in der Literatur zu und resignierte allzu ehrfurchtsvoll: »Wenn ich nur eines seiner Werke hätte gestalten können, dann hätte ich mehr erreicht.«
Albert Einstein bekundete - ähnlich wie Albert Schweitzer - seine »Vorliebe für den verehrten Old Shatterhand«, und während der differenzierter ausgestattete Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann nur eine »wunderliche Erscheinung« in dem sächsischen Berufskollegen zu erblicken vermochte, gab der zumeist uriger Volkstümlichkeit verbundene Dramatiker Carl Zuckmayer seinem May-Enthusiasmus derart statt, daß er seine Tochter unter dem Namen des von Karl May erdichteten Häuptlings Winnetou ins Standesamtsregister eintragen ließ.
In der »Frankfurter Zeitung« vom 31. März 1929 bescheinigte der Philosoph Ernst Bloch ("Das Prinzip Hoffnung") dem »Spießbürger« Karl May, der fabulierend »den Muff seiner Zeit« durchstoßen habe, er sei »einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste schlechthin, wäre er eben kein armer, verwirrter Proletarier gewesen«.
»Ob Kind im D-Zug, ob Greis im Kindergarten«, dozierte unlängst der 48jährige Romancier und Literaturforscher Arno Schmidt, »ich stehe nicht an, zu behaupten, daß, wenn man ein deutsches Normalhirn zu öffnen sich die Mühe machte, man, unter anderen wunderlichen nichtzusammenhängenden Bildungsbröckchen à la Karl der Große / 70-71 / die alten Römer / der Alte Fritz / der alte (oder junge?) Goethe / Schneewittchen und die 7 Zwerge / das kategorische Imperfekt / das immer siegreich geschlagene Frankreich, man unweigerlich auch Hadschi Halef Omar darin vorfinden würde: Old Shatterhand AG.«
Die »sittliche Großmacht« Karl May (so Reformpädagoge Ludwig Gurlitt), bisher vornehmlich in rund zweieinhalb Metern arabeskenverzierter Grünbände offeriert, zeigt sich trotz ihrer veralteten Ideale in der restaurierfreudigen Jahrhundertmitte wirksamer als je zuvor.
Die Spielzeug- und Filmindustrie, das Deutsche Fernsehen und deutsche Doktoranden, Jugendklubgründer und Theaterunternehmer, Schallplatten-Produzenten, Rundfunksender und Spielkartendrucker haben sich der Figuren bemächtigt, die Volksschriftsteller May, nach eigener Darstellung als »Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers« herangewachsen, ersonnen hat.
Karl Friedrich May, der für seine 1910 veröffentlichte Autobiographie »Mein Leben und Streben"** ursprünglich den Titel: »Am Marterpfahl und Pranger« vorgesehen hatte, ist 1842 in der Kleinstadt Hohenstein-Ernstthal als Sohn eines Webers und einer Hebamme geboren worden. Bald nach der Geburt erblindete er für vier Jahre. Von seinen insgesamt dreizehn Geschwistern starben neun in früher Kindheit.
Seiner Erinnerung zufolge schloß Karl schon zur Zeit der Blindheit erste Bekanntschaft mit Literatur: Seine Großmutter, »eine Dichterin von Gottes Gnaden«, beeindruckte ihn als Märchenerzählerin derart, daß er sie später als Modell für seine mythische Greisinnenfigur Marah Durimeh benutzte.
Sonst verlief das Familienleben offenbar weniger beglückend. Mutter May war eine »Märtyrerin«, Vater May »ein Mann mit zwei Seelen«, der im Jähzorn die Kinder mit einem dreifach geflochtenen Strick prügelte und der Armseligkeit seines Heimarbeiter-Daseins mit Alkohol abzuhelfen versuchte.
Immerhin wurde die Begabung des Schülers Karl ("Ich sehnte mich nach Licht und Wärme") erkannt: Beim Kantor erhielt er kostenlos Orgel-, Klavier- und Geigenunterricht, im Kirchenchor der Stadt fungierte er als Solist.
Karl durchstöberte die Büchereien seiner Gönner und erbaute sich an Traktaten und Erweckungsschriften, aber auch an weniger erhabener Lektüre: In der Leihbücherei eines Wirtshauses, in dem er sich als Kegeljunge verdingte, las er von den Heldentaten des edlen Banditen Rinaldo Rinaldini (Verfasser: Goethes Schwager Christian August Vulpius), von »Sallo Sallini«, »Himlo Himlini« und von »Ermilia, der eingemauerten Nonne«.
Karl May: » Ich glaubte an das, was ich da las, und Vater, Mutter und Geschwister glaubten es mit.«
Mutter Christiane Wilhelmine und Vater Heinrich August entschieden, daß Karl-Friedrich zu Höherem tauglich sei. Nach konsequenter Familienhungerei durfte er sich, vom gräflichen Kirchenpatron mit jährlich fünfzehn Talern unterstützt, im Seminar Waldenburg zum Lehrer ausbilden lassen.
Ein erster Zwischenfall blieb ohne ernstliche, Folgen; der Seminarist hatte für die elterlichen Weihnachtsleuchter aus den Klassenzimmern Talglichtreste gestohlen.
Er wurde zwar deswegen aus dem Seminar entlassen, konnte aber im nahen Plauen sein Studium abschließen. 1861, nach kurzer Lehrtätigkeit in Glauchau, trat der Jungpädagoge eine Stelle in einer Alt-Chemnitzer Fabrikschule an, wo er erwachsenen Arbeitern Unterricht gab: »Ich besaß ein Amt, ich bekam Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da ... Mein Weg schien zwar schwer und mühevoll, aber völlig frei zu sein.«
Doch noch im selben Jahr wurde Mays Lehrer-Karriere jäh beendet: Sein Chemnitzer Zimmergenosse, ein Buchhalter, zeigte ihn wegen Diebstahls an und ließ ihn während der Weihnachtsferien verhaften. In Mays Taschen fand die Polizei eine Uhr, die ihm, Mays autobiographischer Version zufolge, der Buchhalter geliehen hatte. Aber dem Gericht schien die Anzeige des Uhreneigentümers plausibler: May erhielt sechs Wochen Gefängnis.
Der gestrauchelte Lehrer ("Die Welt hatte mich betrogen, um meine Zukunft, um mein Lebensglück") versuchte zunächst, mit dem Fiasko seiner Laufbahn fertig zu werden. Er etablierte sich fürs erste als privater Sprach- und Musiklehrer in seiner Heimatstadt und begann, Humoresken und »Erzgebirgische Dorfgeschichten« zu schreiben.
Dann aber fühlte er sich, seiner Selbstbiographie zufolge, gedrängt, Vergeltung zu üben, sich zu »rächen an dem Eigentümer jener Uhr, der mich angezeigt hatte, nur um mich aus seiner Wohnung loszuwerden, rächen an der Polizei, an der Menschheit, überhaupt an jedermann!«
Am Samstag, dem 10. Juni 1865, berichtete das »Leipziger Tageblatt« über eine öffentliche Gerichtsverhandlung, in der Karl May angeklagt wurde, als Dr. med. Heilig und unter dem Namen des griechischen Diebesgottes Hermes in sächsischen Städten Kleidungsstücke und Pelzwerk erschwindelt zu haben.
Der phantasiebegabte Hermes-Adept war laut Zeitungsbericht »allenthalben des ihm Beigemessenen geständig« und wurde zu einer Arbeitshausstrafe von vier Jahren und einem Monat verurteilt.
Im Landesgefängnis Osterstein in Zwickau, wo er seine Strafe verbüßte, wurde der passionierte Sangesbruder Mitglied der Gefängnis-Kapelle und des Kirchenchors; er avancierte zum Schreiber und durfte als Verwalter der Gefangenenbibliothek lesen, was er dort zu lesen fand. »So verwandelte sich«, erkannte der Autobiograph dankbar, »für mich die Strafzeit in eine Studienzeit.«
Bei nächtlichen Meditationen in der Einzelzelle, erinnerte sich May, wurde dabei »der Gedanke 'Winnetou' geboren. Wohlverstanden: nur der Gedanke, nicht aber er selber, den ich später fand«.
In der Ostersteiner Klausur legte sich der Häftling ein »Repertorium Carl May« an, das erst im Nachlaß gefunden wurde, »eine Art von Buchhaltung« über seine Schriftstellerpläne, deren Ausführung er später gewissenhaft betrieb: Der konventionsgläubige Außenseiter hatte entdeckt, auf welche Weise sich ein gesellschaftsfeindliches Temperament und ein pueriler Obrigkeitsglaube ("Also Gott, König und Vaterland, das wollte und mußte ich mir merken!") vereinbaren ließen.
Als er im November 1868 das Zwickauer Gefängnis verließ - ein Jahr der Strafe war ihm erlassen worden -, hatte er sich zum »Kampf gegen des Lebens Widerstand« mit »Manuskripten bewaffnet«.
Wie nach seinem ersten Gefängnisaufenthalt will May auch diesmal auf eine »längere Auslandsreise« gegangen sein, deren Ziel er in seiner Selbstbiographie allerdings verschweigt: »Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der zweite Band berichten.«
Dieser zweite Band der Lebensbeschreibung ist niemals erschienen. Bis heute müssen sich May-Forscher mit der Feststellung begnügen, daß zumindest Übersee-Reisen Mays vor 1899 »nicht nachweisbar« seien.
Durchaus nachweisbar hingegen ist die Tätigkeit Karl Mays nach seiner Entlassung. Bald nämlich begannen »die Anfechtungen« von neuem: »Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen verging.«
Diesem inneren Befehl folgte Karl May gewissenhaft. Er betrog, hochstapelte und stahl - einen Kinderwagen, eine Schirmlampe, eine Geldbörse, eine Brille, ein Handtuch, zwei Dietriche, eine Zigarrenpfeife, Billardbälle, und er wurde außerdem beschuldigt, ein Pferd »samt einer Trense, einem Halsriemen und einer Reitpeitsche in der Absicht der Aneignung mit sich genommen« zu haben.
Auf einer Köpenickiade durch sächsische Kleinstädte präsentierte er sich, laut Steckbrief »von freundlichem, gewandtem und einschmeichelndem Benehmen«, mit Erfolg bei Krämern und Handwerkern als ein Beamter der Leipziger Geheimpolizei, der nach Falschgeld zu fahnden habe.
Einem Gerichtsprotokoll zufolge ist Karl May zum Beispiel »am 10. April 1869 bei dem Seilermeister Krause in Ponitz eingetreten, hat denselben unter vier Augen zu sprechen verlangt, ihn dann aufgefordert, die vorhandene Barschaft vorzuzeigen und von dem von Krause hervorgebrachten, aus 23 Talern Kurantbillette und ungefähr 12 Talern klingender Münze bestehendem Gelde, die sämtlichen Kurantbillette und mindestens sieben Taler klingender Münze unter der Erklärung, daß dieses Geld falsch sei, an sich genommen, auch Krause aufgefordert, ihm sofort nach Krimmitschau an Gerichtsstelle zu folgen.
»Auf dem Wege dahin und vor Frankenhausen ist indes der Angeklagte unter dem Vorgeben, ein natürliches Bedürfnis befriedigen zu müssen, abseits getreten und hat plötzlich querfeldein die Flucht ergriffen, ist von Krause und von einem von diesem zuhilfegerufenen Dritten verfolgt worden und hat, nachdem er das von Krause abgeschwindelte Geld von sich geworfen, der Ergreifung dadurch mit Erfolg sich widersetzt, daß er ein bei sich geführtes Doppelterzerol aus der Tasche gezogen und damit auf seine Verfolger, wenn sie ihn nicht gehen lassen würden, zu schießen gedroht hat.«
Nach einer ersten Festnahme konnte May, mittlerweile versierter Krimineller, der Polizei wieder entwischen: Auf einem Gefangenentransport zerbrach er die Handfesseln, floh und tauchte unter. Erst Monate später wurde er als Landstreicher in Nordböhmen verhaftet. Er nannte sich Albin Wadenbach und gab den Vernehmungsbeamten eine farbenfreudige Beschreibung seiner angeblichen Hanf-, Vanille- und Tabakpflanzungen auf der Insel Martinique.
Am 13. April 1870 erkannte das Königliche Bezirksgericht zu Mittweida ungerührt für Recht, »daß Karl Friedrich May wegen einfachen Diebstahls, Betruges, und Betruges unter erschwerenden Umständen, Widersetzung gegen erlaubte Selbsthilfe, und Fälschung, bez. mit Rücksicht auf seine Rückfälligkeit . . . mit Zuchthausstrafe in der Dauer von 4 Jahren zu belegen, auch die aufgelaufenen Untersuchungskosten abzustatten schuldig ist«.
In Zuchthaus-Einsamkeit ("Ich bat, abgesondert zu werden") durfte Karl May während der folgenden 1460 Tage seine Schreibtätigkeit wiederaufnehmen. Mit durchschlagendem Erfolg: Als er 1874 die Gefangenenanstalt Waldheim verließ, erwarteten ihn in Hohenstein-Ernstthal nicht nur Autoren-Honorare, ungeduldig wartete auf ihn auch der Dresdner Kolportagebuchhändler Heinrich Gotthold Münchmeyer.
Der ehemalige Zimmermann und Dorfmusikant Münchmeyer, der gelegentlich selber der Landbevölkerung seine Hefte feilbot, hatte Gefallen an den literarischen Fingerübungen des Sträflings gefunden und offerierte ihm einen Redakteursposten bei seiner Dresdner Zeitschrift »Beobachter an der Elbe«.
Der Jungautor nahm nach kurzem Zögern ("Dieser Mann will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht") die Stelle- an und übersiedelte, inzwischen 33jährig, nach Dresden. Er ließ den wenig lukrativen »Beobachter an der Elbe« eingehen, gründete für Münchmeyer drei neue Zeitschriften und betätigte sich überaus emsig unter mehreren Pseudonymen als Haus-Autor.
Monate später veröffentlichte er im neuen »Deutschen Familienblatt« die Erzählung »Aus der Mappe eines Vielgereisten. Nr. 1: Innuwoh, der Indianerhäuptling«, deren Held später in den »roten Gentleman« Winnetou umgetauft wurde.
Im selben Jahr erschien in dem Münchmeyer-Unterhaltungsblatt »Feierstunden am häuslichen Herde« auch eine erste Fassung der Reiseerzählung »Durch Wüste und Harem« (heute: »Durch die Wüste"): die orientalische Geschichte »Leilet«. Ihr Ich-Erzähler war ein deutscher Arzt, der im Auftrag seines Königs Ägypten bereist, sich in die Sklavin Leilet verliebt und sie befreit.
Doch mit seinen amerikanischen Abenteuergeschichten im »Familienblatt« und seinen orientalischen »Feierstunden« mochte sich der schreibwütige Redakteur noch nicht zufriedengeben.
Im Fach- und Unterhaltungsblatt »Schacht und Hütte«, das von Industrieunternehmen wie Krupp und Borsig unterstützt wurde und offenbar den sozialdemokratischen Tendenzen der siebziger Jahre entgegenwirken sollte, veröffentlichte Karl May als »Geographische Predigten« populärwissenschaftlich-erbauliche Traktate über »Himmel und Erde«, »Land und Wasser«, »Berg und Tal« und »Mensch und Tier«; er schrieb einen Kriminalroman, durchforschte Brandenburgs Raubritter-Vergangenheit ("Der beiden Quitzows letzte Fahrten") und aktivierte zudem seine Phantasie auch noch für andere Zeitschriften.
Der geschäftstüchtige Verleger Münchmeyer erkannte bald, daß ihm »ein wahrer Phönix an Verkitschtheit in die Redaktion geweht worden« war (May-Forscher Arno Schmidt); er ließ denn auch nichts unversucht, den talentierten Autor noch fester an sich zu binden. Münchmeyer bot seinem Redakteur May Schwägerin Minna, ein dickes und nicht ganz reinliches Mädchen, zur Ehefrau an.
May jedoch hatte andere Pläne. Möglicherweise hatte er schon zu dieser Zeit die 20jährige Emma Lina Pollmer kennengelernt, die bei ihrem Großvater, einem Hohensteiner Barbier, wohnte, und die attraktiv-einfältige Emma hatte ihn, so wenigstens mutmaßte er später, »nicht nur durch ihre Schönheit, sondern auch durch ihre hypnotische Kraft gefangen genommen. May trennte sich von Münchmeyer, wurde Redakteur der Zeitschrift »Frohe Stunden« und holte die Barbiersenkelin zu sich nach Dresden.
Die Geschäftsverbindung zwischen Münchmeyer und May blieb indes nur vorübergehend unterbrochen. Anfang der achtziger Jahre - er hatte inzwischen seine Emma geheiratet, war aber trotz intensiver Schreibarbeit ständig in Geldverlegenheit - wurde Karl May wieder für den Kolporteur aus Dresden-Niedersedlitz tätig.
Nach mündlicher, später von Münchmeyer schriftlich bestätigter Vereinbarung, daß bei einer Auflagenhöhe von 20 000 Exemplaren sämtliche Rechte an May zurückfallen sollten, schrieb er innerhalb von viereinhalb Jahren für 35, danach für 50 Mark pro Heft fünf kolossale Kolportagewerke, sogenannte Hundert-Heft-Romane, die Münchmeyer für zehn Pfennig je Lieferung im Wander- und Hausierbuchhandel vertrieb:
▷ »Das Waldröschen«
(1882);
▷ »Die Liebe des Ulanen« (1883);
▷ »Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends« (1884);
▷ »Deutsche Herzen, deutsche Helden« (1885);
▷ »Der Weg zum Glück« (1886).
Trumpf dieser Serie war das 2612-Seiten-Werk »Das Waldröschen oder: Die Verfolgung rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft von Capitain Ramon Diaz de la Escosura« - ein Opus Magnum phantastischer Unwirklichkeiten, das sich wie eine Synthese von E.-Marlitt-, Alexandre-Dumas- und Jules-Verne-Romanen ausnimmt, dabei aber jedes dieser möglichen Vorbilder an Unwahrscheinlichkeit bei weitem übertrifft.
Mit monte-christoider Unfehlbarkeit, freizügig wie ein Held bei Verne, lauter liebend wie eine Marlitt-Jungfrau, bewegt sich im »Waldröschen« der bärenstarke Doktor Karl Sternau vom Rhein über das Pyrenäen-Schloß Rodriganda zur mexikanischen Wüste Mapimi - eine gelungene Kreuzung zwischen Professor Sauerbruch und Old Shatterhand. Als Allround-Mediziner heilt Sternau Gallenleiden, grauen Star und Irrsinn, als berühmter Westmann kämpft er siegreich gegen Komantschenhorden und hispano-mexikanische Intriganten, als edler Rächer entlarvt er Giftmischer, Mörder, Kindesentführer, Briganten, Seeräuber und falsche Grafen.
Schon als Münchmeyer-Autor hatte der spätere »Shakespeare der Jungen« (Ernst Bloch) präzise Vorstellungen, wie seine Art Literatur aussehen sollte:
»Schreiben wir nicht«, so forderte er von sich, »wie die Langweiligen, die man nicht liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu bekommen! Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel wie unsere Zwecke und Ziele.«
Wirklich waren die Sujets des »Waldröschen«-Autors zwar nicht so sehr edel, aber auch nicht »unsagbar schmutzig«, wie Mays Gegner später behaupteten. Schlimmstenfalls öffnen sich gelegentlich »wahrhaft sinnberückende Negligés« über »wogenden Busen«, Intrigantinnen mit »üppigen Formen« und »billigen Reizen« treten auf, eine Tänzerin zeigt sich »ungenirt in Tricots und Schenkelröckchen«, und unter der Wirkung eines Liebestranks verliert - selbstverständlich unter Ausschluß der Leserschaft - eine ehrbare auslandsdeutsche Gouvernante an den ruchlosen Herzog von Olsunna ihre Unschuld.
Karl May hat während seines um die Jahrhundertwende beginnenden Rechtsstreits mit Münchmeyers Erben die Autorschaft an solchen trivialen Passagen geleugnet und sich in einem Vergleich bestätigen lassen, daß fünf Prozent der Kolportage von fremder Hand hinzugefügt worden seien. Immerhin blieb May auch nach diesem Kompromiß noch mit 14 250 Oktavseiten Kitsch belastet.
Die Last mochte der Autor mit dem illustren Pseudonym Capitain Ramon Diaz de la Escosura bereits um 1886 empfunden haben. Jedenfalls trennte er sich nun endgültig von Münchmeyer und schrieb fortan unter bürgerlichem Namen für respektablere Auftraggeber - so für die »Deutsche Gartenlaube«, für den »Guten Kameraden« und für den »Heimgarten«, den der österreichische Schriftsteller Peter Rosegger ("Als ich noch der Waldbauernbub war") in Graz redigierte.
Wichtigste Honorarquelle für den protestantischen Autor war der »Deutsche Hausschatz in Wort und Bild«, der seit 1874 vom Verlag Pustet in Regensburg, New York und Cincinnati publiziert wurde und den katholischen Mittelstand mit Unterhaltungsstoff versorgen sollte. Nach seiner Trennung von Münchmeyer veröffentlichte May hier den größten Teil jener »Reiseerzählungen«, die ihn innerhalb weniger Jahre als den Begründer einer neuen Art von Schriftstellerei berühmt machten.
Keineswegs neu für die zivilisationsmüden Mitteleuropäer waren freilich Schauplatz und Thema, die May für seine Shatterhand-Geschichten gewählt hatte.
Schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war James Fenimore Coopers »Lederstrumpf« ins Deutsche übersetzt worden; in den »Regulatoren in Arkansas« und den »Flußpiraten des Mississippi« hatte Friedrich Gerstäcker (1816 bis 1872) Amerika als das Land der Freiheit und des urwüchsigen Lebens gepriesen, und kurz nach der Jahrhundertmitte war der ferne Westen Nordamerikas auch vom Kolportage-Buchhandel als zugkräftiges Milieu entdeckt worden.
Ebenso aktuell wie die Schilderung primitiver Heldenleben im Wilden Westen mußten den Zeitgenossen der achtziger und neunziger Jahre aber auch Mays neuartige ethnologische Märchen aus dem Orient erscheinen. Zur selben Zeit, als die große Zahl deutscher Amerika-Emigranten die Neugier auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten steigerte - zwischen 1820 und 1914 wanderten fünf Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten aus -, begann in Afrika und Asien die Hochsaison des Kolonialismus.
1830 hatte Frankreich die Eroberung Algeriens eingeleitet, 1842 wurde von den Engländern das chinesische Hongkong annektiert, 1882 marschierten die Engländer in Ägypten ein. Im selben Jahr wurde der Deutsche Kolonialverein gegründet, in den folgenden Jahrzehnten wurden die kaiserlichen Schutzgebiete in Afrika und im Pazifik errichtet.
Die Zeitungen berichteten über den englischen Feldzug in Afghanistan, über den serbisch-bulgarischen Krieg und über die »türkische Frage«. Zwischen 1869 und 1874 bereiste Gustav Nachtigall Gebiete der Sahara. In Ostafrika forschten die Engländer David Livingstone und Sir Henry Morton Stanley. Der Deutsche Eduard Schnitzer trat in ägyptische Dienste und bemühte sich als Gouverneur Emin Pascha um die geographische Erschließung des Sudans.
Die so erweckte Neugier auf völkerkundliche Unterhaltung und Belehrung wurde von May wie von keinem anderen Schriftsteller befriedigt. Etwa um die Zeit, als der Franzose Henri Rousseau nach der Vorlage von Postkarten und zoologischen Alben seine primitiven Urwald- und Wüstenbilder zu malen begann - exotische Träume, deren Schauplätze er in Wirklichkeit nie zuvor gesehen hatte -, schrieb Karl May, gleichermaßen seiner Phantasie überlassen, nach der Vorlage von Atlanten, Lexika und Wörterbüchern, nach geographischen und ethnologischen Berichten für den »Deutschen Hausschatz« seine naiven Epopöen vom Untergang der roten Rasse, modernisierte er, freilich abzüglich jeder Erotik, die tausendundeine Nacht der Märchenprinzessin Scheherazade.
Denn für die christliche Leserschaft wurden die Frauengestalten früherer Erzählungen nunmehr beseitigt oder zumindest enterotisiert: Die verlockende Sklavin warmer Nilnächte Leilet verwandelte sich in ein nahezu geschlechtsloses Mutproben-Objekt mit Namen Senitza, aus Old Firehands Tochter Ellen, die der Held des »Deutschen Familienblatts« zum glücklichen Schluß heiratet, wurde der Old-Firehand-Sohn Harry, dem nur noch väterliche Freundschaft gewährt werden durfte. Karl May war im Begriff sich und seinen Lesern eine reine Männerwelt zu erschaffen - eine Welt, in der Arno Schmidt, wie vor ihm der May-Forscher Paul Elbogen, durchaus auch den Charakter »ideeller Homosexualität« entdecken möchte.
Schmidt: »Jeder Betrachter des Phänomens May wird sich, früher oder später einmal, mit den Veröffentlichungen P. Elbogens auseinander zu setzen haben, der ihm eine ideelle Homosexualität indiziert hat (allerdings mit noch unzureichender Kenntnis des Materials): das mit Berührungsreizen überfütterte blinde Kleinkind; sein Internats-Spitzname ,Sappho'; dann die acht Jahre Männer-Einzelhaft. Im Werk die Liebes-'Überschreibung' von Nscho-Tschi auf den genauso aussehenden 'Winnetou' mit den 'halbvollen', küßlichen Lippen . . . die Old Shatterhand folglich verdächtig oft und gern küßt ... auffällig häufig erscheinen langnasige Dioskuren-Paare; und auch bei den ewigen hautnahen Raufereien könnte es sich vielleicht nicht nur um eine sadistische Komponente handeln . . . sondern auch um die kindliche Verknüpfung mit sexueller Erregung.«
Ein Mann unter Männern, im »Zölibat seines Muts« (Ernst Bloch), von priesterlicher Güte und Indifferenz gegenüber der weiblichen Staffage, reist Mays Ich-Erzähler, ein germanischer Odysseus des 19. Jahrhunderts, fortan durch Südamerika, China, Ceylon und Lappland, vor allem aber durch die »finsteren und blutigen Gründe« des amerikanischen Westens und durch die Wüsten-, Fluß- und Berglandschaften der Levante.
Doppelt protegiert von dem Schutzbrief des Padischah - des türkischen Großherrn - und der Nilpferdpeitsche seines aufschneiderisch-treuherzigen Diener-Freundes Hadschi Halef Omar, abenteuert sich Mays Held als Kara Ben Nemsi ("Karl, Sohn der Deutschen") auf dem Rücken seines Hengstes Rih titelgerecht durch die Wüste und durchs wilde Kurdistan von Bagdad nach Stambul und durch die Schluchten des Balkan bis hinein ins Land des Skipetaren, wo endlich der verbrecherische Schut den längst verdienten Tod findet.
In Nordamerika wiederum zieht Mays Ich-Erzähler zwischen Mississippi und den Rocky Mountains, allerorts als Old Shatterhand ("Die alte Schmetterhand") gerühmt, mit seinem Blutsbruder Winnetou, dem »roten Gentleman« und Häuptling der Mescalero-Apatschen - Schmidt: »jenem rothäutigen, seriös-brutalen Schläger« -, gegen kriegspfadwandernde Komantschen-, Kiowa- und Ogellallah-Horden, hetzt er Santer, den Mörder der Winnetou-Schwester Nscho-Tschi (zu deutsch: »Schöner Tag"), jagt er mit 25schüssigem Henrystutzen und zweiläufigem Bärentöter Bisons, Elche, Löwen und Grizzlybären. Zusammen mit Winnetou kommt, sieht und siegt er, wo immer dem Guten Gefahr droht.
Mit der melancholischen Gestalt des Edel-Apatschen Winnetou ("Wäre er der Sohn eines europäischen Herrschers, so würde er ein großer Feldherr und ein noch größerer Friedensfürst werden") hat Karl May, seinem Bekenntnis zufolge, den indianischen Volkscharakter verherrlichen wollen. Mehr allerdings idealisierte er in Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi den Charakter eines anderen Volkes: des deutschen.
»In Old Shatterhand«, so deutet der Wiener Dissertant Böhm, »siegt das Deutschtum über Yankeegeist und indianisches Vorurteil den Weißen gegenüber.«
Wie Kara Ben Nemsi im Orient ist Old Shatterhand in Nordamerika der vorbildliche germanische Held, ein Goodwill-Botschafter des Wilhelminischen Kaiserreichs, bereit, Indianer, Mohammedaner, Chinesen und Sudanesen am deutschen Wesen genesen zu lassen.
Sogar den in mehreren Erzählungen auftauchenden britischen Millionär Sir David Lindsay ("Bezahle gut, sehr gut"), der, zeitgenössischen deutschen Karikaturen gemäß, seine knorrig-kuriose Gestalt kariert bekleidet, den Mohammedanern gegenüber rücksichtslos ist, einen Spleen hat und glaubt, »in jeder Beziehung durchaus nur englisch sein zu müssen«, weist der keineswegs begüterte Karl der Deutsche in die Schranken.
May ist so eindeutig Propagandist des wilhelminischen Geistes, daß der »Liebeskonzil«-Verfasser Oskar Panizza (SPIEGEL 10/1962) scheinheilig vermutete, nicht Karl May, sondern Kaiser Wilhelm II. sei Urheber der vaterländischen Abenteuergeschichten gewesen.
Durch siebzig Bände »Gesammelter Werke« hindurch schmeichelt Karl May ("Ich bin loyaler Untertan und ganz spezieller Sachse") deutscher Mentalität, schmeichelt er aber zugleich auch seinem eigenen Geltungsbedürfnis und seiner Schriftsteller-Eitelkeit.
Das »mickrig-pfiffige Männchen« (Arno Schmidt), »in dessen Innerem so sehr alles Weibliche überwiegt« (Heinz Stolte), wandelt sich in seinen Schriftsteller-Träumen zum Achill ohne Achilles-Ferse, zu einem unverwundbaren Siegfried, dem kein heimtückischer Hagen-Speer gewachsen ist.
Seine Märchen, in Gefängnis und Zuchthaus konzipiert, werden mit ihren Prärien und endlosen Wüstenflächen zum Freigehege des Volks ohne Raum - zumindest bei der Lektüre. »Fast alles«, psychologisierte Ernst Bloch, »ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will.«
Ob auf Reisen durch Arabien, ob im Llano estacado - der Sohn der Nemsi, der Deutschen, ist scharfsinniger, gebildeter, gewandter und mächtiger als seine Freunde und Feinde; er weiß den Koran auswendig, beschützt die Hilfsbedürftigen und geht aus jedem Zweikampf als Sieger hervor. Sein jäh betäubender Jagdhieb ist berühmt wie seine vom Büchsenmacher Henry gefertigte Wunderwaffe.
Wie ein Eingeborener wirft er den Tomahawk; er ist im Burnus nicht vom Beduinen zu unterscheiden, und nur eine heimatliche Gewohnheit, kleine Schwäche eines großen Mannes, bewahrt er gern: Er zieht die bürgerliche Zigarre der kinnikinnik-gefüllten Friedenspfeife vor.
Bürgerliche Moral mag Karl der Deutsche ohnehin auch auf fremden Pfaden nicht leugnen. Nicht eine seiner Taten ist fragwürdig, niemals erregt er Mißbilligung. Er ist ein Biedermann und wehrhafter Christ, der die Bibel wörtlich nimmt, niemals lügt und geduldig auf Gottesurteile wartet, um nicht des Rächer- und Richteramts walten zu müssen.
Dem May-Apologeten Ernst Bloch freilich erschien diese Art übersteigerter Sanftmut doch nicht ganz glaubwürdig. Er sah in Mays Christentum »ein Stilmittel, das den Verbrecher immer wieder laufen läßt, sobald man ihn hat, sobald also eine Handlung zu Ende sein müßte«.
Und Karl May treibt den Traumstoff über Hunderte von Seiten hinweg. In stereotyp wiederkehrenden Situationen offeriert er ohne Rücksicht auf Psychologie eine Erlebnisfülle, die nahezu ohne jegliche Beimischung von tragischen Elementen bereitet ist.
Wohl aber wird der dramatische Ablauf mit Effekten der Komischen Oper bereichert. In großer Zahl treten lustige Personen auf. Am indianischen Lagerfeuer sorgt Sam Hawkens mit seinen Gefährten, sorgen paarweise Tante Droll und Hobble-Frank, Dick Hammerdull und Pitt Holbers, der Lange Davy und der Dicke Jemmy für Aufheiterung der omnipotenten Heroen.
Vor allem aber fungiert Kara Ben Nemsis Sancho Pansa, der kleine Scheik mit dem langen Namen Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, als sympathischer Possenreißer und Prahlhans. Der kleine Halef mit der Nilpferdpeitsche, anfangs gemieteter Diener, dann treuer Freund und Kampfgefährte des Nemsi-Sohns, ist listig und unbesonnen, redlich, doch zuweilen auch Hochstapeleien und Brachialpraktiken zugeneigt; er ist stolz, ruhmsüchtig und eitel, bedient sich des »Hadschi«, des Ehrentitels der Mekka-Pilger, ohne je die heilige Kaaba gesehen zu haben, und protzt mit seinen dreißig Kindern, obgleich er nur einen einzigen Sohn hat.
Mit Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar begann der mittlerweile 50jährige Autor im Jahr 1892 berühmt zu werden, als der Freiburger Friedrich Ernst Fehsenfeld die ersten sechs »Gesammelten Reiseerzählungen« verlegte. Ein Jahr später folgte ihnen die dreibändige Reiseerzählung »Winnetou«. Karl May wurde endgültig zum »Volksschriftsteller«.
In Radebeul, dem Zentrum sächsischer Obst- und Spargelkultur, kaufte er sich ein Sieben-Zimmer-Haus im Jugendstil. Er nannte es »Villa Shatterhand«, und Ehefrau Emma erinnerte sich später: »Es verging kein Abend, wo wir uns (nicht) beim Gute-Nacht-Sagen, in voller Glückseligkeit die Worte zuriefen: 'Hühnelchen, die Villa ist unser. Kein Mensch kann sie uns rauben.' Wir freuten uns wie ein paar Kinder über ihre Puppenstube.«
Zigarrenrauchend am Schreibtisch der »Villa Shatterhand« spann Karl May, laut eigenem Bekenntnis »oft zwei, drei Nächte hintereinander, ohne dann am Tage schlafen zu können«, weiter an seinen wilden Märchenträumen.
Er umgab sich mit Bücherwänden und ausgestopftem Raubgetier, mit persischem, türkischem und indianischem Gerät, mit Winnetous Silberbüchse und Old Shatterhands Henrystutzen, der allerdings, dem »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch zufolge, »gar kein Stutzen war, sondern ein gewöhnliches Winchestergewehr, wie es ganze Armeen haben, auch europäische, und die Silberbüchse erwies sich als Torso eines europäischen Schießprügels, dem die Läufe fehlten«. Zwischen Wasserpfeifen, maurischen Lampen, Sitzkissen und exotischem Gestühl schrieb May seine Abenteurer-Phantasien und beantwortete seine Leserpost, die immer umfangreicher wurde.
Katholische Bischöfe honorierten den unerkannt protestantischen Jugenderzieher und Volksbildner des »Hausschatzes« mit Dankesbriefen und Empfehlungsschreiben. »Ich bin ein böser Mensch gewesen«, versicherte ein Leser, »habe Vater und Mutter in das Grab geärgert, den Glauben an Gott verlacht, bin aber durch Ihre Gespräche mit Marah Durimeh und (dem Old-Shatterhand-Feind) Old Wabble gerettet worden«, und May erfuhr: »Wir sind arm, aber einen Dank sollen Sie haben; der ist: seit wir Ihre Werke gelesen haben, sind wir keine Sozialdemokraten mehr.«
»Ich meine, Sie hätten einen größeren Einfluß auf das deutsche Volk als Shakespeare auf das englische«, lobte ein Pfarrer, und ein anderer Seelsorger urteilte: »Sie sind der größte Schriftsteller Deutschlands, ein Säkularmensch.«
Der Säkularmensch aus dem Erzgebirge, in seiner neuen Heimstatt mit Besuchen »von hoher Distinktion« ausgezeichnet, auf Vortragsreisen enthusiastisch gefeiert, von Prälaten, Adelsdamen und kaiserlich-habsburgischen Familienmitgliedern hochgelobt, tat schließlich ein übriges: Aufschneiderisch wie sein Hadschi Halef Omar identifizierte er sich mit den heroischen Gestalten seiner Phantasie.
Seine Visitenkarten trugen die Aufschrift »Karl May, genannt Old Shatterhand«. Über der Signatur »Dr. Karl May« - den akademischen Titel hatte er sich schon während der achtziger Jahre verliehen - wurde er vom »Deutschen Hausschatz« in martialischer Trapper- und Beduinenkleidung abgebildet. »Das Kostüm«, notierte die Redaktion, »ist dasselbe, wie Karl May es auf seinen Reisen getragen hat.«
Karl May versuchte zu verwirklichen, was er sich im Gefängnis bereits vorgenommen hatte: »Ich muß selber zum Märchen werden, ich selber, mein eigenes Ich.« Er beförderte sich zur Romanfigur und verfaßte unbekümmert Briefe wie: »Sehr geehrtes Fräulein, Winnetou war geboren 1840 und wurde erschossen am 2.9.1874. Er war noch herrlicher als ich ihn beschreiben kann. Herzlichen Gruß, Dr. Karl May.«
Einer slawonischen Gräfin, die bedauerte, daß Winnetou - beim Versuch, deutsche Siedler zu befreien, von feindlichen Ogellallahs erschossen - ungetauft in die ewigen Jagdgründe einkehren mußte (letzte Worte des Apatschenhäuptlings: »Schar-Lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!"), versicherte May, er habe seinem roten Blutsbruder die Nottaufe gegeben, davon jedoch, »um nicht Angriffe von andersgläubiger Seite zu erfahren«, in seinem Buch nichts erwähnt.
In einem anderen Brief brüstete sich der Schriftsteller, der offenkundig nicht einmal ein englisches Wörterbuch zu benutzen wußte: »Ich spreche und schreibe: Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch, Lateinisch, Hebräisch, Rumänisch, Arabisch sechs Dialekte, Chinesisch sechs Dialekte, Malaiisch, Nanaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, Türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apatschen, Komantschen, Suakes, Uthas, Kiowas, nebst dem Ketschumany drei südamerikanische Dialekte. Lappländisch will ich nicht mitzählen.«
Auf einer Gesellschaft plauderte er sächselnd aus: »Ich habe nur noch zwei große Lebenszwecke zu erfüllen: eine Mission bei den Apatschen, deren Häuptling ich bin, und eine Reise zu meinem Halef, dem obersten Scheik der Haddedihn-Araber. Dann aber werde ich vor den deutschen Kaiser treten: Majestät, wir wollen einmal miteinander schießen! Ich werde ihm meinen Stutzen vorführen. Derselbe wird in der gesamten deutschen Armee eingeführt werden, und kein Volk der Erde wird dann je den Deutschen widerstehen können.«
Kommentierte Bruno ("Der Trommler") Brehm in »Welt und Wort": »Den Glauben an diese Wunderwaffen haben die Deutschen von Kindheit an bei Karl May gelernt, und sie haben ihn nie vergessen können.«
Nur am Schreibtisch aber konnte sich der sächsische Märchenerzähler, dem der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt sogar enge Geistesverwandtschaft mit Friedrich Nietzsche andichtete ("Was Nietzsche erforscht hat, das hat May erträumt"), frei in seiner männlichfreien Phantasiewelt bewegen. Er versuchte in »ruhelosem Fleiß« zu vergessen, »daß ich mich in meinem Eheglück geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte als zuvor«.
So gern nämlich Frau Emma später der Ehe mit dem Winnetou-Autor gedachte - Mays Erinnerung registrierte die gleiche Ehezeit lediglich als eine Serie von Höllenjahren. Er fühlte sich von einer schlau berechnenden Kurtisane gefangen, die sich seiner »ernsten Lebensauffassung ... absolut nicht anpassen« mochte. May: »Ihr Lebenszweck war Verbreitung gemeinen Klatsches, Homosexualität und Perversität.«
In einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Nachlaß - May wollte es für eine Selbstbiographie verwenden oder nach seinem Tod einem künftigen Biographen als Material überlassen - hat der Reiseschriftsteller eine psychologische Studie über seine erste Ehefrau zu geben versucht und dabei ein umfangreiches Register ihrer Verfehlungen aufgestellt.
In Gesellschaft des Hausherrn, assistiert von Freundin Klara Plöhn, der Ehefrau eines Radebeuler Verbandstoff-Fabrikanten, gab sich Emma May dem Spiritismus, der Mode des Jahrhundertendes, hin, erfand sich aber auch weniger harmlose Vergnügungen: Sie widmete ihre Aufmerksamkeit einem 19jährigen Regierungsbauführer, der sie mit dem Namen von Winnetous Schwester, Nscho-Tschi, anredete, und bekundete zugleich Neigungen lesbischer Art.
Der Ehemann, längst zu puritanischer Denkungsart neigend, von Schreibarbeit entnervt und unfähig jener »heilsamen Beigabe von Gewaltsamkeit, die seinen Romanhelden so gut steht« (Dissertant Stolte), sah die Barbiersenkelin schließlich nur noch als Vampir, der ihn zu schädigen versucht und ihm sogar mit Schwefelsäure und Gift nach dem Leben getrachtet habe.
1903 ließ er sich von Emma scheiden und heiratete kurz darauf deren spiritistische Partnerin, die 39jährige Kastellanstochter und Fabrikantenwitwe Klara Plöhn, die nunmehr zum »Herzle« avancierte.
Der Scheidung vorausgegangen war, laut Autobiographie, ein letzter Akt der treulosen Erst-Gattin, der Karl May für den Rest seines Lebens mit Prozeßstoff versorgte.
1892 starb der Kolporteur Münchmeyer. 1899 - Karl May war auf einer anderthalb Jahre währenden Orientreise von Ägypten bis Sumatra, seiner ersten nachweisbaren Reise außerhalb Europas - verkaufte Münchmeyers Witwe den Verlag, und der neue Inhaber Adalbert Fischer brachte Karl Mays fünf Kolportage-Romane der achtziger Jahre, noch dazu unter dem bürgerlichen Namen des mittlerweile berühmten Autors, wieder auf den Markt.
Als May 1900 nach Deutschland zurückkehrte und in der »Villa Shatterhand« nach Dokumenten suchte, die ihm das Copyright an den fünf Kitsch-Epen nach einer - offenbar längst erreichten - Auflagenhöhe von 20 000 Exemplaren zusicherten, waren diese Münchmeyer-Briefe nicht aufzufinden. May glaubte, Emma Lina hätte die Briefe vernichtet.
Dennoch klagte er sowohl gegen Fischer als auch gegen die Münchmeyer-Witwe - gegen Witwe Pauline Münchmeyer, weil sie die anonymen Werke widerrechtlich verkauft hätte, gegen Fischer, weil er angeblich den Namen Karl May für Romane mißbrauchte, die verfälscht worden waren.
Erst im Jahre 1907 endete der Prozeß gegen Fischer mit einem Vergleich. Dem Volksschriftsteller wurde zugestanden, »daß die im Verlag der Firma H. G. Münchmeyer erschienenen Romane des Schriftstellers Karl May im Laufe der Zeit durch Einschiebungen und Abänderungen von dritter Hand eine derartige Veränderung erlitten haben, daß sie in ihrer jetzigen Form nicht mehr als von Karl May verfaßt gelten können«. Der einstige Capitain Ramon Diaz de la Escosura wurde mit 20 000 Mark entschädigt, das »Waldröschen« dem deutschen Publikum fortan anonym dargeboten. Gegen Pauline Münchmeyer, von der er ein Honorar von 300 000 Mark verlangte, prozessierte May, dabei laut Arno Schmidt durchaus auch »sagenhaft niedriger Handlungsweisen fähig«, weiter. Erst nach Mays Tod und 12jährigem Rechtskrieg kam es zu einem gütlichen Vergleich zwischen Münchmeyers Witwe und dem inzwischen gegründeten Karl-May-Verlag: Pauline Münchmeyer fand den May-Verlag mit 25 000 Mark Entschädigung ab.
Gleichzeitig mit dem Münchmeyer-Streit und zahlreichen Nebenprozessen hatte aber auch eine Pressekampagne gegen den Jugend- und Volkserzieher begonnen. In Zeitungsaufsätzen wurde May bezichtigt, außer Reiseerzählungen auch »Schundromane« - »abgrundtief unsittliche« Bücher - verfaßt und die Länder überhaupt nicht gesehen zu haben, die er beschrieb, zudem unbefugt den Doktor-Titel zu führen. May hatte sich bei einer Universitas Germana-Americana in Chicago, die nach Angabe des kaiserlichen Generalkonsuls »von den zuständigen Staatsbehörden als reputable nie anerkannt worden« ist, im Jahre 1902 den akademischen Grad erkauft.
Der Dresdner »Kunstwart«-Herausgeber Ferdinand Avenarius schrieb gegen seinen Radebeuler Nachbarn an. In den »Historisch-Politischen Blättern für das katholische Deutschland« beschuldigte Hermann Cardauns, ein Chefredakteur der »Kölnischen Volkszeitung«, den »Hausschatz«-Autor, er habe als Protestant katholisierende Bücher geschrieben und »es fertiggebracht, gleichzeitig in Missionsarbeit und im Gegenteil zu machen«. May ("Das 'Karl-May-Problem' ist das Menschheitsproblem") setzte sich, eher unbeholfen als shatterhandhaft, zur Wehr, um seinen gefährdeten Leumund zu retten.
1902 erschien bei Fehsenfeld die Streitschrift »'Karl May als Erzieher' und 'Die Wahrheit über Karl May' oder Die Gegner Karl Mays in ihrem eigenen Lichte«, mit der »ein dankbarer May-Leser« gegen die Zeitungsattacken anzukämpfen versuchte - der Dankbare war Karl May selbst.
Er wehrte sich nun »gegen die Lüge, daß ich Millionär sei« - tatsächlich hat May während seiner 36jährigen Schriftsteller-Karriere etwa 800 000 Mark eingenommen -, und er wehrte sich plötzlich auch gegen den Vorwurf, daß er sich mit seinen Helden identifiziere. »Kein Mensch«, widersprach er 1908 in der Niederschrift »Meine Beichte«, »hat so wenig Grund und Lust aufzuschneiden, wie gerade ich! Das 'Ich', in dem ich schreibe, das bin doch nicht ich selbst, sondern das ist die Menschheitsfrage, die ich personifiziere, um sie beantworten zu können.«
Vor allem aber wehrte er sich gegen seinen härtesten Gegner, den Journalisten und Schriftsteller Rudolf Lebius. Der Herausgeber der »Sachsenstimme«, Lebius, seit 1904 Mitglied der Nationalsozialen Partei, Verfasser zweier Lustspiele und eines Romans, »Gärung«, hatte den Doktor-Schwindel und die Freiheitsstrafen Mays publik gemacht. Sechs Jahre später veröffentlichte Lebius unter dem Titel »Die Zeugen Karl May und Klara May« einen »Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit«, in dem er Briefe und Gerichtsprotokolle über die Vorstrafen, die Ehescheidung und die jüngsten Prozesse Mays abdrucken ließ.
Das »Karl-May-Problem« war mit neuen Materialien versorgt. Der Jugenderzieher wurde - so der Titel einer von Lebius verbreiteten Broschüre - zum »Verderber der deutschen Jugend«.
Zwar kam der österreichische Lustspielautor, Romancier und Kritiker Hermann Bahr ("Das Konzert") seinem sächsischen Kollegen zu Hilfe: »Wer so viel Haß, Neid, Verleumdung, Wut, Liebe, Bewunderung und Streit erntet wie Karl May, verdiente es schon um dieser Kraft willen, gehört zu werden.«
Aber trotz dieses Beistandes jammerte May: »Wie kann das Gesetz solche Dinge zulassen«, und in einem Gedicht klagte er: »Ich bin so müd, so herbstlich schwer, ich möcht am liebsten scheiden gehn.«
Karl May ging nicht scheiden, im Gegenteil: Offenkundig nur zu sehr beeindruckt vom Urteil seiner Kritiker, verwandelte er sich im letzten Jahrzehnt seines Lebens vom Old-Shatterhand-Urheber zum »bisher letzten deutschsprachigen Großmystiker« (Arno Schmidt). Plötzlich galten ihm seine bisher veröffentlichten Reiseerzählungen nur noch als »Vorstudien«, und er versprach sich und seinen Lesern:
»Erst jetzt beginne ich! Erst jetzt will ich - dichten!«
Der alternde Schriftsteller schrieb ein symbolträchtiges Drama, »Babel und Bibel«, mit dem er aber keineswegs, wie er gehofft hatte, das deutsche Theater erneuerte; und über Mays Gedichtband »Himmelsgedanken« urteilte Feind Cardauns völlig zu Recht: »Als lyrischen Dichter müssen wir uns Herrn May verbitten.«
Mit zwei Spätwerken jedoch kam er, wenn nicht der ersehnten Lösung der »Menschheitsfrage«, so doch zumindest nach Ansicht seines Interpreten Arno Schmidt, der mit seinem Forschungsobjekt den Hang teilt, sich den Mitmenschen überlegen zu fühlen, literarischer Form näher. In den Jahren 1902 und 1903 veröffentlichte der Sechzigjährige den dritten und vierten Band des Romans »Im Reiche des silbernen Löwen« und versprach dem Verleger Fehsenfeld: »Sie werden finden, daß Sie etwas ganz anderes drucken ließen, als Sie glaubten. Unsere Bücher sind für Jahrhunderte bestimmt. Man wird das endlich zuzugeben haben.«
Zwar führte May auch in diesem Buch die erprobte Form der Reiseerzählung fort. Aber das persische Hochland - Schauplatz des Romans - wird nun zu einer Art Danteschen Fegefeuers, dem May genußvoll seine persönlichen Freunde und Feinde aussetzt. Die Personen der Handlung, wiewohl persisch gekleidet und nach orientalischem Landesbrauch agierend, entstammten allesamt dem deutschen Bekanntenkreis des Schlüssel-Romanciers.
Gleich in dreifacher Personifizierung - als Kara Ben Nemsi, als Hadschi Halef Omar und als priesterlicher Vater Ustâd - tritt May selbst auf. Es treten auf Verleger Fehsenfeld und Verleger Münchmeyer, bösartige Rezensenten und das edle Volk der May-Leser. Als seelenvolles Mädchen Schakara fungiert die Zweit-Gattin »Herzle« Klara, während Erst-Gattin Emma als fette Köchin und »psychologisch zweifelhafte Person« namens Pekala mit jugendlichem Liebhaber abgebildet wird.
Ein gesundes Pferd, von seinem Besitzer in betrügerischer Absicht mit Pflastern beklebt, trägt den Namen »Kiss-y-darr« - zu deutsch: »Schundroman« -, und im finsteren Prinzen Ahriman Mirza***, der zum Schluß in wohlverdienten Wahnsinn fällt, glaubt May-Forscher Arno Schmidt gar einen »veritablen Nietzscheschen Übermenschen«, wenn nicht Nietzsche selbst zu entdecken.
Schmidt: »Einzelne Partien machen ... unabweisbar den Eindruck, als seien sie in direkter Konkurrenz zum 'Zarathustra' entworfen worden.«
»Mitten im Prosatext«, so erläutert Schmidt, »erscheinen Jamben, bilden Reihen, Ketten von Blankversen fliegen auf, bis es am Ende ganze Seiten fünffüßiger Jamben werden, im gewollt-geheimnisvollen Halbsingsang des orientalischen Märchenerzählers, absichtlich primitiv, die Zäsur meist am Ende der Zeile - ein verblüffender, völlig unerwarteter Überschuß an Formgefühl wird frei.«
Karl May im »Silberlöwen": »Das war das Roß der Himmelsphantasie, / der treue Rappe mit der Funkenmähne, / der keinen andern Menschen trug, als seinen Herrn, / den nach der fernen Heimat suchenden. / Sobald sich dieser in den Sattel schwang, / gab es für Beide nur vereinten Willen. / Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück; / der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten. / Des Laufes Eile hob den Pfad nach oben. / Dem harten Felsen gleich ward Wolke, Dunst und Nebel, / und durch den Äther donnerte das Rennen / hinauf, hinauf ins klare Sternenland. / Dort flog die Mähne durch Kometenbahnen, / und jedes Haar klang knisternd nach der Kraft, / die von den höchsten aller Sonnen stammt / und drum auch nur dem höchsten Können dient.«
In ähnlich feierlich gehobener Sprache verfaßte May sechs Jahre später auch seinen allegorischen Roman »Ardistan und Dschinnistan": ein mystisch-beziehungsreiches Gleichnis vom erdähnlichen Stern Sitara und seinen Ländern Ardistan, der »Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen«, und Dschinnistan, dem »Land der Edelmenschen« - eine Fabel, die May sich als »Lektüre für den Kaiser, für einflußreiche Menschen« vorstellte.
»Mit den letzten beiden Bänden des 'Silberlöwen' und 'Ardistan und Dschinnistan'«, urteilte Schmidt, »erzwang er (May) sich die Aufnahme in unsere deutsche Dichter- und Gelehrtenrepublik: Hut ab vor solch einer fabelhaften Energieleistung.«
Nach dieser zumindest von Schmidt honorierten Leistung jedoch war die Energie Mays, lädiert von zahlreichen Prozeßhändeln und Zeitungsfehden, nahezu verausgabt.
1908 hatte sich der 66jährige Schriftsteller zusammen mit Gattin Klara erstmals wenigstens in die Nähe des Schauplatzes der Old-Shatterhand-Abenteuer begeben, er hatte sich an den Niagarafällen, vor einem Zelt der Tuscarora-Indianer und unter dem Denkmal des Häuptlings Sa-go-ye-watha in Buffalo photographieren lassen, war im Touristenbus durch amerikanische Städte gefahren und hatte das Grabmal der »Onkel Toms Hütte«-Verfasserin Harriet Elizabeth Beecher Stowe besichtigt. Literarische Frucht dieser Reise war das Buch »Winnetou IV« mit dem Untertitel »In hoc signo vinces« - zu deutsch: »In diesem Zeichen wirst du siegen«.
Zwei Jahre nach Veröffentlichung dieses späten Schreibprodukts (heutiger Titel: »Winnetous Erben"), am 30. März 1912, starb Karl May in der Radebeuler »Villa Shatterhand«. Als seine letzten überlieferungswürdigen Worte registrierte Klara May: »Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!«
Der euphorische Ausruf, mit dem Karl May triumphierend sein Leben beendete, war treffsichere Prophezeiung für die Zukunft seines Werkes: Es zeigte sich, daß die zwölf Jahre publizistischer Schaukämpfe dem Ansehen des Volksschriftstellers auf die Dauer nicht zu schaden vermochten. Karl May behauptete sich, vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, trotz Science Fiction, Jazz, Comic Strips und James Dean, als Übermensch-Idol für die mitteleuropäische Jugend.
Die Verkaufsziffern seiner Bücher stiegen beharrlich an:
▷ 1913 hatten die insgesamt vierzig bis dahin erschienenen Bände eine Auflage von 1 610 000 Exemplaren erreicht.
▷ 1938 - die »Gesammelten Werke« waren auf 64 Bände angewachsen - wurde eine Auflage von 7,25 Millionen notiert:
▷ 1962, fünfzig Jahre nach Mays Tod und kurz vor Ablauf des Urheberschutzes, sind vom nunmehr 70bändigen Gesamtwerk rund 18 Millionen Exemplare ausgeliefert worden.
Motor dieses Erfolgs ist ein Verlag, der nahezu ausschließlich das Werk eines einzigen Autors zum Kauf anbietet. Um die Rechtsverhältnisse nach Mays Tod zu klären, hatte die Witwe und Universalerbin Klara zusammen mit Mays erstem Verleger Fehsenfeld am 1. Juli 1913 als Offene Handelsgesellschaft im sächsischen Radebeul den Karl-May-Verlag gegründet. Mitinhaber und Verlagsleiter wurde der 28jährige Dr. Euchar Albrecht Schmid, ein Jurist, dem es endlich gelang, die May-Prozesse abzuschließen.
Schmid führte unter dem Titel »Karl Mays Gesammelte Werke« die von Fehsenfeld begonnene Serie der »Reiseerzählungen« fort; er kaufte die bei anderen Verlagen liegenden Rechte an May-Büchern auf, brachte zwischen den Jahren 1920 und 1933 Jahrbücher zum »Karl-May-Problem« heraus und betätigte sich vor allem als Bearbeiter: Er reinigte zum Beispiel die Münchmeyer-Romane von ihren annähernd frivol anmutenden Passagen, strich sie zusammen und nahm sie in die »Gesammelten Werke« auf.
Euchar Schmid, nach 25jähriger Verlagsarbeit: »(Ich) habe das Werk ... dorthin gebracht, wo es jetzt steht. Es war nicht leicht.«
Nicht leicht waren auch die folgenden Jahre Schmidscher Verlagstätigkeit. Nach dem Tode Klara Mays (1944) erhielt Schmid eine neue Teilhaberin: die Karl-May-Stiftung. In seinem Testament hatte der Schriftsteller die Gründung einer wohltätigen Stiftung verlangt, der nach dem Tod oder der Wiederverheiratung Klaras alles hinterlassene Vermögen zufallen sollte.
Die Stiftung wurde von May dazu bestimmt, »einzelne würdige Personen beiderlei Geschlechts, die zufolge ihrer besonderen Begabung ... sich einem höheren Beruf (insbesondere einem akademischen) zuwenden möchten, die Mittel dazu aber nicht besitzen, dergestalt nachhaltig (zu) unterstützen, daß es ihnen möglich wird, sich zu einer anderen Lebensstellung, die ihrer besonderen Begabung entspricht, emporzuarbeiten«.
Stiftungsvorstand und Spendenverteiler wurden das Sächsische Ministerium für Volksbildung und - nach Kriegsende - der Rat des Bezirks Dresden; sie erbten nach dem Tode Klara Mays die gesamte Hinterlassenschaft der Witwe und die Ansprüche auf die Urheber- und Verlagsrechte. Vermögen der Stiftung Ende 1944: über eine Million Mark.
Während aber nach dem Krieg eine dreibändige polnische »Winnetou«-Ausgabe innerhalb von vierzehn Tagen eine Auflagenhöhe von insgesamt 450 000 Exemplaren erreichte, während in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Bulgarien Übersetzungen von May-Büchern veröffentlicht wurden, waren der SED und der FDJ die allzu freizügigen Träume des Webersohns als Zerstreuungslektüre auf dem Weg zum Sozialismus unerwünscht: Der in Radebeul ansässige Karl-May-Verlag erhielt für Neuauflagen keine Genehmigung. 1950 gründete Joachim Schmid, ältester Sohn Euchars, in Bamberg einen Verlag, der für die stilliegende Radebeuler Firma Lizenzen vergab.
Fast ein weiteres Jahrzehnt später - Euchar Albrecht Schmid war 1951 verstorben - kamen die neuen Firmeninhaber, Schmid-Söhne Joachim, Lothar und Roland, mit den May-unfreundlichen DDR-Instanzen zu einer endgültigen Einigung. Die Schmid-Brüder fanden die Stiftung als Verlags-Teilhaberin und May-Erbin mit fast dem gesamten Vermögen des Radebeuler Verlages ab - laut Roland Schmid erhielt sie »mindestens 17 verlagseigene Häuser« - und übersiedelten 1960 mit dem Inventar des Radebeuler Unternehmens und dem Inventar der »Villa Shatterhand« nach Bamberg. Das Karl-May-Museum blieb in Radebeul: Klara May hatte es kurz vor ihrem Tode der Stiftung geschenkt.
In der oberfränkischen Brauerei- und Bischofsstadt Bamberg gedenken Schmids Söhne das ihnen vorerst noch allein übertragene Erbe weiter zu verwalten. Die provisorische May-Gedächtnisstätte im Bamberger Internationalen Club - sie beherbergt Arbeitszimmer-Einrichtung und Bibliothek des Autors - möchten die Sachwalter in naher Zukunft durch ein völkerkundliches May-Museum nach Vorbild der sächsischen »Villa Bärenfett« ersetzen.
Neuerdings propagiert der Verlag eine 17tägige Gruppenreise »Auf den Spuren Karl Mays« durch die Vereinigten Staaten, die für März 1963 von der American Express Company in Verbindung mit der Fluggesellschaft Swissair geplant ist. Pauschalpreis pro Person: 4900 Mark.
Noch in diesem Jahr will der Verlag unter dem Titel »Die Schatten des Ahriman« eine textkritische Ausgabe des mystischen »Silberlöwen« auf den Markt bringen. Gleichfalls vorgesehen ist für diesen Herbst eine 12bändige wohlfeile »Karl-May-Jubiläumsausgabe« (Preis pro Band 4,80 Mark) und für das nächste Jahr eine erste umfassende Biographie über Karl May. Verfasser: Verlagsteilhaber Roland Schmid.
So eifrig sich freilich die drei Gesellschafter ihren Verlagsprojekten hingeben - das Ende der Urheberschutzfrist am Werk ihres nahezu einzigen Autors und die Konkurrenz, die - nach dem Beispiel des Wilhelm-Busch-Runs im Jahre 1959 - vom 1. Januar 1963 an zu erwarten ist, betrachten sie voller Unmut und Sorge.
Zwar bleiben die Bearbeitungen am gesamten May-Werk bis zum 50. Todesjahr Euchar Schmids im Jahre 2002 geschützt. Die Originaltexte der 40 Bände jedoch, die bis zu Mays Tod im Jahre 1912 erschienen sind, dürfen - soweit auffindbar - fortan honorarfrei nachgedruckt werden.
Roland Schmid: »Wir müssen auf eine sehr harte Kampfzeit gefaßt sein.«
*Viktor Böhm: »Karl May und das Geheimnis seines Erfolgs«. Österreichischer Bundesverlag, Wien; 220 Seiten; 7,50 Mark. ** Enthalten in: »Ich. Karl Mays Leben und Werk«. Band 34 der »Gesammelten Werke«. ***In der altiranischen Religion des Zarathustra (um 600 vor der Zeitrechnung) personifiziert Ahriman das Prinzip des Bösen, sein Gegenspieler Ahura Masda die Macht des Lichts.