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Nachruf Karl R. Popper

aus DER SPIEGEL 39/1994

Es war der Wiener Tischlermeister Adalbert Pösch, der den Lehrling und Studenten Popper »zu einem Jünger von Sokrates« machte. Denn Meister Pösch lehrte ihn, »daß die einzige Weisheit, die zu erwerben ich hoffen konnte, das sokratische Wissen von der Unendlichkeit meines Nichtwissens war«.

Als Popper dies niederschrieb, 1974 in der Autobiographie »Ausgangspunkte«, war er längst selbst ein Meister: Emeritus der »London School of Economics«, Schöpfer des »Kritischen Rationalismus«, von königlicher Hand zum ritterlichen »Sir Karl« geschlagen und im Reich des Denkens jener sokratische »Zitterrochen«, der elektrisierende Erkenntnis-Schläge versetzte.

»Wer von Popper beeinflußt ist«, schrieb der ehemalige Labour-Politiker Bryan Magee, »ändert seine Arbeitsweise und in dieser wie in anderer Hinsicht sein Leben.« Margaret Thatcher baute auf Popper-Lehren, und Helmut Schmidt empfahl den Seinen: »Popper lesen«.

Ein Philosoph als Erfolgstyp, und das in einem Jahrhundert, in dem Denkgebäude stürzten, Ideologien in Blut wateten und Dogmatiker die Sprache massakrierten: Wie geht das? Mit Common sense, mit gesundem Menschenverstand, und verständlicher Rede.

»Unser Wissen ist kritisches Raten«, postulierte Popper, die Wissenschaft gehe von »offenen Problemen« aus und ende in »offenen Problemen«. Und der Cantus firmus seines Treibens, Kants »Wahlspruch der Aufklärung«, war stets: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«

In seines Vaters Haus standen viele Bücher, im Salon thronte ein Bösendorfer Konzertflügel. Die Poppers residierten »im Herzen von Wien, gegenüber dem Riesentor der Stephanskirche«. Der Vater war Rechtsanwalt und Philanthrop.

Im Wien der Kaiserzeit grassierte das Elend; zu Vaters menschenfreundlichen Taten zählte die Behausung von Obdachlosen. In einem dieser Asyle weilte damals auch der letzte Grund für Poppers Lebensschicksal als Emigrant: der arbeitslose Maler Adolf Hitler.

Die Poppers waren assimilierte Juden. Karl, mittlerweile Lehrer für Mathematik, Chemie und Physik, emigrierte, nach einem längeren Aufenthalt in England, im Jahre 1937 nach Neuseeland. Die totalitären Systeme, die Hitler und Stalin errichteten, bewegten Popper zu einem Fundamentalbuch: »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde«.

Popper sah das Buch als »Kriegsbeitrag«, als »Verteidigung gegen totalitäre und autoritäre Ideen«. Vehement attackierte er Theoretiker geschlossener Staatsformen, Plato, Hegel, Marx; und an die Stelle der Frage, wer den Staat regieren sollte, setzte er: »Wie können wir politische Institutionen so organisieren, daß es schlechten und inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?«

Der Wegweiser, den Popper für Staat und Wissenschaft aufstellte, trug die Inschrift »Falsifikation«. Er lenkt nicht zu einer ewigen Wahrheit, sondern auf einen Weg der kleinen Schritte, zur Springprozession »Versuch und Irrtum«.

»Seit Platon«, schrieb Popper, »ist der Größenwahn die am weitesten verbreitete Berufskrankheit der Philosophen.« Die Tätigkeit des Falsifizierens ist wahnfrei: Es geht nicht um den Wahrheitsbeweis (Verifikation) eines Satzes oder einer Theorie, sondern um Fehlersuche und Fehlerkorrektur und dadurch um Annäherung an die Wahrheit.

Diese Methode zu verfolgen, schreibt Popper, sei »nicht nur eine Weisheitsregel, sondern geradezu eine moralische Pflicht« - die »Pflicht zur dauernden Selbstkritik, zum dauernden Lernen, zu dauernden kleinen Verbesserungen unserer Urteile, unserer Theorien«.

Überhaupt seien die Methoden, »die sich bewußt als ,Stückwerk' und ,Herumbasteln' verstehen«, das »beste Mittel zur Erlangung praktischer Resultate« - so was kann dahinwurstelnde Politiker zu Popper-Adepten machen; vor allem wenn sie des Meisters sine qua non überlesen: alles »in Verbindung mit kritischer Analyse«.

Ein »allgemeines Kriterium der Wahrheit«, jedenfalls, könne es nicht geben. Der Satz »Alle Schwäne sind weiß« gilt nur so lange, bis er falsifiziert ist - nämlich ein schwarzer Schwan auftaucht.

Aber wie steht es mit dem Paradigma »Alle Menschen sind sterblich«? So fragte ein Besucher den stillvergnügten, hochbetagten Philosophen. »Zumindest theoretisch«, sprach Popper, sei Unsterblichkeit denkbar. Er hat das Paradigma nicht falsifizieren können. Popper starb am vorletzten Samstag in London an einem Krebsleiden.

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