FRANKREICH / DE GAULLE Kartell des Nein
Das französische Volk lehnt seinem
ganzen Charakter nach das Regime eines einzigen Mannes entschieden ab.«
Das schrieb Brigadegeneral Charles de Gaulle, selbsterkorener Befreier Frankreichs, damals Emigrant in England, im Kriegsjahr 1942 an den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der Zweifel an der demokratischen Zuverlässigkeit des störrischen französischen Alliierten geäußert hatte.
De Gaulle an Roosevelt: »Der Träumer, der es wagen sollte, ein solches (autokratisches) Regime zu errichten, würde - gleichgültig, welche Dienste er dem Vaterland in der Vergangenheit geleistet hat - das ganze Volk gegen sich finden.«
Selten haben Staatsmänner ihre eigenen Irrtümer so klar vorausgesehen wie Frankreichs Nationalheros. Und nur wenige hatten - wie de Gaulle - Gelegenheit, den gleichen Fehler in zwei Jahrzehnten zweimal zu machen.
Im Oktober 1962, zwanzig Jahre nach seinem Brief an Roosevelt, befindet sich der General wiederum in der Rolle jenes von ihm geschilderten Träumers, die er bei Kriegsende schon einmal, als Chef der Provisorischen Regierung Frankreichs, hatte spielen müssen: Er hat Parlament, Parteien und breite Schichten des Volkes gegen sich.
Damals - wie auch heute - ging es um die Stellung des Staatspräsidenten, um jene kaum eingeschränkte Machtfülle, die sich deGaulie, von seiner Mission für Frankreich durchdrungen, selbst vorbehalten wollte. Bereits als junger Offizier an der Kriegsschule von Saint Cyr war er, so ist in seiner Personalakte vermerkt, »wie ein König im Exil« aufgetreten.
Der General mit den Allüren eines Monarchen mißbilligte 1945 die von der Nationalversammlung ausgearbeitete Verfassung der IV. Republik und trat am 20. Januar 1946 als Regierungschef zurück, als diese Verfassung durch Volksentscheid (53,3 Prozent Ja-Stimmen) angenommen wurde, obschon de Gaulle selbst für »Nein« plädiert hatte.
»Der Präsident ist weder die eigentliche Quelle der Regierung«, tadelte er das damalige Verfassungswerk, »noch entscheidet er über die Auflösung dies Parlaments. Ihm wird keinerlei wirkliche Macht gegeben.«
Heute, als Staatschef dar V. Republik, besitzt de Gaulle diese »wirkliche Macht«. Doch nun geht es dem 71jährigen darum, »seinen Nachfolgern die Möglichkeit zu geben, die höchste Verantwortung zu tragen«. Deshalb soll jeder künftige Präsident unmittelbar vom Volk gewählt werden.
Für diese Änderung der Verfassung, über die - unter Umgehung des Parlaments - Frankreichs Wähler am 28. Oktober in einer Volksabstimmung entscheiden werden, setzt der General sein ganzes politisches Prestige ein. »Wenn Ihre Antwort 'Nein' lautet«, erklärte er am Donnerstag vergangener Woche in einer Fernsehrede an die Nation, »oder wenn das 'Ja' schwach, dürftig und unklar ist, so wird meine Aufgabe sofort und für immer zu Ende sein.«
Diese Drohung mit dem »unwiderruflichen Rücktritt« soll, wie de Gaulle hofft, ihm noch einmal eine eindrucksvolle Mehrheit sichern. Durch den Rückgriff auf das Plebiszit hatte er alte republikanische Ängste vor bonapartistischer Überrumpelung geweckt. Und die offene Mißachtung der geschriebenen Verfassung brachte Parlament, Parteien und Presse in Aufruhr.
Doch die Spekulation auf die eigene Unentbehrlichkeit hat schon einmal getrogen. 1946 bedurften die Franzosen ihres Nationalhelden nicht mehr, als er sich, ergrimmt über den Undank seiner Landsleute, nach Colombey-les-Deux-Eglises zurückzog. Denn: Frankreich war bereits befreit.
Auch 1962 scheint den gegen de Gaulle rebellierenden Parteien der Verzicht auf den mit der Patina legendären Ruhms umkleideten Staatschef nicht allzu schwierig. Denn: Algerien ist bereits von Frankreich amputiert.
Der große Mann hat seine Schuldigkeit getan. Er hat abermals den Zeitpunkt verpaßt, an dem er Frankreich unter dem Eindruck außenpolitischer Gefahren ein autoritäres Präsidialregime hätte aufzwingen können.
Der General hingegen glaubte den Zeitpunkt für seine Volksbefragung klug gewählt zu haben, als er von seinem größten diplomatischenTriumph zurückkehrte: von seiner Jubel-Reise durch die Lande des einstigen deutschen Erbfeindes.
Doch der Staatschef, der plötzlich Deutsch sprach, »Es lebe Deutschland« rief und eingestand, daß der »Großvater meines Großvaters mütterlicherseits« - ein Feldscher der napoleonischen Armee - Deutscher gewesen sei, war seinen Landsleuten auf eine neue Art suspekt geworden.
»König Charles inspizierte seine östlichen Provinzen«, frotzelte der Pariser »Express«. Das satirische Wochenblatt »Le Canard enchaîne erschien mit dem Titel »Der Kanard« und dem deutschen Motto »Zwei Völker - ein Führer«. Und selbst das gaullistische Massenblatt »Paris-presse« distanzierte sich: »Zuviel der Liebe.«
Der Jubel aus deutschen Kehlen, der einst Hitler gegolten hatte, verdunkelte Jetzt den Mythos des Generals, der Befreier Frankreichs von grausamer Naziherrschaft zu sein. Ein neues Bild drängte sich vor: »De Gaulle über alles« ("Paris-Jour").
Als der Deutschland-Heimkehrer Parlament und Parteien, mit denen er eine alte persönliche Rechnung zu begleichen wähnte, durch sein Vefassungsprojekt brüsk herausforderte, bekam er eine unerwartete Quittung: Die Nationalversammlung stürzte die Regierung Pompidou (SPIEGEL 41/1962).
Der General schlug zurück, löste die Nationalversammlung auf und schrieb für den 18. und 25. November Neuwahlen aus. Damit hatte er jedoch seine legalen Mittel erschöpft.
Meinungsumfragen in Frankreich ergaben inzwischen, daß de Gaulle
- bei der Volksabstimmung über die Verfassungsänderung einie Mehrheit von 57 bis 65 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten dürfte (bei 52 oder nur 51 Prozent will er zurücktreten), aber
- die Wahlen zur Nationalversammlung verlieren wird, weil die bisherige Regierungspartei, die gaullistische UNR, diesmal statt der bisherigen 176 Mandate nur 50 oder höchstens 80 Mandate erreichen dürfte.
Die UNR hatte 1958 bei den Wahlen zur Nationalversammlung im ersten Wahlgang nur 17,6 Prozent der Stimmen erhalten, weniger als die Kommunisten (18,9), weniger auch als die Konservativen (19,9), mit denen sie später die Regierung bildete.
Erst im zweiten Wahlgang verbesserten die Gaullisten durch geschickte Wahlbündnisse ihren Stimmenanteil auf 26,4 Prozent und wurden damit zur stärksten Fraktion des Parlaments (188 Sitze), während die völlig isolierte KP trotz ihres hohen Stimmenanteils nur zehn Mandate errang.
Diesmal droht der gaullistischen UNR das Schicksal der KP; denn alle Parteien, mit denen sie vor vier Jahren Wahlbündnisse schloß, gehören jetzt zum »Kartell des Nein«, das gegen de GaulLe, »gegen die Verletzung der Verfassung und gegen die Alleinherrschaft« auftritt.
Das bringt den Staatschef nach den Neuwahlen in eine prekäre Lage: Er kann
- keinen Vertrauens zum
Premier ernennen, denn dieser fände im Parlament voraussichtlich keine Mehrheit;
- die Nationalversammlung in den
ersten zwölf Monaten nach den Wahlen nicht auflösen, denn das ist durch Artikel 12 der Verfassung untersagt,
- nicht mit dem Notstandsartikel 16 regieren, denn dabei müßte er den (nicht vorhandenen) Premierminister sowie den Verfassungsrat konsultieren (der ein solches Regime für verfassungswidrig erklären würde).
Der General wird also mit seinen Innenpolitischen Gegnern Frieden schließen oder seine Drohung wahr machen und zum zweiten Male den Rückzug nach Colombey-les-Deux-Eglises antreten müssen.
»Dennoch habe ich dem politischen Leben des Landes einen Dienst erwiesen«, spöttelte de Gaulle im Gespräch mit Pompidou über die von ihm provozierte Staaskrise."Man war in Frankreich eingeschlafen, jetzt ist man aufgewacht.«
L'Express, Paris
Zum zweiten Mal?