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»Katastrophale Folgen«

Ex-Außenminister Ihsan Sabri Caglayangil an Hans-Dietrich Genscher Aus einem Internierungslager bei Canackale, wo er mit 15 weiteren Politikern eingesperrt ist, richtete Ihsan Sabri Caglayangil, zwischen 1965 und 1977 zweimal Außenminister der Türkei, ein Schreiben an Hans-Dietrich Genscher. Auszug: *
aus DER SPIEGEL 40/1983

Lieber Kollege, verehrter Freund, wir hatten gelegentlich die Möglichkeit, mit Euer Exzellenz Gedanken über die derzeitige Krise in der Türkei auszutauschen. Ich erinnere mich an unsere Gespräche in meiner Wohnung in Ankara. Wie in diesen Gesprächen deutlich wurde, glauben seine Exzellenz Demirel, ich und die Mitglieder unserer Partei nicht daran, daß ein militärischer Eingriff, aus welchem Grund auch immer, in einer Demokratie berechtigt sei.

Nichtsdestoweniger haben wir uns aus der Einsicht, die Ehre der türkischen Streitkräfte dürfe nicht verletzt werden, und aus dem Glauben, daß eine Rückkehr zur Demokratie gewährleistet werde, die größte Mühe gegeben, keine Gegenpositionen gegen den 12. September (die Machtergreifung der Militärs) zu beziehen.

Wir wußten, daß jene Kräfte in meinem Land, welche die Waffengewalt besitzen, die Gewohnheit nicht aufgegeben haben, Krisen mit militärischen Interventionen lösen zu wollen, statt dem demokratischen Apparat zu vertrauen.

Regelmäßig im Abstand von zehn Jahren haben wir neue Krisen und neue militärische Eingriffe erlebt. Unsere westlichen Freunde, besonders aber die türkischen Demokraten wissen, daß das türkische Volk nie Gelegenheit hatte, eine gewählte Regierung wieder abzuwählen. Dieser oft wiederholte Fehler ist das einzige Hindernis für die politische Kontinuität und die Entwicklung des Landes sowie der Hauptgrund für seine Schwäche.

Daher haben wir von unseren Partnern in der westlichen Schicksalsgemeinschaft, besonders von der jetzigen deutschen Regierung, gewünscht und erwartet, daß sie gegen die erwachenden diktatorischen Gelüste in der Türkei im Sinne ihrer Philosophie und zu ihrem politischen Vorteil Stellung beziehen würden.

Aber diejenigen, die gesagt haben, »Hauptsache, die Türkei ist auf unserer Seite, wie auch ihr Regime sein mag«, haben die Militärregierung bestätigt und unterstützt. Diese Haltung hat eine große Rolle gespielt.

Lieber Freund, wie die Türkei regiert wird, ist sicher deren innere Angelegenheit. Aber andererseits können wir kein Verständnis dafür aufbringen, wenn unsere Freunde, mit denen uns gemeinsame Vorstellungen von Demokratie verbinden, nach der Aufhebung der Demokratie in der Türkei nicht fragen: »Was geht da vor«, sondern behaupten: »Es läuft alles gut.« Eine solche Haltung bedeutet denn doch eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei. Die katastrophalen Folgen der jetzigen Entwicklung werden sich bald bemerkbar machen.

Lieber Kollege, ich habe Ihnen mehrmals erklärt, daß es mit einer schwachen Türkei keine starke Nato geben wird, daß die Schwäche der Türkei der gesamten freiheitlichen Welt schaden würde.

Es ist Betrug, wenn behauptet wird, daß in der Türkei ein Übergang zur Demokratie stattfinden werde. Die Türkei wurde in ein gelenktes System hineingeschoben. Die Wahlen werden zwar stattfinden, auch Parlament und Parteien werden existieren, aber es wird nicht realisiert, was das Volk sich wünscht, sondern was der Diktator befiehlt.

Lieber Freund, in diesem Brief will ich keinen besonderen Wunsch mitteilen. Ich beabsichtigte auch nicht, Euer Exzellenz traurig zu stimmen. Aber im Andenken an die Tage unserer gemeinsamen Arbeit dachte ich, daß Sie vielleicht der wahre Hintergrund der Canakkale-Affäre interessieren würde.

Mit Liebe und Hochachtung! Ihsan Sabri Caglayangil

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