Seinen Mandanten steht er bei. Sich
selbst steht er immer wieder im Weg. Er kann Verständnis für Angeklagte wecken, die das Einfühlungsvermögen überfordern. Doch sich selbst liefert er immer wieder dem Unverständnis aus.
Seit dem 24. Februar dieses Jahres sitzt der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Herbert-Ernst Müller, 50, unter anderen Angeklagten vor der Großen Strafkammer 8 des Landgerichts Hamburg. Beihilfe zu Konkursdelikten wird ihm vorgeworfen.
Es ist keine Überraschung, dem Rechtsanwalt Müller als Angeklagtem zu begegnen. 1959 wurde gegen ihn ein Verfahren wegen wissentlich falscher Anschuldigung und übler Nachrede eingestellt, nachdem er eine Buße von 3000 Mark gezahlt hatte.
1962 wurde er wegen Trunkenheit am Steuer zu drei Wochen Haft mit Bewährung verurteilt. Gleichfalls 1962 mußte ein Schöffengericht gegen ihn auf 8000 Mark Geldstrafe erkennen, weil er einen Kollegen beleidigt hatte.
Der Rechtsanwalt Müller kämpft in dem Prozeß, in den er gegenwärtig verstrickt ist, um seine Existenz. Doch ist es nicht irgendeine Existenz, um die es hier geht. Denn der Angeklagte Herbert -Ernst Müller ist auch ein großer Strafverteidiger.
Natürlich glitzert und raunt es auch um seinen Namen. Wie jeder, der im Bannkreis aufsehenerregender Strafsachen tätig ist, ist er von Sensationen, von Gerüchten und Geheimnissen umgeben. So kaufte er im Sommer 1959 dem als Mörder der Nitribitt verdächtigten Handelsvertreter Pohlmann in unbekanntem Auftrag für 50 000 Mark die »Persönlichkeitsrechte« ab. Der Vertrag legte Pohlmann Schweigen auf über die großen Unbekannten, die zum Kundenkreis der Frankfurter Symbolfigur neudeutschen Wunderwohlstands gehört hatten.
Müller gilt als Verfasser zweier unter Pseudonym vorliegender Kriminalromane, in denen die rechtlichen Probleme der Strafverteidigung beiläufig vorgeführt, aber auch die Konflikte in der Brust des Strafverteidigers sichtbar werden. Als Berater in zivilrechtlichen Nöten wurde Müller von Großmächtigen erwählt. Seine Kundschaft ist international.
Auf den ersten, oberflächlichen Blick scheint Müllers Bild zu schillern wie das eines Stars, scheint sich Imponierendes mit Fatalem hier so zu mengen wie dort, wo alles möglich ist, wenn nur angemessen gezahlt wird. Doch dieser Mann wird erst hinter dem krausen Schnörkelputz sichtbar, der für die Hasardeure seines Berufs ein erstrebenswertes Ziel, für ihn eine leidige, unumgängliche Beigabe ist: als fanatischer (und darum kontrollierter) Verteidiger von Angeklagten, über die öffentliche Vorurteilsbereitschaft allzu schnell den Stab gebrochen hat.
1960 verteidigte er den Öl- und Finanzkaufmann Herbert Gerdts, 50, in Hamburg. Der hatte Frau und Schwiegermutter erschossen. Zweimal lebenslänglich Zuchthaus forderte die Anklage. Der Staatsanwalt: »Ich sehe, keine Möglichkeit für die Anwendung des Paragraphen 51, Absatz zwei, abnorme Eifersucht ist kein krankhafter Zustand.«
Müller dagegen: »Der Fall Gerdts begann mit einem modernen Märchen. Ein vermögender, erfolgreicher Kaufmann heiratete ein junges Mädchen aus einer ärmlichen Siedlung ... Wie Pygmalion wollte er sie formen und sie in die Gesellschaft einführen, zu der ei gehörte. Aber mit Geld kann man einen Menschen nicht zu seinem Glück zwingen. Das hat der Angeklagte nie einsehen wollen.«
Ein unorthodoxes Plädoyer ist dieses Plädoyer Müllers, wie die meisten seiner großen Bemuhungen um Schuldige, die fast schon gerichtet sind; eines gegen den Mandanten scheinbar. »Meine Damen und Herren, ich weiß in diesem Fall keine Parallele. Wissen Sie eine? Wenn Sie auch keine wissen, dann ist dieser Fall abnorm. Dann muß dem Angeklagten verminderte Zurechnungsfähigkeit zugebilligt werden. Ich kämpfe nicht für die Freiheit von Herbert Gerdts - er ist sowieso ein zerbrochener Mann ...« Das Urteil: 15 Jahre Zuchthaus. Verminderte Zurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat.
Müller verteidigte den Bankdirektor Bobsien, den Tierarzt Dr. Vollmer, er verteidigte Schmuggler und er verteidigte auch die 25jährige Medizinstudentin Dietlind Zahlten. 1958 stand sie in Hamburg vor Gericht, und Müller begann: »Wenn es so wäre, wie die Staatsanwaltschaft behauptet, dann wäre Dietlind Zahlten ein Unhold und würde den Namen 'Mensch' oder gar 'Frau' nicht verdienen.«.
Die Angeklagte hatte ein Kind geboren, getötet und seziert. Ein »bestialisches Verbrechen« für die Öffentlichkeit. Die Angeklagte, in einem ersten Verfahren zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, hatte behauptet, bis zur Niederkunft nicht von ihrer Schwangerschaft gewußt zu haben. Die Frühgeburt sei wie eine Katastrophe über sie gekommen. Ärzte, bei denen sie vorher war, hätten ihr gesagt, leider trage sie kein Kind; ein Unterleibstumor sei zu befürchten.
Müller plädierte auch hier wie einer, der neben dem Mandanten steht, nicht wie einer, der sich mit ihm identifiziert. »Was wirklich war, wissen nur Sie, Fräulein Zahlten. Wenn es anders war, als die Verteidigung sagt, dann haben Sie eine Schuld auf sich geladen, die mit den Mitteln des Strafprozesses nicht zu erfassen ist ... Nehmen Sie eine Lehre aus diesem Verfahren an. Kehren Sie um! Ändern Sie Ihr Leben! Ich bin überzeugt, daß Sie keine Mörderin sind, und kann nur auf Freispruch plädieren, aber ich bitte Sie, kehren Sie um.«
Das Urteil: Drei Jahre Gefängnis und Anrechnung von anderthalb Jahren Untersuchungshaft Die Angeklagte habe versucht, durch die Sektion des Kindes den medizinischen Nachweis, unmöglich zu machen, daß das Kind gelebt habe. Doch zugunsten der Angeklagten müsse angenommen werden, daß das Kind tot war, als es zur Welt kam. Die Haltlosigkeit der Angeklagten, das Versagen ihres Freundes, fast alles, was Strafverteidiger Müller für seine Mandantin vorgebracht hatte, war in der Urteilsbegründung enthalten.
Dieser Mann ist nun angeklagt, er selbst soll schuldig geworden sein Bei einem Konkurs, der vielen anderen ähnelt, soll der Versuch unternommen worden sein, mit der Konkursmasse zu manipulieren, wie er so oft unternommen wird; doch diesmal soll ein Rechtsanwalt Beihilfe geleistet haben. Die Verhandlung hat nach 24 Sitzungstagen gerade das Ende des Gehörs zur Sache, den Beginn der Beweisaufnahme erreicht. Der Konkurs der Weinfirma G. A. Klein & Co wird rekonstruiert.
Der an Verhandlungstagen so alten, in der Sache noch so jungen Verhandlung darf nicht vorgegriffen werden. Gertrud Alexandra Klein, 1912 in Alexandrien geboren, steht im Mittelpunkt des Verfahrens. Nerz-, Ozelotmäntel, Persianer (grau), ein Chevrolet und wertvolles Mobiliar treiben kurz an die Oberfläche, Geschäftsgang und Lebensform kollidierten, Tatsachen müssen wie Wiesel gejagt werden. Frau Klein ist nicht gerade präzis wie ein gut gefütterter Computer, wo es um die Tage des Zusammenbruchs geht: »Es ist ja schließlich mein erster Konkurs, so genau weiß ich das nicht ...«
Doch Frau Klein hatte und hat einen Bruder, den stellvertretenden kaufmännischen Direktor der Stadtwerke Düsseldorf, Rudolf Klinger, 1910 in Karlsruhe Geboren. Der ist 1958, als der Wein zu lange zum Brunnen gegangen war, in die Misere geraten. Er hat damals über Herbert-Ernst Müller einen-Darlehens- und Sicherungsübereignungsvertrag mit der Schwester geschlossen. 20 000 Mark hat er der Schwester zur Verfügung gestellt, und ein Teil der Summe ging per Scheck über Müllers Büro an die teure Blutsverwandte.
Als die Pleite dennoch ausbrach, meldete Müller die Summe zur Konkurstabelle an. Doch dann wurde die in Alexandrien geborene Alexandra verhaftet. Müller machte dem Bruder Mitteilung und erfuhr am Telephon (will erst am Telephon bei dieser Gelegenheit erfahren haben), daß Herrn Direktor Klingers Forderung nicht Rechtens war. Was dieser über Müller an die Schwester »gezahlt« hatte - hatte sie ihm zur Einzahlung gegeben. Schwarzes Geld war weiß gemacht worden. Und obendrein: Direktor Klinger war voll Zorn. Er habe Müller untersagt, die Forderung anzumelden. Gegen seinen erklärten Willen sei die Anmeldung erfolgt.
Schmal, zierlich, voll angestrengt gebändigter nervöser Sensibilität sitzt der große Strafverteidiger da. Seine schlanken Hände, die einem Dirigenten gehören könnten, unterstreichen, formen, was das Gericht erfassen soll. Die Brille ist der Stab, mit dem Müller dirigiert, er setzt sie auf, er setzt sie ab, legt einen Bügel, nachsinnend, an die Lippen. Leise spricht er. Wenn er forciert, spricht er nur schneller, nicht lauter. Er hat damals sofort das Mandat Klinger niedergelegt, nachdem er vorher die Anmeldung zur Tabelle korrigiert hat.
Ist er ein Getäuschter, ein Opfer seines Einstehens für den Mandanten, ein Opfer seiner vielbewährten Tugend? Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Knieschke, verhandelt würdig, einfühlend, und manchmal scheint er einzuräumen, zuzugestehen, beizustimmen. Und dann kommt er doch immer wieder auf Punkte zurück, die mancher Beteiligte (vielleicht aufatmend) schon umschifft wähnte. Drei-, viermal wird ein entscheidendes Dokument, eine Aktennotiz, ein Brief, ein Protokoll verlesen. Direktor Knieschke ist zäh. Er verhandelt am Mittwoch vergangener Woche von 9 Uhr früh mit mageren Pausen bis 18.30 Uhr, bis ein Schöffe ausbricht, daß er ein kranker Mann sei und von seiner Frau erwartet werde.
Die Schöffen, ein Straßenbahnfahrer, ein Rentner, Errungenschaften auf dem Weg zur Freiheit sind sie freilich als Institution, aber hier wird Mord an ihnen schleichend geübt, denn die Materie ist schiere Jurisprudenz. Was können sie eines Tages im Mai oder Juni, wenn man ans Urteilen kommt, beisteuern?
Direktor Knieschke: »Dr. Müller als beratendes Organ, der hat doch kein Interesse daran, partout solche Sachen zu machen.« Natürlich, warum soll Müller daran interessiert sein, Gläubiger zu schädigen zugunsten von Gertrud Alexandra Klein? Doch die Berufenen sind auch die Gefährdeten, die Begabten die Geschlagenen, sie handeln mit ihrem Licht und schleppen an ihrem Schatten. Ein Gesetz kann für einen Fanatiker der Verteidigung ein Willkürakt sein, etwas, das gesetzt worden ist von Menschen, etwas, das keineswegs ein letztes Wort ist.
Der fanatische Einsatz für den Mandanten kann zur Neurose werden, zum Kampf um jeden Preis, gerade da, wo es keineswegs um das Honorar geht. Das geltende Recht, dem es zu dienen gilt, kann von denen mißachtet werden, denen seine Gebrechlichkeit allzusehr vor Augen steht.
Es ist ein bitterer Auftrag für das Gericht, die Wahrheit des Dr. Müller in dieser Sache finden zu müssen. So blickt denn auch Staatsanwalt Protze als Vertreter der Anklage nicht kriegerisch drein, sondern wie ein von Philosophie und Psychologie geplagter Mann.
Angeklagter Verteidiger Müller
Bis die Schöffen müde wurden