»Kein Anhalt für sexuelle Tatbereitschaft«
Siebenundachtzig Seiten ist das Urteil stark, denn das Gericht hat seine Entscheidung gewissenhaft begründet. Sorgfältig werden die »entscheidenden Indizien« herausgearbeitet und einander auf das zwingendste zugeordnet. Das Urteil liest sieh gut, sieht man davon ab, daß es ein Fehlurteil ist.
Das Urteil wurde am 14. Januar 1975 von einem Schwurgericht in Bremen gegen den damals 37 Jahre alten Bauarbeiter Otto Becker verkündet. Das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Bernhard-Adolph Crome, damals 37, hielt den Angeklagten für »schuldig der Vergewaltigung in Tateinheit mit Mord«. Es erkannte auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und drei Monaten.
Niemand gab der von Otto Becker beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegten Revision eine Chance. Herr Crome, als Jurist ein Könner, würde es schon verstehen, die schriftliche Urteilsbegründung gegen Rügen jeder Art dichtzumachen. Doch Otto Beckers Verteidiger. der Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover. einer der qualifiziertesten Strafverteidiger der Bundesrepublik. war von der Unschuld seines Mandanten hartnäckig überzeugt.
Seine Ausdauer wurde belohnt. Beim Durcharbeiten der Generalakte stellte sich heraus, daß dem -- damals noch mit sechs Laienrichtern besetzten -- Schwurgericht nicht eine ausgeloste Schöffin, sondern ihr Ehemann angehört hatte. Heinrich Hannover war damit auf einen »absoluten Revisionsgrund« gestoßen.
Im November 1975 hatte der BGH das Urteil gegen Otto Becker aufzuheben. Doch inzwischen befand sich Otto Becker schon auf freiem Fuß: Die »Spurenakte 59« war wieder aufgetaucht. Und diese Spurenakte handelte von einem Mann -- der zumindest als genauso verdächtig gelten mußte wie Otto Becker.
Die Umstände des Verschwindens und Wiederauftauchens dieser Spurenakte werden heute in Bremen »ominös« genannt; man muß wohl geborener Bremer sein, um das würdigen zu können. Die Spurenakte 59 jedenfalls verschwand und wäre wohl auch versehwunden geblieben, wenn sich Heinrich Hannover nicht nach der Verurteilung seines Mandanten geradezu rabiat engagiert hätte.
Im November 1976 begann die zweite Hauptverhandlung gegen -- den seit April 1975 von der U-Haft verschonten -- Otto Becker. Sie endete, kurz vor Jahresende, am 16. Sitzungstag mit Freispruch und Zuerkennung einer noch festzusetzenden Haftentschädigung. Das Gericht sprach in der mündlichen Urteilsbegründung davon, daß »insgesamt noch erhebliche Verdachtsmomente« gegen Otto Becker geblieben seien.
Diese Einschränkung darf man freilich nicht überbewerten. Denn ungeachtet dieses Satzes hat das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Heinz-Gunther Bartholomäi, 42, gerade die Beweise ad absurdum geführt, mit denen im Januar 1975 die Verurteilung Otto Beckers begründet worden war. Es wäre unfair, dem Vorsitzenden Richter Bartholomäi vorzuwerfen, er habe gegenüber Herrn Crome kollegiale Rücksicht walten lassen. Gerade einem Gericht, das ein Fehlurteil korrigiert, muß bewußt sein, wie leicht ein Gericht zu einem Fehlurteil kommen kann.
Am 4. Mai 1971 wurde, etwa 100 Meter vom Bahndamm bei Bremen-Oslebshausen entfernt, die Leiche der 17jährigen Carmen Kampa gefunden. Sie war vergewaltigt, zu Tode gewürgt und gestochen worden. Man hatte einen Anhaltspunkt dafür, wann die Tat geschehen war. Denn in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1971 hatte ein Fahrgast gegen 23 Uhr 25 aus dem Abteilfenster beobachtet, daß eine um Hilfe und nach der Polizei schreiende Frau beim Bahnhof Oslebshausen von einem Mann bedrängt wurde.
Der Fahrgast zog nicht die Notbremse. Erst von der nächsten Station aus wurde die Polizei benachrichtigt. Die Hilfeschreie waren aber auch von Anwohnern gehört worden, die ihrerseits die Polizei alarmiert harten. Etwa zwischen 23.40 und 24 Uhr hatte der Streifenwagen »Roland 19« vergeblich am Bahndamm und um ihn herum mit Fernlicht und Suchscheinwerfern gesucht.
Die Ermittlungen verliefen trotz aller »Hinweise aus der Bevölkerung« ergebnislos. Es wurden 1020 Spurenakten angelegt, doch viele Hasen sind des Hundes Tod. An handfesten Verdachtsmomenten fehlte es nicht, sie reichten aber nicht aus, um die Ermittlungen auf eine Person zu konzentrieren. Für die Kripo, die angesichts dieser Tat unter massivstem Erfolgszwang stand, ein bitteres Ergebnis. Nicht einmal die 10 000 Mark Belohnung, die im August 1971 ausgesetzt wurden, halfen weiter.
Doch im Mai 1973 sieht ein zur Mordkommission abkommandierter Polizeimeister die Akte Kampa durch. Da wird ein Täter beschrieben (dunkle Haare, dunkler Anzug, weißer Partypullover), an den er sich erinnert: Er hat 1970 einen Mann überprüft, der einen roten Opel Kadett fuhr, der später beschädigt aufgefunden wurde. Und den Schlüssel zu diesem Opel Kadett -- den hat am 1. Mai 1971 ein Mann der Wirtin der Gaststätte »Zum Bahnhof« ausgehändigt. Die Gaststätte »Zum Bahnhof« liegt unweit des Tat-Orts Carmen Kampa.
So kommt man auf Otto Becker. Denn der hat den roten Opel Kadett 1970 einem Freund entwendet und hat ihn ohne Führerschein gefahren. Nach einem Unfall ließ er den Wagen stehen. Den Schlüssel behielt er, bis er ihn in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1971 der Wirtin in der Gaststätte »Zum Bahnhof« als ein Pfand hinterließ, das er, die Zeche prellend, nicht mehr abholte. Am 4. Juni 1973 wird Otto Becker zum erstenmal gehört. Er betont, er habe Carmen Kampa nicht getroffen und gesehen, als er die Gaststätte »Zum Bahnhof« verließ. Das Lokal »Miramichi«, das Carmen Kampa kurz vor ihrem Tod verlassen hatte, habe er nie besucht.
Otto Becker ist damit einverstanden, daß sein Name und sein Photo in der Presse veröffentlicht werden. Auf diese Veröffentlichung hin meldet sich eine Frau, die sich schon 1971 gemeldet hat, doch damals, um auf einen Stadtstreicher hinzuweisen. Nun ist sie von einem Mann, auf den das Bild von Otto Becker zuzutreffen scheint, in der Tatnacht, um die Tatzeit und beim Tatort angesprochen worden. Eine weitere Zeugin bekundet, sie habe Otto Becker im »Miramichi« gesehen.
Dies und anderes bestreitet Otto Becker, als er am 31. Oktober 1973 erneut gehört wird. Nach Gegenüberstellungen räumt er einiges ein. Er erinnere sich zwar nicht, am 1. Mai 1971 im »Miramichi« gewesen zu sein, aber wenn die Zeugin das sage, dann werde das wohl so gewesen sein. Vor allem aber räumt er ein, er habe die Hilfeschreie der Carmen Kampa gehört.
Am 1. November 1973 wird er richterlich vernommen, er bestreitet, Carmen Kampa getötet zu haben. Er habe sich allenfalls vorzuwerfen, alles versucht zu haben, um sich aus diesem Verdacht herauszuhalten. Der Richter lehnt es ab, einen Haftbefehl zu erlassen, doch am 13. November 1973 setzt die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl durch. Am 14. November 1973 widerruft Otto Becker vor dem Richter, was er vor der Kripo über Carmen Kampas Schreie ausgesagt hat. Er habe nur die Polizei zufriedenstellen wollen, um bald wieder entlassen zu werden.
Hier können nur einige Punkte angeführt werden, in denen das erste Gericht gegen Otto Becker im zweiten Prozeß korrigiert wird.
Entscheidend für das erste Gericht ist bei Ausschluß anderer Tatverdächtiger gewesen, daß der Fahrgast, der die Szene am Bahndamm aus dem Abteilfenster beobachtete, Angaben machte, die allein auf Otto Becker hinwiesen. Doch dieser Zeuge sagte im zweiten Prozeß aus, er sei wohl voreingenommen gewesen, als er Otto Becker aus einer Gruppe von vier, fünf anderen Männern heraus identifizierte: Er habe nämlich zuvor gesehen, daß Otto Becker in Handschellen aus einem Polizeiwagen herangeführt wurde.
Dem ersten Urteil zufolge hat Otto Becker in knapp fünfzehn Minuten Carmen Kampa überwältigt, etwa 100 Meter weit geschleppt, vergewaltigt, erwürgt und erstochen. Und wenig später hat er eine Zeugin angesprochen, der er laut ihrer resoluten Aussage ohne Spuren an seiner Kleidung gegenübertrat.
* Im ersten Prozeß gegen Otto Becker 1974/75.
Das zweite Gericht stellt fest, die Zeugin habe keinen Schmutz an Otto Beckers Kleidung bemerkt -- obwohl der Tatort ein morastiges Gelände war.
Das zweite Gericht hat den klinischen Psychologen Dr. Herbert Maisch, Hamburg, als Sachverständigen hinzugezogen, und dessen, in der mündlichen Urteilsbegründung wiederholt als »überzeugend« herangezogenes Gutachten wird entscheidend.
Man weiß, daß Otto Becker homosexuell ist, hat sich aber im ersten Prozeß mit allzu schlichten Thesen über Bisexualität beruhigt. Jetzt wird klargestellt, daß Otto Becker zum Zeitpunkt des Todes von Carmen Kampa »seine Homosexualität schon voll akzeptiert« hatte. Dr. Maisch: »Wenn Herr Becker im Alter von 34 Jahren, also zum Zeitpunkt der Tat, voll homosexuell identifiziert war -- und die vorliegenden Befunde scheinen eher dafür als dagegen zu sprechen -, dann bestünde kein Anhalt für eine sexuelle Tatbereitschaft und Motivation im vorliegenden Fall.«
Dr. Maisch führt die Befunde vor, die er erarbeitet hat, und er führt sie verständlich vor. Die Frage, ob Otto Becker in erhöhtem Maße suggestibel ist, verneint er. Dr. Maisch geht überaus fair mit der Kripo um, die so vernommen hat, wie sie es nicht besser gelehrt wurde, Sie hat nichtsahnend die infantile Autoritätsabhängigkeit von Otto Becker genutzt, die ihn veranlaßte, die Wünsche der Beamten zu befriedigen.
Das Gericht folgt Dr. Maisch. Und das Gericht hat ja auch den Mann gesehen und gehört, von dem Spurenakte 59 handelt: Er ist als Zeuge aus der Sicherungsverwahrung vorgeführt worden, die ihn inzwischen in anderem Zusammenhang ereilt hat. Heinrich Hannover trägt in seinem Plädoyer 21 Indizien gegen diesen Zeugen vor.
Betrachtet man die Zufälle und das Glück, die zum Freispruch Otto Beckers führten -- dann schaudert es einen. Ist der Irrtum in den Gerichtssälen die Ausnahme? Das Urteil, durch das Otto Becker verurteilt wurde, liest sich gut. Nur ein absoluter Revisionsgrund von äußerstem Seltenheitswert hat seine Aufhebung erzwungen. Allein die rücksichtslose Attacke eines Verteidigers hat eine Akte wieder auftauchen lassen,
Zwei Jahre nach einer unaufgeklärten Tat bot sich ein Verdächtiger. Gottes Mühlen mahlen langsam, die Sonne bringt es an den Tag; was mag alles unbewußt gespukt haben.« Etwas Besseres als den Tod findest du überall«, so ziehen Esel, Hund, Katze und Haushahn gen Bremen, um Stadtmusikanten zu werden. Ein Glück, daß sie in einem Wald vor der Stadt eine Zuflucht finden. Denn auch in Bremen kann man etwas Ärgeres als den Tod finden -- ein Fehlurteil »Im Namen des Volkes!«