Zur Ausgabe
Artikel 54 / 86

Kein Blitzkrieg, sondern ein langer Marsch

aus DER SPIEGEL 42/1978

Ein »crash program« nach dem Modell des Nasa-Mondunternehmens »Apollo« -- das forderten viele Krebsexperten noch vor 15 Jahren: Gleichsam im Handstreich wollten sie auch die letzte große Menschheitsseuche besiegen.

Kein Blitzkrieg, sondern ein langer Marsch, dessen Ende nicht abzusehen ist -- das ist die Perspektive der Krebsforschung seit dem Beginn der siebziger Jahre. Je tiefer die Chancen für einen raschen Durchbruch in der Krebsbehandlung sanken, desto lauter propagierten die Mediziner nun Präventivmaßnahmen: umfassende Vorsorge.

Auch in der Bundesrepublik -- täglich rund 400 Krebstote -- wurde 1971 ein gesetzlich verankertes Krebsvorsorge-Programm eingeführt. Einmal jährlich und kostenlos können sich danach

* Männer über 45 Jahre auf Krebs

des Mastdarms und der Prostata,

* Frauen über 30 Jahre auf Krebs der Scheide und des Muttermundes sowie Brustkrebs untersuchen lassen. Mit Parolen wie »Auch Krebs ist zu schlagen« ("Deutsche Krebshilfe") verbreiteten die Vorsorge-Propagandisten in den letzten Jahren stetig Zuversicht. Das Vorsorge-Angebot -- es gilt 9 Millionen westdeutschen Männern und 19,7 Millionen Frauen -- garantiere, so ein Behörden-Merkblatt, im Fall einer Krebsdiagnose »die Verlängerung eines lebenswerten Lebens«, ansonsten die »Verminderung der Sorge, an Krebs erkrankt zu sein

Zweifel am Nutzen des kostspieligen Programms kamen allerdings schon früh auf. Es treibe, so manche Kritiker, mit der Bezeichnung Vorsorge »Etikettenschwindel": Wirkliche Vorsorge, monierten sie, müsse auf Krebsverhütung aus sein -- also das Ziel verfolgen, etwa krebsauslösende Substanzen in der Umwelt aufzuspüren und auszuschalten und die Bevölkerung über solche Risiken rückhaltlos aufzuklären.

Tatsächlich ermöglicht das Bonner Vorsorge-Programm lediglich Krebs-Früherkennung, und auch das -- Punkt zwei der Kritik -- nur für wenige, eher willkürlich ausgewählte Krebsarten. Beauftragt sind mit der Durchführung des Programms allein die ohnehin überlasteten niedergelassenen Ärzte -- was, drittens, nach Ansicht vieler Fachleute obendrein die Qualität der Diagnostik mindert: Kein Wunder, meinen sie, daß bislang stets nur 30 Prozent der betroffenen Frauen und höchstens 10 bis 17 Prozent der Männer die Gratis-Untersuchung in Anspruch nahmen.

Unangefochten blieb trotz allem bis noch vor kurzem die Annahme, daß jede Krebserkrankung desto eher erfolgreich behandelt werden könne, je früher sie erkannt worden sei -- ein Grundsatz, der durch die Überlebensstatistiken frühzeitig behandelter Krebskranker gesichert schien.

in jüngster Zeit jedoch wuchs der Verdacht, daß die Zahlen der Statistiker trügen; sie enthalten, wie das Fachblatt »Medical Tribune« argwöhnte, womöglich einen »schweren Denkfehler": »Ein durch Früherkennung vorverlegter Zeitpunkt der Diagnosestellung wird als verlängerte Lebenszeit verkauft.«

Zuvor schon hatten norwegische Forscher eine deprimierende Studie vorgelegt. Sie wiesen darin nach, daß bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, die seit nunmehr zehn Jahren an einem Programm zur Früherkennung teilnimmt, die Krebssterblichkeit ebenso hoch liegt wie bei der übrigen Einwohnerschaft des Landes.

»Das heißt: der Nachweis der Effektivität steht aus«, so urteilte die westdeutsche »Ärztliche Praxis« über die bisherigen Früherkennungsmaßnahmen: Mit den derzeitigen Methoden. die zudem allenfalls jeden fünften Krebsfall aufdecken, könne wohl auch in Zukunft kein Fortschritt erzielt werden.

»Die gepredigten Früh- oder Warnzeichen des Krebses sind in Wirklichkeit Spätsymptome«. konstatierte der Berliner Tumor-Forscher Professor Heinz Oeser. Deshalb komme die gängige, grobe Diagnostik bei der Krebssuche fast immer zu spät-und zweifellos, so die Heidelberger Medizin-Professorin Maria Blohmke, würden derzeit »sehr viele Karzinome im Frühstadium übersehen«.

Experten wie der Hannoveraner Sozialmediziner Professor Manfred Pflanz und der Kasseler Radiologe Professor Ernst Krokowski (siehe Seite 209) fordern denn auch eine Revision der Vorsorge-Strategie. Die beiden Wissenschaftler plädieren vor allem für verfeinerte Diagnoseverfahren und eine strikte Erfolgskontrolle.

Krokowski möchte überdies verbindliche Kriterien für eine sinnvolle Früherkennung durchsetzen. Nach seiner Ansicht sollten künftig Programme zur Frühdiagnostik

* auf die bei Männern und Frauen jeweils häufigsten Krebsarten konzentriert sein,

* »technisch, personell und finanziell praktikabel« und auch für »die gesunde Person zumutbar« bleiben

* und schließlich vor allem jene Tumorarten einbeziehen, bei denen »die Therapie Aussicht auf Heilung« verspricht.

Wo die Behandlung keine Chance biete, meint Krokowski, nütze letztlich »die schönste Diagnostik« nichts -- eine Überlegung, die offenbar viele Bundesbürger Früherkennungsmaßnahmen meiden läßt: Fast jeder zweite, so ergaben Umfragen, ist der Überzeugung, daß Krebs bislang nicht oder nur in seltenen Fällen geheilt werden kann.

Zur Ausgabe
Artikel 54 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten