BELGIEN Kein Entweichen
In der Eingangshalle des Brüsseler Krankenhauses Saint Pierre verschwanden die Aschenbecher. Im Zentralbahnhof wurden die Fahrgäste über Lautsprecher aufgefordert, sich auf den Bahnsteigen keine Zigarette anzustecken. In den Polizeirevieren, bei der Post und in den Rathäusern mußten Angestellte im Eilverfahren so viele Verbotsschilder mit einer rot durchstrichenen Zigarette montieren, daß die Händler mit der Lieferung nicht nachkamen.
Seit vorigen Dienstag hat Belgien als erstes Land der EG das Rauchen in überdachten öffentlichen Räumen verboten. Wer sich dort beim Qualmen erwischen läßt, muß mit einer Buße zwischen 75 und 900 Mark rechnen.
In den öffentlichen Verwaltungen gibt es für die Angestellten im Großraumbüro noch nicht einmal mehr ein zeitweiliges Entweichen zwecks Zigarettenpause auf die Toiletten. Selbst dort verstößt das Paffen gegen das Gesetz.
Nikotinsüchtige müssen sich künftig gut überlegen, von welchem Bahnhof sie abfahren.
Im Antwerpener Haupt- und im Brüsseler Zentralbahnhof darf nicht, in Brüssel-Süd und -Nord darf immerhin auf den Bahnsteigen gequalmt werden, weil sie offen sind.
So manches an dem königlichen Erlaß vom 1. September stiftete Verwirrung; zum Beispiel die Frage, ob Läden öffentliche oder private Räume seien. Gesundheitsstaatssekretärin Wivina Demeester mußte ständig detaillierte Erläuterungen nachschieben:
Privatbanken zum Beispiel seien nicht betroffen, für öffentliche Kreditanstalten und Sparkassen hingegen gelte das Verbot. Nur wenn die Bankbeamten untereinander Einvernehmen erzielen und hinter hermetisch abgeschlossenen Scheiben sitzen, dürfen sie sich schon mal einen Glimmstengel anzünden. Die Kunden vor dem Schalter aber nicht.
Die Regierung will mit den drastischen, wenn auch vielfach ungereimten Maßnahmen ihren Bürgern zur Zwangsentwöhnung verhelfen. Denn nach den Dänen haben die belgischen Raucher den höchsten Tabakkonsum pro Kopf in Europa, trotz teurer Aufklärungskampagnen sind immer noch 32 Prozent Gewohnheitsraucher.
Einwände gegen das Gesetz erhob nur der Finanzminister; schließlich verdient der belgische Staat jährlich 1,7 Milliarden Mark an dem Laster seiner Bürger. Und 27000 Menschen verdanken Herstellung und Verkauf des Tabaks ihren Arbeitsplatz.
Doch im Kabinett setzte sich Wivina Demeester mit ihren Argumenten durch: Etwa 13000 Menschen sterben in Belgien jährlich an den Folgen der Sucht, Abertausende leiden an Gefäßerkrankungen und chronischer Bronchitis. Leichtfertig weggeworfene, glühende Kippen verursachten 1984 zwölf Prozent aller Brände in Brüssel. Die sozialen Kosten des schädlichen Genußmittels seien, so Frau Demeester, viel höher als die wirtschaftlichen Vorteile.
Daß sich jetzt ausgerechnet Belgien in der EG zum Vorreiter im Kampf gegen diese Form von Luftverschmutzung machte, ist verblüffend. Denn beim Gesundheits- und Umweltschutz ist Deutschlands Nachbar alles andere als Spitze.
Industrieabgase verpesten regelmäßig den Brüsseler Himmel, die Schelde trägt zur Empörung der Niederländer ungereinigte Chemieableitungen aus Antwerpen in die Nordsee. In 800 Mülldeponien werden in Wallonien hochgiftige Abfälle, auch aus der Bundesrepublik, unkontrolliert abgeladen. EG-Richtlinien für den Schutz des Grundwassers aus dem Jahre 1979 wurden bisher noch nicht umgesetzt. Auch bei der Beseitigung von Altöl, PCB-haltigem Industriemüll und Titanabfällen mißachtet Belgien die Vorschriften der Gemeinschaft.
An der Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt wird sich deshalb auch durch die neuen Antiraucher-Schilder wohl nicht viel ändern. Denn penible Gesetzestreue und Autoritätsgläubigkeit haben in diesem Zehnmillionenvolk, dessen Mentalität am besten als kleinbürgerlicher Anarchismus beschrieben werden kann, wenig Tradition. Die Belgier haben es schon immer verstanden, unbequeme Gesetze zu umgehen und die staatliche Bürokratie (vor allem den Fiskus) einfach auszutricksen.
»Keine Angst vor der Polizei«, beruhigte denn auch die Brüsseler Zeitung »Le Soir« ihre rauchenden Leser nach einer schnellen Telephonumfrage bei der Gendarmerie. Die beabsichtigt offensichtlich vorerst nicht, Jagd auf renitente Raucher zu machen. Aber: »Mißtraut den Denunzianten, den Kollegen im Büro - allein von daher droht Gefahr.«