»Kein Herz für Inder«
Die Männer vom Frankfurter Stadtentwässerungsamt fuhren an einem ihrer Tankwagen letzte Woche eine politische Parole spazieren: Durch den Austausch eines Buchstabens war aus dem populären Aufkleber »Ein Herz für Kinder« der Slogan »Kein Herz für Inder« geworden.
Was offenbar Ausländer-raus-Stimmung signalisieren sollte, kennzeichnet zugleich die Haltung westdeutscher Behörden und Gerichte gegenüber der mittlerweile fünftgrößten Gruppe von Asylbewerbern: Von den mehr als 10000 Indern, die in den letzten Jahren Aufnahme in der Bundesrepublik begehrt haben, ist bislang nicht ein einziger als politisch Verfolgter akzeptiert worden - Anerkennungsquote: 0,0 Prozent.
Trotz des Negativ-Rekords reißt der Zustrom der Asylbewerber vom südasiatischen Subkontinent nicht ab, im Gegenteil: Die Zahl der Asylanten aus Indien, vor allem Sikhs, hat sich in den letzten Jahren vervielfacht.
1984, als sich die Kämpfe zwischen radikalen Hindus und Sikhs zuspitzten, als Militär den Goldenen Tempel der Sikhs in Amritsar stürmte und Ministerpräsidentin Indira Gandhi ermordet wurde, meldeten sich 1083 Asylbewerber. Im vergangenen Jahr waren es, obwohl sich die Lage mittlerweile beruhigt hatte, schon viermal so viele, und seit Beginn dieses Jahres sind bereits mehr als 5000 gekommen.
Den Zulauf der Immigranten aus Indien erklären bundesdeutsche Asylprüfer unter anderem mit der Verschärfung der Londoner Einwanderungsbestimmungen für Bürger aus ehemals britischen Kolonien (SPIEGEL 37/1986): Schlepperorganisationen lenken, wie Oberregierungsrat Armin Espert vom Zirndorfer Bundesamt beobachtete, die Ausreisewilligen nun verstärkt nach Westdeutschland.
Flüchtlingsexperten halten die Zuwanderer aus Indien für typische Scheinasylanten, die nur auf Sozialhilfe und Schwarzarbeit aus seien. Der Status eines Asylbewerbers ist für die Zuwanderer in der Tat verlockend. So hat ein Inder, errechnete Stefan Jacob, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verwaltungsgericht Wiesbaden, als Sozialhilfeempfanger in Deutschland »das Doppelte von dem, was ein Lehrer zu Hause bekommt«.
Die Zahl der Sikhs, die meist ihren traditionellen Bart und Haarschopf scheren, um unauffällig und glattrasiert in Europa Asyl zu suchen, steigt - paradoxerweise - auch deshalb, weil die Volksgruppe im heimatlichen Pandschab an politischem Einfluß gewonnen hat: Seit die Sikh-Partei Akali Dal in diesem Bundesstaat regiert, kommen dort Sikhs aus allen Teilen Indiens einfacher und unbürokratischer an Ausreisedokumente als etwa in Delhi.
Nach Deutschland drängen vor allem solche Sikhs, die außerhalb des Pandschab gelebt haben und denen es unter den Hindus nicht mehr behagt. Denn nach den Unruhen 1984 haben viele Sikhs ihre Jobs in den Großstädten verloren, und von ihren Hindu-Nachbarn werden sie schnell als Terroristen abqualifiziert.
Zwar könnten die meisten der über ganz Indien verstreut lebenden Sikhs zurück zu ihren Verwandten in den Pandschab gehen. Doch weil die Sikhs dort größtenteils in der Landwirtschaft arbeiten, liegt den Städtern dieser Ausweg nicht. Weil überdies die lukrativen Jobs für Inder und andere Asiaten in den Golfstaaten seit dem großen Ölpreisverfall rar sind, ist Europa immer attraktiver geworden.
Die russische Fluggesellschaft Aeroflot kann in Indien Tausende von billigen Passagen nach Ost-Berlin und in andere europäische Städte verkaufen. Weil die DDR Bonn bis vor kurzem nur zugesagt hatte, keine Tamilen mehr in die Bundesrepublik weiterreisen zu lassen, von Sikhs bei dieser Übereinkunft aber keine Rede war, führte für sie der bequemste Weg in den Westen bisher über Ost-Berlin.
In der Bundesrepublik machen sich die meisten Antragsteller aus Indien gar nicht die Mühe, die Gefahr politischer Verfolgung in der Heimat überzeugend darzustellen. Zirndorfer Beamte haben den Eindruck gewonnen, die Einwanderer wollten nur Zeit schinden: »Die Qualität der Begründungen wird immer schlechter«, sagt Espert, die Angaben seien »pauschal gehalten, unglaubhaft und widersprüchlich«.
Der Sikh Gursbej Singh etwa gestand den Zirndorfer Asylprüfern, daß er von der Akali Dal, der Partei der Sikhs, »keine Ahnung« habe. Und vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hielt es Singh, wie ihm die Richter ins Urteil schrieben, »nicht für nötig«, seine Fluchtgründe näher zu erläutern. Dem Verwaltungsgericht drängte sich damit die Abweisung der Asylklage »geradezu auf«.
Sein Landsmann Nishan Singh stellte sich erst gar nicht der Anhörung durch das Bundesamt, focht aber den ablehnenden Bescheid an. Auch zum Termin vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden kam Nishan Singh trotz persönlicher Ladung nicht. Die Richter zogen den Schluß, daß der Kläger zu seinem angeblichen Verfolgungsschicksal »Einzelheiten nicht schildern kann, weil sie sich nicht ereignet haben«.
Sofern Asylbewerber aus Indien überhaupt politisch argumentieren, erinnern sie an den Religionskrieg im Pandschab, der 1984 nach der Ermordung Indira Gandhis eskalierte. Nach dem Eingreifen des Militärs und brutalen Racheakten an Sikhs sahen vorübergehend auch westdeutsche Verwaltungsgerichte erster Instanz die Gefahr einer politischen Verfolgung.
Das Verwaltungsgericht Ansbach etwa urteilte letztes Jahr, wer zu den Anhängern der Sikh-Homeland-Bewegung zählt, die einen unabhängigen Staat Khalistan anstrebt, habe nach seiner Rückkehr »Intensiv-Verhöre und Folterpraktiken zu befürchten«.
Diese Einschätzung der Lage hatte allerdings nicht lange Bestand. Vier Monate später hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das anerkennende Urteil mit der Begründung auf, die indische Staatsgewalt sei inzwischen »den blutigen Ausschreitungen gegen Sikhs ... wirksam entgegengetreten«. Eine »Wiederholung blutiger Gewalttaten«, urteilte das Gericht unter Berufung auf ein Gutachten des Auswärtigen Amtes, erscheine »sehr unwahrscheinlich«.
Der Verwaltungsgerichtshof Kassel hält der indischen Regierung unter Rajiv Gandhi nunmehr auch zugute, daß sie den gemäßigten Sikhs »in wesentlichen Punkten politische Zugeständnisse gemacht« habe. Daß im September letzten Jahres im Pandschab gewählt werden konnte und die Sikh-Partei seitdem die Regionalregierung bildet, zeige, lobte das Gericht, wie »die indische Regierung die anstehenden Probleme mit demokratischen Mitteln lösen will«.
Zwar gibt es nach Ansicht oberer Verwaltungsgerichte terroristische Anschläge extremer Sikhs, die sich nicht nur gegen die Hindus, sondern auch gegen gemäßigte Glaubensbrüder richten und denen nach Mitteilung des Auswärtigen Amtes vom Juli »fast täglich mehrere Menschen zum Opfer fallen«. Doch diese Attentate seien, so die Kasseler Richter, keine »dem indischen Staat zurechenbaren Übergriffe«. Und falls radikale Sikhs, zum Beispiel wegen terroristischer Taten, vom indischen Staat verfolgt würden, dann geschieht das nach Ansicht des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes aus strafrechtlichen, nicht aber aus politischen Gründen.
Bislang haben sich die Asylbewerber aus Indien den deutschen Prüfern ohnehin allenfalls als Mitläufer der Homeland-Bewegung zu erkennen gegeben, nicht aber als führende Mitglieder. Und: Jeder dritte Asylantrag von Indern erledigte sich in diesem Jahr von selbst, weil die Bewerber ihn nicht weiter betrieben. Vom Rest schmetterte das Bundesamt rund neunzig Prozent sogleich als »offensichtlich« unbegründet ab.