KEIN MEILENSTEIN DER STEUERGESCHICHTE
Von Professor Dr. Karl Bräuer, Präsidenten des Bundes der Steuerzahler
Seit über vier Jahren war der Bundesrepublik eine tiefgreifende, eine organische Steuerreform versprochen worden. Es ist kein Zweifel, daß die Bundesregierung durch die jetzt von Herrn Schäffer vorgelegten Entwürfe dieses Versprechen nicht eingelöst hat.
Der Bundesfinanzminister bezeichnet in seiner Erklärung vor dem Bundestag eine Überprüfung unserer gesamten Steuergesetzgebung als eine Notwendigkeit: »Es soll für eine menschlich voraussehbare Zeit eine steuerliche Stabilität gewonnen werden, ohne diese Stabilität zu einem Hindernis und einer Fessel des wirklichen Lebens werden zu lassen.«
Wahrhaft goldene Worte, die jedem Finanzminister Ehre machen! Wer denkt dabei nicht an die großartigen Steuerschöpfungen von Popitz 1925 und dessen Wort von einer »relativen Ewigkeit« eines guten Steuergesetzes? Allein, wie sieht es in dieser Beziehung mit den Gesetzesvorlagen von 1954 aus? Die Finanzgeschichtsschreibung wird einmal darin keinen Meilenstein sehen, keinen Ausgangspunkt für schöpferische Neugestaltung einer unmöglich gewordenen Steuerverfassung, die den Namen eines Systems nicht mehr verdient. Von einem wirklichen System kann man doch nur dort sprechen, wo in einer Steuerverfassung die bestehenden Steuerformen aufeinander abgestimmt sind und sich in sinnvoller Weise ergänzen. Was wir haben, ist ein systemloses Gewirr von sich gegenseitig überlagernden, einander widersprechenden, teilweise entarteten Steuerformen, in die doch zunächst einmal Ordnung gebracht werden muß.
Nicht weniger als fünfzig verschiedene Steuerarten von sehr verschiedenem Rang werden auf die armen Staatsbürger losgelassen. Die sechs größten unter den Steuern bringen über 76 Prozent des Gesamteinkommens ein; der Rest verteilt sich über vierzig verschiedene Steuern, die kleinsten von ihnen haben einen Ertrag von nur einer Million Mark. Wäre es da nicht eine dankbare Aufgabe, einmal mit dem eisernen Besen zu kehren und alle die Bagatellsteuern, die Zwergsteuern wegzufegen, bei denen der Rohertrag durch die Erhebungskosten ganz oder zu einem großen Teil aufgezehrt wird? Von der Vermögens- und Vergnügungssteuer, der Aufsichtsrats- und Kapitalertragssteuer, der Lotteriesteuer, der Versicherungssteuer, der Getränkesteuer, der Wechsel-, Stempel-, der Zündwarensteuer, der Grunderwerbs-, Erbschafts-, Hunde- und Teesteuer bringt keine mehr als 0,5 Prozent des Gesamtaufkommens. Dreizehn weitere Steuern noch nicht einmal zusammen 0,5 Prozent.
Wie sagt nun Herr Schäffer? Von einer grundlegenden Änderung und einem grundlegenden Umbau unseres Steuersystems soll abgesehen werden. Das ist wohl der Hauptgrund für die tiefe Enttäuschung, die die Regierungserklärung über die Steuerreformvorlage in der Öffentlichkeit hervorgerufen hat. Nur kleine Korrekturen erfahren das Wohnungsbau-Prämiengesetz, die Erbschaftssteuer und die Umsatzsteuer. Alles konzentriert sich auf die Einkommensteuer und innerhalb dieser auf die Probleme Steuertarif, Freibeträge und Beseitigung von Steuervergünstigungen. Das also ist des Pudels Kern. Kein Wort von einer Stellungnahme zur vieldiskutierten Betriebssteuer, das heißt der unterschiedlichen Besteuerung von Einkommen und von Betriebsertrag, kein Wort zu dem brennend wichtig gewordenen Problem der Netto-Umsatzsteuer, zur Frage der Berechtigung der Gewerbesteuer zum Problem Branntwein-Monopol oder Verbrauchssteuer und anderes mehr. Eine »Steuerreform«, die davon ausgeht, daß das bestehende Steuersystem durchaus in Ordnung sei, daß es nur von den anhaftenden Schlacken gereinigt werden müsse, verdient wohl kaum diese Bezeichnung.
Weit zutreffender wäre es gewesen zu sagen: »Wir sehen gegenwärtig keine Möglichkeit zu einer grundlegenden Neugestaltung unserer Steuerverfassung, erkennen aber deren Notwendigkeit unbedingt an. Was wir gegenwärtig vermögen, ist nur das Herausgreifen des Kernstücks der Tarifsenkung bei der Einkommen- und Körperschaftssteuer und die damit zusammenhängenden Fragen der Steuervergünstigungen. Wir betrachten aber die vorgeschlagene Regelung nur als ein Teilstück zu einer grundlegenden wirklichen Reform, der wir mit allen Kräften zustreben.« Diese Sprache hätte jedermann verstanden. Wenn man aber mit dieser »Pseudoreform« glaubt, »für eine menschlich voraussehbare Zeit« stabile Verhältnisse zu schaffen, dann ist man eben von der Wirklichkeit weit entfernt.
Zunächst ist beabsichtigt, das Notopfer Berlin beizubehalten. Kein Wort ist nötig über die Notwendigkeit, dieser unglücklichen Stadt, die für uns geradezu ein Symbol geworden ist, finanziell jede auch nur denkbare Hilfe zuteil werden zu lassen. Es ist aber doch erlaubt, die Frage zu erheben, warum diese Hilfe nicht aus allgemeinen Bundesmitteln geleistet werden kann. In den vergangenen Jahren ist uns immer versichert worden, es handele sich nur um eine Übergangsmaßnahme, die so bald wie möglich wieder verschwinden müsse.
Tatsächlich ist dieses Notopfer nichts anderes als eine, allerdings recht grob ausgestaltete, zweite Einkommensteuer. Das noch vom bizonalen Wirtschaftsrat eingeführte Notopfer wurde im Jahre 1949 dreimal, 1950 zweimal, in den Jahren 1952 und 1953 je einmal geändert. Trotz dieser Änderungswut sind die Härten (Verweigerung des Jahresausgleichs für die Arbeitnehmer), ist die Unzweckmäßigkeit der Erhebung durch die blaue Notopfermarke bestehengeblieben.
Den Einbau des Notopfers in die Einkommen- und Körperschaftssteuer lehnte Herr Schäffer ab mit dem Hinweis darauf, daß dann ja 60 Prozent den Ländern zufielen. Warum soll aber die Unterstützung Berlins aus allgemeinen Steuermitteln nicht möglich sein, da ihre Höhe ohnedies nicht identisch ist mit dem Aufkommen des Notopfers Berlin? Warum bedarf es weiter eines kostenfressenden Umweges über eine gesonderte Abgabe mit zahlreichen Durchführungsverordnungen, Ausführungsanweisungen, Formularen, Notopfermarken, deren Herstellung und Vertrieb doch auch wieder Ausgaben verursachen, ganz abgesehen davon, daß sie von der ganzen Bevölkerung als eine durchaus vermeidbare Belästigung empfunden werden?
Es wäre undankbar und ungerecht, zu verkennen, daß die von Herrn Schäffer vorgeschlagene Senkung des Einkommen- und Körperschaftstarifs ein großer Fortschritt ist. Wenn sie auch die Beschränkung des höchsten Durchschnittssatzes der Einkommensteuer auf 50 Prozent, wie sie der Bund der Steuerzahler gefordert hatte, noch nicht bringt, sondern die Progression bei 55 Prozent enden läßt, so ist doch der Fortschritt unverkennbar. Daß dabei die Steuervergünstigungen bis auf geringe Ausnahmen fallen müssen, ergibt sich daraus, daß sie ja Geschöpfe der Not waren, um gegenüber dem barbarischen, konfiskatorischen Tarif die Wirtschaftsbetriebe vor dem Zusammenbruch zu bewahren und den Wiederaufbau zu ermöglichen. Aber ihre Beseitigung wird doch zur Wirkung haben, daß nicht wenige Steuerpflichtige, die vorher die Vergünstigungen erheblich in Anspruch genommen haben, jetzt - trotz der Tarifsenkung - eine höhere Steuerlast tragen müssen als zuvor.
Herr Schäffer rechnet nun aus, daß durch die Tarifsenkung auch unter Berücksichtigung des Wegfalls der Vergünstigungen ein Minderaufkommen von 2,3 Milliarden Mark entstehen wird. Diese Angabe steht in unvereinbarem Widerspruch zu den sehr sorgfältigen Untersuchungen des Instituts für Wirtschaftsforschung in München (Ifo). Dieses hat festgestellt, daß wir, wenn wir bei dem inzwischen gestiegenen Volkseinkommen von 1952 die gleichen Steuersätze anwenden würden, wie sie 1937 bestanden, ohne die später entstandenen Vergünstigungen abzusetzen, statt der tatsächlich 6,6 Milliarden erzielten Steuern auf veranlagte Einkommen etwa 8,2 Milliarden einnehmen würden. Hier stimmt anscheinend etwas nicht ganz in der Rechnung des Herrn Schäffer.
Heute bezahlt der bundesdeutsche Steuerzahler nebeneinander folgende Steuern vom Einkommen bzw. Ertrag:
* Einkommen-, Lohn-, Körperschaftssteuer,
* Abgabe Notopfer Berlin,
* Kirchensteuer,
* wenn er einen Gewerbebetrieb betreibt, Gewerbe-Ertragssteuer. Dazu käme dann noch das fünfte;
* Der neue Schäffersche Bundeszuschlag auf Einkommen- und Körperschaftssteuer in Höhe von 2½ Prozent.
Aber angeblich ist das Steuersystem ganz in Ordnung. Es müssen nur die Steuerformen etwas geändert werden. Man tut so, »als ob« die anderen Steuerleistungen gar nicht da seien. Richtiger gesagt: Es bleibt also ziemlich alles beim alten. Es besteht weiter die schwere Bürde des Lastenausgleichs, dieser Generalhypothek auf die deutsche Wirtschaft und den Vermögensbesitz vom 21. Juni 1948, an der nicht zu rütteln ist.
Die übrigen wohlbekannten Gesamtlasten werden in ihren Druckwirkungen nicht um ein Jota verändert, die Umsatzsteuer wird für den Großhandel noch um einen halben Prozent erhöht mit der Begründung, daß diese zusätzliche Last entweder von den beteiligten Steuerbelasteten weitergewälzt oder abgefangen, das heißt, wirtschaftlich selbst nicht getragen werden könne.
Wo bleibt die versprochene Vereinfachung des Wirrwarrs der Steuergesetzgebung, durch den selbst Spezialisten oft nicht mehr hindurchfinden, wo bleibt die Ausrodung des förmlichen Urwalds an Gesetzen, Verordnungen, Ausführungsbestimmungen, Erlassen usw., die dringend notwendige Entrümpelung der Gesetzgebung? Die »Steuerpolitik« des Als-Ob, das heißt des So-Tun, als ob außer Einkommen- und Körperschaftssteuer gewissermaßen andere Lasten zurücktreten, entspricht nicht der wahren Situation. Man mag die Steuervergünstigungen - bis auf geringe Reste - streichen, sie waren für viele ein wahres Danaergeschenk, da ihre Gewährung an den Nachweis einer ordnungsgemäßen Buchführung geknüpft war.
Die Schäfferschen Entwürfe wandern nun in die Maschine der Gesetzgebung. In welchem Umfang Widerstände auf seiten des Bundesrats ausgelöst werden oder wieweit man sich schon in Grundsatzfragen mit dem Bundesrat abgestimmt hat, bleibe dahingestellt. Jedenfalls steht nun der Bundestag vor einer schweren Verantwortung, und seine Abgeordneten mögen nicht vergessen, was hinsichtlich einer grundlegenden Steuerreform vor dem Wahltag am 6. September versprochen worden ist. Wie auch der jetzt in Gang kommende Kampf um die Finanz- und Steuerreform aussehen mag: Die Steuerzahler werden diese Reform nicht als ein Endziel betrachten können, sie wird nur eine Etappe auf dem Wege zu einer »organischen Neugestaltung« unserer westdeutschen Finanz- und Steuerverfassung sein.