Rudolf Augstein KEIN PLAN FÜR EUROPA, KEINER FÜR DEUTSCHLAND
Die Bundesregierung habe einen Standpunkt, aber keine Politik, auf diesen kurzen Nenner hat ein auswärtiger Beobachter Bonns außenpolitische Bemühungen zurückgeführt. Nach der Regierungserklärung des zweiten Kabinetts Erhard wird man die Politik immer noch vergebens suchen, während der Standpunkt verwässert und gefestigt zugleich erscheint.
An wolkigen Vorsätzen ist kein Mangel. Aber die Richtung wird nicht klar. Nach- wie vor weigert sich die Bundesregierung, zwei Fragen zu untersuchen, die in den verbündeten Ländern längst beantwortet worden sind:
- Resultiert die militärische Spannung in Europa aus dem Willen der Sowjets, ihren Einflußbereich auszudehnen, oder aus dem Willen, ihren Einflußbereich zu halten?
- Gibt es einen anderen Weg, die Verhältnisse in den kommunistischen Ländern Osteuropas zu bessern, als den der Zusammenarbeit mit den kommunistischen Regierungen?
Würde die Bundesregierung zugeben, daß die Bundesrepublik als solche nicht bedroht wird, so würde sich das militärische Problem auf seinen tatsächlichen Kern - das Kräftemessen in und um Berlin - reduzieren. Verhandlungen über ein System der europäischen Sicherheit, über Berlin, über Rüstungsverminderung auf beiden Seiten würden möglich. Das kann Bonn nicht zulassen, denn in den Hinterstuben der christlichen Kerntruppe wird der verfaulte Gedanke, die Sowjets mittels Rüstungsdrucks doch noch zu vertreiben, poliert und gehätschelt.
Würde die Bundesregierung andererseits zugeben, daß sie keinen eigenen Weg sieht, die Verhältnisse östlich der Elbe zu bessern, so wäre sie gezwungen, entweder mitzumachen, was Amerikaner und Franzosen probieren, oder entgegen allem Anschein zu behaupten, daß die Verhältnisse nicht gebessert werden können. Denn daß sie, nach dem Willen vieler Hintermänner und -Frauen, nicht gebessert werden sollen (Franz Amrehn: »Die Wunde offenhalten"), kann die Regierung nicht wohl zugeben.
Man mache sich nur gehörig klar, daß alle vier Parteien des Bundestages, den Gesamtdeutschen Minister Mende und den Oppositionsführer Erler eingeschlossen, ein Protestgeschrei anstimmen, wenn westliche Länder mit der DDR Geschäfte machen und in Leipzig ausstellen. Man mache sich klar, welches Übermaß an verdrängter Schuld hier unter dem Bewußtseins-Spiegel rumort, da wir doch die sogenannten »Brüder im Osten« zwischen 1946 und 1953 nicht eilfertig genug ihrem argen Schicksal überantworten konnten. Das war nicht Adenauers Equipe allein, das waren wir.
Während die westdeutsche Bevölkerung die Segnungen des Marshall -Planes einsog, leistete man in der DDR Reparationen an Länder, die ärmer und von Hitlers Kriegen ärger zerstört waren als die Gebiete der westlichen Verbündeten. Wenn es keine Bananen und keinen Rosenkohl in der DDR gab, beklagte man hier das Los der Bewohner drüben. Aber soll es ihnen besser gehen, besser durch Handel, den sie anknüpfen, besser durch Fabrikausrüstungen, für die sie bezahlen? Nein, das darf nicht sein. Denn unsere Waffe gegen Ulbricht, der Interzonenhandel, wird dadurch stumpfer (als ob eine Steigerung noch möglich wäre).
Diplomatische Beziehungen zu Warschau, Prag, Budapest, Bukarest müßten eigentlich aufgenommen werden, die große Mehrheit des Bundestages ist dafür (Fritz Erler hat hier das instinktlose Wort vom »Minderjährigen-Strafrecht« gefunden, da diese Länder für ihre Beziehungen zur DDR gewissermaßen nicht voll verantwortlich seien). Aber die Regierungserklärung enthält darüber kein Wort. Der Anspruch auf Alleinvertretung könnte geschwächt werden, die zweite Waffe in einem angeblichen Kampf um Vereinigung der getrennten Landesteile.
Diese Waffe ist nicht stumpf, aber sie führt dem erstrebten Ziel so wenig näher wie die Atombombe. Da eine starke Minderheit die CDU/CSU blockiert, wird Polen, das unter Hitler mehr gelitten hat als irgendein anderes Land, nicht diplomatisch »anerkannt«.
Teils sind unsere Waffen stumpf, teils zu nichts nütze. Die Bundesregierung in Bonn weiß, daß alles Land, aus dem die Deutschen vertrieben worden sind, verloren ist. Aber sie will, zusammen mit der Opposition, friedlich um jeden Quadratmeter deutschen Bodens ringen. Das heißt: Nur die DDR schützt die östlichen Staaten vor deutscher Rück-Expansion. Sie hat als cordon sanitaire ihre internationale Funktion.
Wäre es der Regierung ernst mit der verkündeten Absicht, die östlichen Staaten vom Nutzen der Wiedervereinigung zu überzeugen, so wäre es geboten, ihnen ihre westlichen Grenzen zu bestätigen. Das geschieht nicht. Die Parteien wetteifern darin, auf den Friedensvertrag zu verweisen, von dem die Mehrheit der CDU/CSU sagt, er dürfe jetzt noch nicht kommen. So wird die DDR als das bestätigt, was sie vorerst auch ist: als unentbehrlich für den Frieden in Europa.
Mitglieder der Bundesregierung reagieren immer recht gekränkt, wenn man ihnen sagt, die Bundesregierung habe kein Konzept. Aber sie hat wirklich keins. Sie mag sich nicht entscheiden, ob sie den Bürgerkrieg fortsetzen oder einstellen, ob sie die Kommunisten als Verhandlungspartner oder als kriegslüsterne Eroberer behandeln soll. Sie macht den Russen jeden Gedanken an Rückzug aus Mitteleuropa unmöglich und beklagt sich doch unausgesetzt über deren Anwesenheit. Sie kämpft für die Abhängigkeit Ulbrichts von Moskau, um die Fiktion aufrechterhalten zu können, es stehe in Moskaus Belieben, die SED zu opfern.
Im Westen verzichtet die Bundesregierung verbindlich auf Gebiete, in denen Deutsche wohnen, im Osten schützt sie Gesamtdeutschland vor, um nicht auf Gebiete verzichten zu müssen, in denen Polen und Tschechen wohnen. Im Westen möchte die Kerntruppe der CDU/CSU mit Portugal und Spanien das größere Europa zimmern; im Osten verhindert sie das Gespräch mit der DDR, weil deren Regierung nicht frei gewählt ist. Mitbestimmung über Atomwaffen, friedliches Ringen um mehr Territorium, beide Forderungen in einer einzigen Regierungserklärung, und zur Illustration die Bundesminister Seebohm und Jaeger: Das wird künftig so wenig funktionieren wie bisher schon. Der Immobilismus der CDU/CSU wurde durch Erhards Wahlsieg Fleisch und sakrosankt.
Kein Land hätte im Falle eines Notstands, der mit den bisherigen Mitteln nicht behoben werden könnte, so wenig Chancen wie die Bundesrepublik. Aber kein Land ertüftelt mit solch verbissenem Perfektionismus immer groteskere Schutzvorrichtungen.
Angeblich will man die Freundschaft mit Frankreich. Aber unablässig bosseln die Minister Schröder und von Hassel denn es sind ja nicht nur die Katholiken - an Atomprojekten, die gegen elementare französische Interessen verstoßen. Die MLF-Geisterflotte spielt heute eine friedensfeindliche Rolle wie vor 1914 die Gleichberechtigungsflotte des Admirals Tirpitz (zwar wird sie von den deutschen »Gaullisten« abgelehnt, aber nur zugunsten einer noch unerreichbareren Chimäre: der deutschen Junior-Partnerschaft in de Gaulles Atom-Einsamkeit).
Wo immer die Bundesrepublik hochherzig einen Ballon internationaler Zusammenarbeit steigen läßt: Bei näherem Zusehen entpuppt er sich als ein Gefährt des Kalten Krieges, mit Embargo ("Handels-Koordinierung"), militärischem Druck ("keine Abrüstung ohne Fortschritte in der Deutschland-Frage"), atomarer Gleichberechtigung ("keine Nation zweiter Klasse") und Grenzrevision ("erst im Friedensvertrag").
Dem deutschen Jahrhundert-Schlachtruf nach »Gleichberechtigung« (Lübke, Adenauer, Gerstenmaier, Strauß) gesellt sich von SPD-Seite Wenzel Jaksch mit dem ausdrücklich beschworenen Gespenst der »Einkreisung« hinzu. Freilich, man wird uns einkreisen, oder, richtiger gesagt, »auskreisen«, wie man sich zu Wilhelms Zeiten gegen die deutschen Ansprüche auf mehr »Platz an der Sonne« und auf mehr »Lebensraum in Europa« zusammengetan hat. Was die Bundesregierung als ihr mitteleuropäisches Konzept ausgibt, damit kann man nicht arbeiten; allenfalls kann man es, hoffend auf den heilenden Einfluß der Zeit, verkümmern lassen.
Was tun, angesichts einer Stagnation, die sich für Bedrohtheit ausgibt und die »Krieg!« ruft, wenn sie »Schlaft weiter!« meint? Alle noch nicht vom Tabu gelähmten Kräfte müssen, wie der Frosch, der in die Milchsatte fiel, weiter strampeln, damit das rettende Eiland eines tragfähigen Regierungskonzepts nicht zu spät, zu spät für uns alle, erbuttert wird. Pinscher, hört die Signale!