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»Kein seltenes Ereignis«

Mißbildungen durch Strahlen, Viren und chemische Substanzen *
aus DER SPIEGEL 24/1984

Als besonders schwere Heimsuchung haben es Menschen seit jeher empfunden, wenn ihnen schwer mißgebildete Kinder geboren wurden. 2,2 von jeweils 1000 Neugeborenen, so derzeit der statistische Durchschnitt, kommen mit schweren äußerlich sichtbaren Mißbildungen zur Welt, hirnlos oder mit einem Wasserkopf, mit Gaumen- oder Rachenspalten, mit Hüftgelenkschäden, Klumpfuß oder mongoloid.

Als wundersames, schlimmes Vorzeichen wurden Mißgeburten früher gedeutet, auf zahlreichen Flugschriften seit dem 15. Jahrhundert sind sie als gottgewolltes Unheil erwähnt. Besonders bei Zyklopie, einer im Tierreich häufigen, bei Menschen seltenen (nicht lebensfähigen) Abweichung, bei der das Neugeborene mit nur einem Auge in der Mitte der Stirn zur Welt kommt, wähnte man überirdische Mächte am Werk.

Mittlerweile ist klar, daß Schädigungen oder Anomalien der Erbanlagen und die Einwirkung von Schadstoffen während der Schwangerschaft die Hauptursache von Mißbildungen sind. Ein ganzer Wissenschaftszweig, die Teratologie, _(Teratologie: von griechisch teratos = ) _(Mißbildung. )

hat in den letzten Jahrzehnten versucht, die näheren Umstände aufzuhellen.

Dabei kam auch zutage, daß eine abnorme Entwicklung von Embryos beim Menschen (anders als zum Beispiel bei Nagetieren) »kein seltenes Ereignis ist«, so der Berliner Toxikologe Diether Neubert: Etwa die Hälfte aller menschlichen Embryos sterben vor der Geburt ab, darunter »ein hoher Prozentsatz« von mißgebildeten Keimen.

Zum Guten und zum Schlechten hat die Wissenschaft im 20. Jahrhundert die Bilanz der Mißbildungen beeinflußt: Einerseits gibt es seit Anfang der 70er Jahre genetische Beratungsstellen. Bei zu hohem genetischen Risiko (etwa bei familiärer Belastung oder mit zunehmendem Alter der Eltern) wird dort von Schwangerschaften abgeraten; bei bereits bestehender Schwangerschaft können Fruchtwasseruntersuchungen Hinweise auf mögliche Mißbildungen liefern.

Andererseits hat eine Vielzahl neuer Medikamente und Chemikalien neue Gefahren für das Ungeborene in die Welt gebracht - der Fall Contergan, mit weltweit mehr als 10 000 Opfern, war ein erschreckendes Alarmsignal.

Daß das Kind im Mutterleib durch äußere Einwirkungen wie Strahlen oder Viren geschädigt werden könnte, war damals, Anfang der 60er Jahre, schon bekannt. Die Folgen des Atombombenabwurfs über Hiroschima waren allzu deutlich: Zwei Drittel der überlebenden Frauen, die zum Zeitpunkt der Explosion zwischen der 8. und 15. Woche schwanger waren und eine Strahlendosis von mehr als 100 rem erhalten hatten, brachten schwerbehinderte Kinder zur Welt.

Wenn die Mutter sich während der Schwangerschaft mit Röteln-Viren infiziert, ist das Risiko einer Mißbildung gleichfalls hoch. Eine Röteln-Epidemie zog 1964/65 in den Vereinigten Staaten rund 20 000 Fälle von Mißbildungen nach sich; unter den Kindern der an Röteln erkrankten Mütter waren beispielsweise über 8000 Gehörlose, 3600 Taubblinde und 1800 geistig Behinderte. Durch die (seit 1969 mögliche) Impfung gegen Röteln ist diese Viruserkrankung in den USA mittlerweile fast ausgerottet.

Ganze vier oder fünf Teratogene - Stoffe, die Mißbildungen auslösen können - waren den Wissenschaftlern noch um 1960 bekannt. 1984 zählen die Forscher schon mehr als 30 solcher Faktoren - in den meisten Fällen ist der genaue Wirkmechanismus noch unbekannt.

Zu den am weitesten verbreiteten Teratogenen gehört Alkohol. Vor allem im ersten Drittel der Schwangerschaft kann Alkohol, von der Schwangeren genossen, zur sogenannten Alkohol-Embryopathie führen. Das Kind kommt mit typisch entstellten Gesichtszügen zur Welt. Bereits 60 Gramm reiner Alkohol, entsprechend drei großen Schnäpsen oder zwei Vierteln Wein, vermögen die Mißbildung hervorzurufen.

Solche Feststellungen räumten gründlich auf mit der Annahme, von der die Wissenschaftler bis zu Beginn der 60er Jahre ausgegangen waren: daß nämlich die Plazenta, der Mutterkuchen, eine schützende Barriere vor dem Ungeborenen bilde, von keinem Medikament oder Schadstoff zu durchdringen. Mittlerweile ist klar: Jedes Pharmakon kann, unter bestimmten Umständen, von der Mutter zum Kind gelangen.

Immer wieder gerieten in den letzten Jahren Medikamente in den Verdacht, schwere Mißbildungen hervorgerufen zu haben; nicht in allen Fällen bestätigte sich die Vermutung. Seit langem bekannt und unabänderlich ist die teratogene Wirkung von krebshemmenden Zellgiften (Zytostatika) - sie wird von den Ärzten bewußt in Kauf genommen.

Als einen Fall von »düsterer Ironie« hingegen (so das Ärztemagazin »Selecta") werten es die Mediziner, daß ausgerechnet ein Mittel, das ungeborenes Leben schützen sollte, sich als fruchtschädigend erwies: DES, ein Hormon zur Verhinderung von Fehlgeburten, löste im Gegenteil Fehlgeburten aus und führte zu schweren Schädigungen bei Kindern, die im Mutterleib der Substanz ausgesetzt waren: Viele Mädchen erkrankten in der Pubertät an Scheidenkarzinomen, bei männlichen Nachkommen zeigten sich Veränderungen an Genitalien. Seit 1977 darf DES nur noch zur Behandlung von Prostatakrebs verwendet werden.

Freigesprochen vom Verdacht der Teratogenität wurden die sogenannten

Spermizide, empfängnisverhütende Schäume und Schwämme. Und auch bei zwei Medikamenten, die wegen des Verdachts, sie würden Mißbildungen auslösen, vom Markt genommen wurden, haben sich die Befürchtungen nicht bestätigt: Für Lenotan (ein Mittel gegen Brechreiz während der Schwangerschaft) und für Duogynon (ein Hormonpräparat zum Schwangerschaftstest) hat sich ein Wirkungszusammenhang mit Mißbildungen nicht erhärten lassen.

Unklar ist die Situation bei bestimmten Epilepsie-Medikamenten: Die Wissenschaftler haben bislang nicht herausfinden können, ob letztlich die verdächtigten Mittel, die genetische Veranlagung des Kranken oder die Epilepsie-Erkrankung selber als Ursache für ein gehäuftes Auftreten von Mißbildungen in Frage kommen.

Der Fall ist typisch: Bei den meisten Teratogenen tappen die Wissenschaftler, was Wirkweise und Risikograd angeht, noch im dunkeln. Und: »Für die Mehrheit aller angeborenen Mißbildungen«, so das »New England Journal of Medicine« in einem Resümee, »sind die Ursachen noch unbekannt.«

Schwere Vorwürfe erhebt der Berliner Toxikologe Neubert: »Nach dem Thalidomid-Unglück«, der Mißbildungswelle nach Einnahme von Contergan, hätte man, meint Neubert, »erwartet, daß die verantwortlichen Behörden ... alle Anstrengungen unternommen hätten, systematische Beobachtungen beim Menschen auf diesem Gebiet zu initiieren«. Das Gegenteil sei der Fall. Häufig hätten Behörden solche Untersuchungen sogar »erschwert oder unmöglich gemacht«.

Tatsächlich wären die Ärzte, sollte es eine neue Mißbildungskatastrophe zu entdecken geben, wieder genauso auf Zufall und Glück angewiesen wie damals im Fall Contergan. Das Schlafmittel, 1957 rezeptfrei auf den Markt gebracht und rasch erfolgreich, blieb mehr als vier Jahre im Umlauf, ehe der Hamburger Mediziner Widukind Lenz und der australische Frauenarzt William McBride auf den möglichen Zusammenhang zwischen Mißbildungen und Contergan hinwiesen.

Rund 6000 Contergan-Opfer gab es in der Bundesrepublik, 2394 lebten noch - mit mehr oder weniger schweren Mißbildungen -, als 1967 der Prozeß gegen die Herstellerfirma Chemie Grünenthal begann.

Nachträglich ist aufgeklärt worden, in welchen Phasen der Schwangerschaft welche Mißbildungen durch Contergan hervorgerufen wurden: *___War die Einnahme des Schlafmittels am 35. oder 36. Tag ____nach der letzten Menstruation erfolgt, wurden ____Mißbildungen am Ohr und Nervenlähmungen beobachtet. *___Bei Einnahme zwischen dem 39. und 42. Tag gab es vor ____allem Mißbildungen an den Extremitäten, wie etwa ____Stummelarme. *___Zwischen dem 48. und 50. Tag wurden Mißbildungen der ____inneren Organe oder der Daumen ausgelöst. Eine Einnahme ____von Contergan zu einem späteren Zeitpunkt verursachte ____keine Mißbildungen.

Die Erkenntnis, daß nur in einer bestimmten Phase der Schwangerschaft, während sich die Organe des Ungeborenen bilden (Organogenese), die schädigenden Wirkungen auftraten, machte auch klar, warum im Tierversuch nichts bemerkt worden war: Nur wenn die Versuchsratten oder -kaninchen präzise am 12. Tag der Trächtigkeit mit der Wirksubstanz Thalidomid gefüttert wurden, brachten sie mißgebildete Nachkommen zur Welt. Wissenschaftler wie der Berliner Neubert, der am Klinikum Charlottenburg das Institut für Embryonalpharmakologie leitet, sind besorgt, daß Mißbildungswellen wie im Fall Contergan sich wiederholen könnten.

Die gängig gewordenen Hinweise auf Medikamenten-Beipackzetteln, das jeweilige Mittel solle »möglichst im ersten Drittel der Schwangerschaft nicht gegeben werden«, sind nach Meinung von Neubert als »banal«, als »Halbwahrheiten«, jedenfalls aber als »nichtssagend und häufig irreführend« einzustufen.

Neubert: »Darüber hinaus muten solche Formulierungen sarkastisch an, weil viele Frauen erst bemerken, daß sie schwanger sind, nachdem ein erheblicher Teil der Organogenese-Phase abgelaufen ist.«

Teratologie: von griechisch teratos = Mißbildung.

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