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ABRÜSTUNG Kein Zweifel

Der Kreml koppelt Gorbatschows Abrüstungsvorschlag nicht an einen totalen Verzicht auf SDI, die Amerikaner reagieren noch unsicher - Unterhändler aus Moskau und Washington Informierten die Westdeutschen. *
aus DER SPIEGEL 5/1986

Moskaus Unterhändler Julij Kwizinski, beim Genfer Verhandlungspoker zwischen Amerikanern und Sowjets für Weltraumwaffen zuständig, erklärte dem Bonner Hans-Dietrich Genscher die Wende.

Kaum hatte der sowjetische Diplomat am Mittwoch voriger Woche am ovalen Glastisch im Amtszimmer des Außenministers Platz genommen, zog er eine schriftlich vorbereitete Erklärung aus dem Aktenkoffer. Genschers Lieblingswort aus den Zeiten des Koalitionsbruchs 1982 kam darin gleich mehrmals vor.

Den europäischen Staaten, las Kwizinski in nahezu akzentfreiem Deutsch vor, falle bei der »Wende zu einem sicheren Frieden und zur Entspannung« eine besondere Rolle zu. Eine »Wende zum Besseren« liege im Interesse aller. Erreichbar sei das nur durch eine »Wende zur Politik des Friedens«.

Ruhig und ohne Schärfen erläuterte der Sonderbotschafter die jüngste Abrüstungsoffensive seines Parteichefs Michail Gorbatschow, die einen Abbau sämtlicher Atomwaffen bis zum Jahr 2000 vorsieht. Dann beantwortete er die Fragen des Außenministers und seiner Abrüstungsexperten.

Die Sowjets, so trug Kwizinski vor, seien in der Vergangenheit immer fähig gewesen, amerikanischen Waffenentwicklungen sowjetische entgegenzustellen - notfalls würden sie, als Antwort auf die amerikanische SDI-Rüstung, ebenfalls »kosmische Waffen« bauen.

Im Kreml sei aber so der Mann aus Moskau weiter, eine langfristige Grundsatzentscheidung für den Abbau sämtlicher Atomwaffen gefallen. Das Angebot soll auf dem 27. Parteitag im Februar bestätigt werden. Kwizinski: »Wir hoffen, daß unsere Vorschläge gebührend gewürdigt werden, und zwar nicht nur verbal.« Schließlich sei Moskau bei der Kontrolle der einzelnen Abrüstungsschritte - der sogenannten Verifikation

- dem Westen weit entgegengekommen.

Für Bonns Außenminister und den Kanzlerberater Horst Teltschik, der ebenfalls zwei Stunden mit Kwizinski diskutierte, bestand nach ihren Treffen mit dem Werber aus Moskau überhaupt kein Zweifel« (Genscher) an der Ernsthaftigkeit des sowjetischen Vorstoßes.

Die Sowjets, so die Analyse der Bonner Experten, seien keineswegs nur propagandistisch in die Offensive gegangen. Mit dem »weitreichendsten Abrüstungsvorschlag, der bisher von einer der Supermächte gemacht worden ist« (SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel), setzen die Sowjets vielmehr die Amerikaner in Zugzwang.

Wie schwer sich die westliche Führungsmacht mit einer Gegenkonzeption tut, erfuhren die Bonner zwei Tage nach Kwizinskis PR-Visite von einem anderen Besucher: dem Genfer US-Chefunterhändler Max Kampelman. Der Amerikaner sprach nur allgemein von »konstruktiven Elementen« der Sowjetinitiative - an der Analyse wird in Washington noch gearbeitet. »Der war noch sehr unsicher«, beschreibt ein Gesprächsteilnehmer die einsilbigen Auskünfte des Amerikaners.

Nach dem Frühstück mit Kampelman fühlte sich Genscher bestätigt, daß die europäischen Nato-Partner die Amerikaner drängen müssen, gemeinsam auf die Vorschläge aus Moskau zu antworten. Für eine interne Abstimmung soll, empfahl der Außenminister letzten Donnerstag Kanzler Helmut Kohl, der Bundessicherheitsrat einberufen werden.

Genschers Marschroute: Der Westen dürfe sich nicht in Einzelreaktionen »verzetteln«. So sieht auch Kohls Teltschik, sonst Genschers ständiger Widerpart, die Rolle Bonns. Teltschik: »Wir werden unsere Interessen sowohl in Washington wie auch in Moskau einbringen.«

Die Bonner sind von den jüngsten sowjetischen Plänen auch deswegen angetan, weil Kwizinski bei seinem Besuch undeutliche Formulierungen in den Gorbatschow-Vorschlagen präzisierte. So waren AA-Experten in einer ersten Analyse zu dem Ergebnis gekommen, die »ganze Zielrichtung« des Gorbatschow-Vorschlages spreche dafür, daß die amerikanischen Forschungen für Weltraumwaffen unmöglich gemacht werden sollen.

Kwizinski widersprach: Grundlagenforschung (basic research) sei durchaus erlaubt; die Sowjet-Union habe bewußt Formulierungen gewählt, die lediglich ein Verbot für Entwicklung, Erprobung und Stationierung von Raketenabwehrwaffen vorsehe. Wenn aber die Zahl der atomaren Interkontinental-Raketen in den nächsten Jahren halbiert werde, wie der Generalsekretär vorschlägt, dann müsse - Sicherheit gegen Sicherheit - der derzeit noch gültige ABM-(Raketen-Abwehr-)Vertrag bekräftigt und der gegenseitige Blick in die Forschungslaboratorien gestattet werden.

Die zweite skeptische Frage aus den AA-Papieren konnte der Sowjetdiplomat ebenfalls beantworten. Der Abbau aller Mittelstreckenwaffen in Europa - SS-20 auf sowjetischer, »Pershing 2« und Cruise Missiles auf amerikanischer Seite - sei nicht an Einigung über eine Zahl und Verringerung der Langstreckenraketen gebunden. Sichergestellt werden müsse nur, daß die Briten und Franzosen ihre bisherigen Atomwaffen-Bestände nicht aufstockten. Zwischenlösungen seien durchaus denkbar.

Eine Diskussion über die Frage welche Waffen Moskau als »strategisch« ansehe, lehnte Kwizinski bei seinen Bonner Gesprächen als zu theoretisch ab.

Die Amerikaner werten bisher alle Raketen als strategisch, die mehr als 5000 Kilometer fliegen können. Die Russen dagegen zählen nur solche als strategische Waffen, die das Territorium der USA beziehungsweise der Sowjet-Union erreichen können.

Die Folgen dieser unterschiedlichen Definition sind für die Europäer bedeutsam. Die amerikanischen Pershing-2-Raketen in Europa mit einer Reichweite von 1800 Kilometern gehören für die Russen zu den strategischen Waffen, weil sie bis kurz vor Moskau reichen; die SS-20 aber sind für den Kreml Mittelstreckenwaffen, weil sie nicht die USA bedrohen, sondern nur Westeuropa.

Aber Kwizinski zeigte eine mögliche Lösung: Wenn die Pershing 2, die Cruise Missiles und die SS-20 komplett abgezogen und vernichtet würden, erübtige sich doch die theoretische Auseinandersetzung. Warum also länger um Definitionen streiten?

Schließlich wollten die Bonner noch hören, wie Gorbatschows Vorstellungen zur konventionellen Abrüstung aussehen. Denn konservative Politiker und Militärs glauben, daß beim Abbau aller Aromwaffen die Gefahr eines konventionellen Krieges wachse. Auf diesem Gebiet aber seien die Sowjets heute schon dem Westen überlegen.

Auch da versuchte Kwizinski zu beruhigen. Das Kapitel konventionelle Abrüstung sei bei Gorbatschow nur deshalb etwas kurz geraten, weil er seine Vorschläge nicht habe überfrachten wollen. Der Unterhändler: »Wir erwarten neugierig westliche Vorschläge.«

In einem Punkt aber blieb der so verbindliche Sowjetmensch hart: Abrüstung, atomare wie konventionelle, wird es in den nächsten Jahren nur geben wenn die USA, von der Grundlagenforschung abgesehen, auf die Entwicklung, den Bau und die Tests von Weltraumwaffen verzichten.

Egon Bahr, erfolgreicher Ost-Unterhändler der siebziger Jahre und nun Abrüstungsexperte der Opposition, fühlte sich nach den Gesprächen mit Kwizinski in seiner ablehnenden Haltung zu SDI voll bestätigt. Der Welt lägen nun zwei konkrete Utopien vor: Die erste sei der Plan des amerikanischen Präsidenten, die Atomwaffen durch eine weltraumgestützte Raketenabwehr überflüssig zu machen. Die zweite sei der Vorschlag Gorbatschows von der Schaffung einer atomwaffenfreien Welt.

Bahr: »Die zweite Utopie ist die billigere und die ungefährlichere.«

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