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USA / STATE DEPARTMENT Keine Zeit nachzudenken

aus DER SPIEGEL 9/1963

Kennedys Chefberater, Professor McGeorge Bundy, übte Selbstkritik. »Wir müssen uns davor hüten«, dozierte er in der Yale-Universität, »uns einzubilden, wir seien - nur weil wir größere (Atom-)Kenntnisse besitzen, schwerere Verantwortung tragen und mit den Realitäten der (nuklearen) Verteidigung besser vertraut sind - klüger als unsere Alliierten.«

Bundy leitete damit eine Überprüfung der amerikanischen Außenpolitik ein, die Präsident John F. Kennedy angeordnet hatte, seit offenbar geworden war, daß die Spannungen zwischen der US-Führungsmacht und ihren Verbündeten innerhalb der atlantischen Allianz ein zuträgliches Maß überschritten haben.

An den Beratungen im,Weißen Haus Ende der vorletzten Woche nahmen die US-Botschafter in Moskau, London und Bonn sowie Kennedys engste Ratgeber teil, darunter Amerikas derzeitiger Außenminister Dean Rusk sowie dessen Amtsvorgänger Christian Herter und Dean Acheson.

Die Ratgeber-Runde des Präsidenten hatte diesmal eine wenig befriedigende Bilanz zu ziehen. Seit November vergangenen Jahres haben sich die Beziehungen der USA zu ihren wichtigsten Verbündeten rapide verschlechtert. Hauptgrund der Meinungsverschiedenheiten: der Anspruch Amerikas, die allein über Atomwaffen verfügende und über deren Einsatz entscheidende Macht des Westens zu bleiben.

Dieser Anspruch leitet sich nicht nur aus dem Bewußtsein ab, 97 Prozent des westlichen Kernwaffen-Potentials zu besitzen; er spiegelt auch die Hoffnungen Amerikas, alle Möglichkeiten für einen globalen Ausgleich mit der Sowjet -Union in der Hand behalten zu können. Zugleich brachte er jedoch die US -Regierung mit vier ihrer wichtigsten Verbündeten zeitweilig in Konflikt, und zwar mit

- Großbritannien, das mit der Umrüstung auf Polaris-Unterseeboote, die in eine Nato-Atomstreitmacht eingegliedert werden sollen, zum Ärger großer Teile der konservativen Regierungspartei zu einem Verzicht auf eine nationale Atomrüstung gezwungen wird;

- Frankreich, das die amerikanische Polaris-Offerte zurückwies, hartnäckig an der Idee einer unabhängigen Atomstreitmacht festhält und auch deshalb England (das in den Augen de Gaulles zum »Nuklear -Satelliten Amerikas« herabgesunken ist) den Weg in die EWG versperrt;

- Kanada, dessen konservative Regierung stürzte, weil sie sich weigerte, nukleare Sprengköpfe (unter amerikanischem Verschluß) für die schon vor Jahren erworbenen Atomwaffenträger anzunehmen;

- der Bundesrepublik, der eine forcierte konventionelle Rüstung auferlegt wird und die überdies fürchtet, zwischen ihren Bindungen an die amerikanische Schutzmacht und an die - gegen die US-Atompolitik rebellierende - Republik de Gaulles wählen zu müssen.

Der Versuch der Kennedy-Regierung, die Schwierigkeiten mit den europäischen Verbündeten durch das Projekt einer multilateralen Atomstreitmacht zu mildern, erwies sich bisher als unzulänglich.

Zwar begrüßten die Regierungen Englands, Italiens und der Bundesrepublik die amerikanischen Vorschläge, doch machten die diplomatischen Verhandlungen kaum Fortschritte. Die Diskussion der entscheidenden Frage, wer die Atomsprengköpfe für die Polaris -Raketen der multilateralen Streitmacht kontrollieren solle, wurde in den Nato -Gremien vorerst vertagt.

Nato-Generalsekretär Stikker erklärte dem Ständigen Nato-Rat in Paris, er glaube nicht, daß die von den Amerikanern empfohlene multilaterale Streitmacht die Chance habe, verwirklicht zu werden. Stikker riet, zur Norstad -Strategie zurückzukehren und die Nato -Bodenstreitkräfte mit beweglichen Mittelstreckenraketen auszurüsten.

Kennedys Sonderbeauftragter Livingston Merchant, der in Europa für die multilaterale Streitmacht geworben hatte, reiste enttäuscht nach Washington, kehrte jedoch bald mit neuen Kompromißvorschlägen zurück: Die US-Regierung - bestrebt, ihre Bündnispartner zu besänftigen - offerierte nun 200 Polaris-Raketen für Überwasserschiffe.

Auch US-Außenminister Rusk deutete mögliche Korrekturen der amerikanischen Außenpolitik an. »Es ist nur recht und billig«, schmeichelte er, »daß die europäischen Mächte in der Weltpolitik wieder eine führende Rolle spielen.« Und: »Wir können nicht erwarten, daß unsere europäischen Freunde auf weltweiter Basis Verpflichtungen übernehmen, wenn sie nicht auch an den politischen und strategischen Entscheidungen beteiligt werden.«

Präsident Kennedy selbst ging noch einen Schritt weiter. »Die Entscheidungsgewalt (über den Einsatz atomarer Waffen) muß an irgend jemand delegiert werden«, sagte er. »Falls es nicht der Präsident der Vereinigten Staaten ist, müßte es der Präsident Frankreichs oder der Premierminister Großbritanniens oder jemand anders sein.«

Diese höflichen Worte konnten freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach Ansicht der US-Regierung »die Verteidigung der freien Welt unteilbar ist« (Rusk). Das bedeutet: Die nukleare Verantwortung soll in den Händen der USA bleiben. Jede andere Regelung würde am Kongreß-Widerstand scheitern.

Weil also der politische Kurs in dieser Frage wenig flexibel sein kann, will die Kennedy-Regierung zumindest das bürokratische Instrument verbessern, das diese Politik auszuführen und den Verbündeten verständlich zu machen hat. Anfang vergangener Woche wurde deshalb vom Weißen Haus ein ReVirement im State Department angekündigt. Die Krise der westlichen Allianz sei, so wurde dazu erklärt, eine Folge mangelnder Koordinierung und mangelnder Beweglichkeit der US-Politik.

Mit seinen 14 000 Angestellten, darunter 3700 Berufsdiplomaten, ist das US-Außenministerium in der Tat ein derart komplizierter Apparat, daß - so spottete Publizist Stewart Alsop - »unter den vielen Leuten, die Memoranden produzieren, niemand genug Zeit hat nachzudenken«.

Das Nachdenken besorgen deshalb die intellektuellen Ratgeber des Präsidenten im Weißen Haus. Die politische Koordinierung im State Department aber soll künftig W. Averell Harriman, 71, ehedem Großindustrieller, Botschafter und Handelsminister, heute Unterstaatssekretär für Fernost-Fragen, als »Nr. 3« nach Außenminister Rusk und Stellvertreter Ball übernehmen.

Harriman, der sich zuletzt auf der Genfer Laos-Konferenz diplomatischen Lorbeer erwarb, löst den 50jährigen einstigen Ölproduzenten George Mc-Ghee ab, der unter Rusk zunächst als Chef des Planungsstabes und später als Unterstaatssekretär für politische Angelegenheiten diente.

Weitere Veränderungen im diplomatischen Dienst werden folgen, jedoch keineswegs - prophezeite die »New York Times« - »irgendein allgemeiner Wechsel, der sich auch auf Außenminister Dean Rusk und Staatssekretär George W. Ball erstreckt«.

Die politische Gewissenserforschung, die Kennedy-Berater Bundy einleitete, als er von »möglichen neuen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa« sprach, beschränkt sich zunächst vornehmlich auf Umbesetzungen bei den 21 höchsten Posten des US -Außenministeriums. Die außenpolitische Mammut-Bürokratie der USA wird dadurch nicht erschüttert.

US-Außenminister Rusk: Konflikte mit vier Verbündeten

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