HAMMARSKJÖLD Keinen Tag länger
Nebelschwaden zogen über den East River. Ein heftiger Regen trommelte auf das lecke Dach des Landungsstegs, als das Sowjetschiff »Baltika« Anfang vergangener Woche nach zehntägiger Ozeanreise endlich am Pier 73, dicht neben dem Müllabladeplatz New Yorks, festmachte.
Während 500 US-Polizisten 300 durchnäßte Demonstranten - »Mörder«, »Henker«, »Roter Hitler« stand auf ihren Plakaten - zurückdrängten, kletterte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow unter gellenden Pfiffen, Buh-Rufen und zaghaftem Händeklatschen über die Gangway zum zweiten Male an amerikanisches Land.
Diesmal dröhnten keine Salutschüsse. Keine Ehrenkompanie präsentierte. Nicht einmal Rundfunkmikrophone standen für den ungebetenen Gast bereit. Eingeklemmt zwischen der kommunistischen Prominenz und ihren Geheimdienstbeamten machte allein Monsieur Jean de Noue, Protokollchef der Vereinten Nationen, die Honneurs im Auftrage des Uno-Generalsekretärs Hammarskjöld, den Radio Moskau kurz zuvor zum »Handlanger der Imperialisten« gestempelt hatte.
Zwischen den dicken Fingern Chruschtschows knisterte ein Manuskript. »Wir suchen das Äußerste zu tun«, so las er vor, »um die Entwicklung unserer Beziehungen (zu den USA) in eine Bahn zu lenken, die zu einer friedlichen Lösung der strittigen Probleme führt.«
Und dann ein wenig frotzelnd: »Wenn gewisse Individuen erklären, Chruschtschow komme nur zur Uno-Vollversammlung, um die Propaganda-Trommel zu rühren, so bleibt mir nur übrig ..., so lange Propaganda zu machen, bis auch die Dickhäutigsten davon überzeugt sind, daß ein Abrüstungsabkommen notwendig ist.«
Hinter dieser brummigen Aufforderung an die amerikanischen Dickhäuter zu »ernsthaften Verhandlungen innerhalb der Vereinten Nationen ... über eine Abrüstung unter strenger internationaler Kontrolle« verbarg der Sowjetboß seinen Ärger über eine doppelte Niederlage:
- Im Kongo war die Sowjetdiplomatie von dem jungen, unter Uno-Obhut agierenden Oberst Joseph-Désiré Mobutu ausmanövriert worden.
- Innerhalb der Vereinten Nationen hatten die afrikanischen und asiatischen Mächte die sowjetischen Attacken gegen Dag
Hammarskjöld und seine Kongopolitik zum Scheitern gebracht.
Oberst Mobutu, der Chef der 22 000 Mann starken Kongoarmee, hatte nach seinem Militärputsch Ende der vorvergangenen Woche die sowjetischen, tschechischen und chinesischen Diplomaten nebst ihren technischen Beratern mit 48 Stunden Frist des Landes verwiesen, an die Stelle der beiden rivalisierenden Kongo-Regierungen ein »Verwaltungskomitee« gesetzt und gegen den entmachteten Sowjetprotege Lumumba, der in der Guinesischen Botschaft Zuflucht fand, einen Haftbefehl erlassen.
Mobutus Machtübernahme und die Ausweisung der Ostblock-Emissäre lähmten zwar die sowjetische Infiltrationspolitik am Kongo, provozierten jedoch Moskaus Chefdelegierten im Weltsicherheitsrat, den stellvertretenden Außenminister Walerian Sorin, zu immer schärferen Attacken gegen Hammarskjöld.
»Das Uno-Oberkommando und der Generalsekretär persönlich ignorieren die rechtmäßige Regierung des Kongo«, keifte Sorin. »Sie behindern auf jede Weise die Verwirklichung von Maßnahmen, mit denen diese Regierung (Lumumba) versucht, die Ordnung im Lande wiederherzustellen.« Und mit schneidender Schärfe »Sie unterstützen die Länder der Nato, insbesondere die USA ... bei ihren imperialistischen Plänen in Afrika.«
Tunesien und Ceylon, unterstützt von anderen afrikanischen Staaten, formulierten nach tagelanger Debatte eine Entschließung, die zwar einigen sowjetischen Wünschen nachgab, aber zugleich den Generalsekretär stützte. Sie scheiterte am sowjetischen Veto, dem 90. seit Gründung der Uno.
Damit riskierte es die Sowjet-Union
- wenige Tage vor Beginn der 15. Uno-Vollversammlung, an der außer Chruschtschow 16 Staats- und Regierungschefs teilnehmen wollen -, in offenen Gegensatz zu den afrikanischen und asiatischen Mächten zu geraten, um deren Stimme sie wirbt. Amerikas Chefdelegierter James Wadsworth nutzte die Chance. Mit einer Ratsmehrheit von acht Stimmen erzwang er eine außerordentliche Tagung der Vollversammlung, die bereits 18 Stunden nach dem Sowjetveto begann.
Sowjetmensch Sorin setzte auch dort, sekundiert von sämtlichen Delegierten des Ostblocks, seine Attacken gegen den »amerikanischen Kolonialismus und dessen Handlanger« Hammarskjöld fort. Diese systematische Offensive gegen den Generalsekretär, die wichtigste Figur innerhalb der Weltorganisation, drohte die Uno in eine schwere Krise zu stürzen. Sorgte sich die Londoner »Times": »Hammarskjölds Position könnte bald unhaltbar werden.«
»Der Vertreter der Sowjet-Union benutzt eine starke Sprache«, konterte Hammarskjöld ("Mr. H.") die Angriffe Sorins, »von der ich nicht weiß, wie ich sie auslegen soll.« Und weiter: »Die Vollversammlung kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich nicht wünsche, auch nur einen Tag länger im Amt zu
bleiben, als es ... das Interesse der Weltorganisation erfordert.«
Das Uno-Sekretariat präzisierte: Falls die Vollversammlung die Meinung der Sowjet-Union teile, werde der Generalsekretär sofort demissionieren.
Sowjetdelegierter Sorin hatte inzwischen eine Entschließung vorgelegt, deren Annahme »Mr. H.« zum Rücktritt gezwungen hätte. Sie forderte die Vollversammlung auf, »festzustellen, daß die Handlungen des Generalsekretärs und des Uno-Oberkommandos (im Kongo) ... zum wirtschaftlichen Chaos, zur Verschärfung der politischen Lage und zur, Beseitigung der rechtmäßigen Regierung (Lumumba) und des Parlaments geführt haben«.
Der Sowjetresolution stellten 17 afrikanische und asiatische Staaten eine eigene Entschließung entgegen, in der Hammarskjöld aufgefordert wurde, seine »energische Aktion in Übereinstimmung mit den Resolutionen (des Sicherheitsrats) fortzusetzen«. Zu den Unterzeichnern des Antrags, der zugleich die Errichtung eines Uno-Hilfsfonds für den Kongo vorsah, gehörten nicht nur westlich orientierte Länder wie Tunesien und Marokko, sondern auch Guinea und die Vereinigte Arabische Republik, deren Staatschefs sich in Moskau besonderer Sympathie erfreuen.
Als nach dreitägiger Debatte offenbar geworden war, daß der Ostblock isoliert blieb, verzichtete Sowjetboß Chruschtschow auf einen improvisierten Auftritt und überließ seinem Chefdelegierten den Rückzug. Sorin manövrierte noch eine Weile mit Abänderungsanträgen, gab jedoch seine aussichtslose Resolution preis, nachdem zahlreiche Afrikaner und Asiaten, deren Truppen neun Zehntel der am Kongo stationierten Uno-Streitmacht stellen, ihr Vertrauen zu Hammarskjöld bekundet hatten. Die afro-asiatische Resolution wurde schließlich mit 70 (von insgesamt 82) Stimmen angenommen. Der Pariser »Monde": Ein Erfolg für Washington.«
Sorin drohte sofort mit einer zweiten Kongo-Debatte während der ordentlichen Vollversammlung, an der nun auch die dreizehn inzwischen neuaufgenommenen afrikanischen Uno -Mitglieder* teilnehmen werden. Sie könnten, so kalkuliert das sowjetische Uno-Team, für kommunistische Propagandamanöver anfälliger sein als die mit den Moskauer Praktiken bereits vertrauten farbigen Uno-Diplomaten.
Die Sowjet-Attacke gegen »Mr. H.« hat offensichtlich den Zweck, den wichtigsten Posten innerhalb der Weltorganisation für einen Mann freizuschießen, der die sowjetische »Annexion der Vereinten Nationen« ("New York Herald Tribune") vorbereiten hilft. Hammarskjölds zweite Amtsperiode geht im April 1963 zu Ende. Falls er nicht vorzeitig resigniert wie sein Amtsvorgänger Trygve Lie, den die Sowjets im November 1952 zur Kapitulation zwangen, müßte die Neuwahl im Herbst 1962 stattfinden.
Bei 96 Uno-Mitgliedern gelten jedoch andere Mehrheiten als bisher. 14 Jahre lang haben die Westmächte in der Vollversammlung eine relativ sichere Majorität gehabt. Künftig werden sie bei jeder Abstimmung kämpfen müssen.
Im neuen Uno-Parlament, in dem die Stimme Zyperns (550 000 Einwohner) ebensoviel zählt wie die Stimme der USA (180 Millionen), werden die drei unterentwickelten Kontinente - Afrika (23 Stimmen), Asien (21) und Lateinamerika (20) - zusammen über jene Zweidrittelmehrheit verfügen, die für alle »Beschlüsse in wichtigen Fragen« (Uno-Artikel 18) erforderlich ist.
Zwar vermochte Sorin diese Mehrheit, zu der die Ostblockstaaten nur neun eigene Stimmen beisteuern können, diesmal noch nicht für Chruschtschows Zwecke zu mobilisieren. Aber wenn es dem Sowjetboß gelingt, den Generalsekretär durch pausenlose Angriffe zu zermürben, ist der ungebetene Gast Amerikas dem Ziel einer kommunistisch dirigierten Uno bedenklich nahegerückt.
Resignierte die »New York Times": »Vielleicht muß sich Hammarskjöld für den Rest seiner zweiten Amtszeit auf Verwaltungsfunktionen beschränken.«
* Kamerun, Togo, Somalia, (Belgisch) -Kongo sowie die neun Mitgliedstaaten der französischen Communauté Dahomey, Elfenbeinküste, Gabun, Kongo, Madagaskar, Obervolta, Niger, Tschad, Zentralafrikanische Republik. Die Aufnahme der auseinandergefallenen Mali-Föderation wurde zurückgestellt.
Hammarskjöld
Daily Mail
»Einmal Borschtsch und Joghurt, einmal Kamel-Milch, einmal Salami Gawrilowitsch, einmal indischen Curry, einmal Fufu mit Sahne, einmal Tomalley mit Chili-Sauce, einmal Schischkebab und ein Magenpulver für mich, Fred!«
Demonstranten in New York: Propaganda für Dickhäuter