IRAN Keiner gehorcht
Aus dem Irak, aus der Türkei waren sie nach Persien gekommen, legal und illegal, um ihren letzten großen Kämpfer in Eschnoje zur letzten Ruhe zu betten: Hunderte kurdische Geistliche, Tausende Männer, Frauen und Kinder.
Lautes Wehklagen und Gesänge begleiteten die Zeremonie bei Sonnenuntergang, selbst die Männer in ihren malerisch bunten Trachten weinten.
Idris, einer der Söhne des legendären toten Kurdenführers Mullah Mustafa el-Barsani, hielt am Grab die Trauerrede: »Was wir hier erleben, ist unbeschreiblich und ein Beweis für den Grad der Liebe und Ehre, die das gesamte kurdische Volk für den Verstorbenen empfindet.«
Dann beschwor er die Trauernden: »Beseitigt eure Differenzen, und vereinigt alle Kräfte, um unser Ziel zu erlangen.«
Überall wo Kurden leben, heißt dieses Ziel zumindest Selbstbestimmung und kulturelle Autonomie. Doch zuoberst prangt das Traumziel: ein freies Kurdistan.
Seit der Schiitenführer Ajatollah Chomeini dem Schreckensregime des Schah-in-Schah ein Ende gesetzt hat. keimte in den drei kurdischen Provinzen des Iran -- Urmia, Kurdistan und Kermanschah -- die Hoffnung, daß nun auch die Unterdrückung der ethnischen Minderheit aufhöre, die zudem auch noch zu 75 Prozent dem sunnitischen Islam anhängt.
Das Schah- Regime hatte sich stets geweigert, die Kurden als eigenes Volk anzuerkennen. Die kurdische Sprache war als Amts- und Schulsprache abgeschafft. Weit mehr als andere Gegenden des Iran waren Kurdengebiete wirtschaftlich unterentwickelt. Das Pro-Kopf-Einkommen dort lag fast um ein Zehnfaches unter dem Gesamt-Irans. Und sie waren stärker militarisiert. Das Volk wurde streng kontrolliert, der Aufenthalt jedes Fremden mußte beim Bürgermeister oder bei der Gendarmerie angemeldet werden.
Nachdem der Schah Persien verlassen hatte, war eine Reihe exilierter Kurdenführer in den Iran geeilt. Und kaum war Barsani unter der Erde, da stellten die Kurden das neue Regime des Ajatollah Chomeini auf seine bislang gefährlichste Belastungsprobe.
In Sanandadsch, der Hauptstadt der Provinz Kurdistan, kam es zu tagelangen blutigen Gefechten zwischen kurdischen Kriegern und Revolutionstruppen Chomeinis, nachdem die sich geweigert hatten, den Kurden Munition auszuhändigen. 91 Menschen starben nach offiziellen, 500 nach inoffiziellen Berichten, die Zahl der Verletzten ging in die Hunderte. Ein Arzt: »Ein Idiot, wer das hier nicht vorausgesehen hat.«
Zunächst drohte die provisorische Regierung in Teheran, sie werde den Aufstand der Kurden »erbarmungslos« niederschlagen, dann jedoch entsandte sie den Innenminister Hadseh-Sajad Dschawadi sowie einen der höchsten Geistlichen, Ajatollah Taleghani, in die aufständische Provinzhauptstadt.
So wenige Tage vor der Volksabstimmung über Chomeinis »Islamische Republik« brauchten die neuen Herren einen Waffenstillstand, und den erwirkten sie, indem sie den Kurden einen »semi-autonomen« Status, »ähnlich wie in den USA«. zusicherten.
Aber dieser allzu brüchige Waffenstillstand, aufgebaut auf einem allzu vagen Versprechen, kann nicht lange halten. Denn Kurden wissen aus leidvoller Erfahrung, was sie von der Zusicherung einer Autonomie zu halten haben, vor allem die Kurden in Iranisch-Kurdistan.
Unter dem Schutz der Sowjet-Union, die seit Herbst 1941 Nordpersien besetzt hielt, wurde dort am 23. Januar 1946 die kurdische Republik von Mahabad ausgerufen. Zum Präsidenten gewählt wurde der oberste religiöse Richter in Mahabad, Ghasi Mohammed. Der hieß bald darauf den Mustafa Barsani willkommen, der mit 3000 Kämpfern vor den irakischen und britischen Truppen in den Iran geflohen war. Barsani wurde einer von vier ostkurdischen Armeegenerälen der neuen Republik und Verteidigungsminister.
Gegen die Zusicherung, sie wurden an den persischen Ölvorkommen beteiligt, räumten die Sowjets wenige Monate später die besetzten Gebiete, und die persische Regierung entsandte Truppen nach Mahabad -- angeblich, um die im ganzen Kaiserreich stattfindenden Wahlen zu sichern.
General Barsani traute dem Frieden nicht, er setzte sich mit 500 Kriegern in die Sowjet-Union ab.
Den anrückenden persischen Militärs ging aber Ghasi Mohammed am 16. Dezember 1946 mit seinen Ministern und Beamten nach Sitte des Landes bis vor die Tore der Stadt entgegen, um sie zu begrüßen. Die Kurden wurden samt und sonders festgenommen und am 31. März des folgenden Jahres auf eben jenem Platz, wo die Republik ausgerufen worden war, öffentlich gehenkt.
Kein Jahr hatte dieser Kurdenstaat überdauert -- das erste und einzige kurdische Staatsgebilde eines der ältesten Völker der Erde, das in sumerischen Schriftfunden zum ersten Mal 2300 vor Christus erwähnt wird. Obwohl kulturell verbunden durch ihre Sprache und sozial zusammengeschweißt durch Jahrhunderte währende Freiheitskämpfe gegen Mongolen, Türken und Perser, blieben die Kurden doch immer zersplittert in Fürstentümer und Stämme. »Die Kurdenstämme«, berichtete schon eine alte Kurdenchronik, »halten untereinander nicht zusammen; keiner will dem anderen gehorchen und untertan sein.«
Bis heute siedeln die Kurden von den Taurusausläufern im Westen der Türkei bis zum iranischen Hochplateau im Osten, vom biblischen Berg Ararat im Norden bis zu den Ebenen Mesopotamiens im Süden: ein Territorium von fast doppelter Größe der Bundesrepublik, mit wahrscheinlich an die 16 Millionen Menschen. Gern geben die beherrschenden Staaten geringere Zahlen an.
Das gilt für die Türkei, wo acht Millionen Kurden leben, für den Iran mit fast fünfeinhalb Millionen, für Syrien mit seiner politisch unbedeutenden Gruppe von einer halben Million. Lediglich die Sowjet-Union, die ihren in der Republik Aserbaidschan lebenden Kurden kulturelle Autonomie gewährt, gibt ihre Zahl mit 89 000 glaubwürdig an!
Seit dein Zerfall des Osmanischen Reiches zu Beginn dieses Jahrhunderts blühten kurdische Unabhängigkeitsträume, und in (der Tat sicherte ihnen der Vertrag von Sèvres 1920 Autonomie zu.
Das bittere Erwachen traf zuerst die Kurden der Türkei. Als Mustafa Kemal Atatürk, der Vater der modernen Türkei, an die Macht kam, war von Autonomie der Kurden keine Rede mehr.
Ihre Sprache wurde verboten, sie wurden offiziell nur noch »Bergtürken« genannt. Aufstände in den Jahren 1925, 1930 und 1936/37, die Hunderttausende Kurden das Leben kosteten, nahmen Atatürks Truppen zum Anlaß, die Region nachhaltig zu verwüsten.
Wenn auch der derzeitige sozialdemokratische Ministerpräsident Bülent Ecevit in einem SPIEGEL-Gespräch schon von »Kurden« statt von »Bergtürken« spricht, hat sich an der Situation der Kurden seit Atatürk doch nicht sehr viel geändert.
Überfälle der paramilitärischen Spezialtruppe, der »Jandarmas«, Folter und Vergewaltigungen kurdischer Frauen und Kinder durch Türken sind vielfach belegt. Feudalistische Verhältnisse -- in über 800 Dörfern herrschen türkische Agas, immer noch gibt es Leibeigene -- und gezielte wirtschaftliche Vernachlässigung -- investiert wird nur dort, wo die finanziellen Aufwendungen dem Westen der Türkei zugute kommen -- prägen nach wie vor die kurdischen Regionen Ostanatoliens.
Härteste Feldarbeit, Unterernährung und mangelhafte medizinische Versorgung lassen die Kurden der Osttürkei selten älter als 45 Jahre werden. Einen Arzt oder Sanitäter haben nur fünf Prozent aller Dörfer, zwei Drittel der Bevölkerung müssen bis zu 150 Kilometer laufen oder reiten, um einen Arzt zu finden. Die Hälfte aller Kinder stirbt, bevor sie in die Schule gehen könnten.
60 000 Kinder der Kurden-Region erhalten überhaupt keinen Unterricht, weil Lehrer fehlen. Die Analphabetenrate in der Türkei liegt insgesamt bei 45 Prozent, unter den Kurden jedoch bei 75 Prozent.
Eine kleine gebildete Schicht der nachwachsenden Kurden-Generation liest deshalb Lenin und Mao, und nicht wenige, die von »Azadi bo Kurdistan«, Freiheit für Kurdistan, träumen, wollen einen Befreiungskampf nach angolanischem Muster.
»Für die türkischen Kurden«, meint der Frankfurter Schriftsteller Jürgen Roth, der vor gut zwei Jahren bei Recherchen für die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International in Kurdistan festgenommen wurde, »scheint die Zeit vorbei, wo sie gelähmt auf die Aktivitäten der irakischen Kurden schauen.«
Über 13 Jahre Freiheitskrieg im Irak, in dem Ströme von Blut flossen, die schließliche Niederlage für General Barsani -- all das hat den Kampfgeist der irakischen Kurdenkrieger, »Peschmerga« (Vor uns der Tod), nicht brechen können.
Immer häufiger in letzter Zeit strahlte die »Stimme Kurdistans« (5900 Kilohertz auf dem 49-Meter-Band) wieder Meldungen aus wie diese vom 23. Februar: »Heute mittag um 12.30 Uhr haben unsere tapferen Kämpfer einen Polizeiposten der irakischen Faschisten in Birkama überfallen. Während des einstündigen Kampfes wurden drei Soldaten getötet und 15 weitere verletzt.«
1958, nach General Kassims Putsch gegen die Haschemiten-Monarchie, war Mustafa Barsani nach zwölfjährigern Exil aus der Sowjet-Union in seine irakische Heimat zurückgekehrt. Anfängliche Autonomieversprechungen Kassims wurden nicht eingehalten, Unruhen in kurdischen Gebieten beantwortete Kassim 1961 mit Bombenangriffen.
Wenngleich die Kurden im Lauf der nächsten Jahre mehr Anteil in den Administrationen bekamen und -- auf dem Papier -- kulturelle Rechte genießen sollten, wechselten immer neue Versprechungen mit immer neuen Vertrauensbrüchen von seiten der ebenso häufig wechselnden Herrscher in Bagdad. Attentatsversuche auf Barsani, Verhaftungen, Verschleppungen und Ermordung von Kurden schufen neue Feindschaft.
In einer Washingtoner Klinik, wo er sich einer Krebsbehandlung unterzog, hatte der 76jährige Barsani ein knappes Jahr vor seinem Tod verkündet, sein größter Fehler sei gewesen, den USA zu vertrauen. Denn auf dem Höhepunkt seiner kriegerischen Auseinandersetzungen mit den überlegen gerüsteten irakischen Streitkräften hatte er Geld und Waffen von der CIA und vom Schah von Persien genommen, um innere Unruhe im Staat der Baath-Sozialisten zu erzeugen.
Am 6. März 1975 ereignete sich, was von den Kurden als der »Dolchstoß des Schah« bezeichnet wird. Auf der Opec-Konferenz in Algier fielen sich der Schah und der stellvertretende Vorsitzende des irakischen Revolutionskomitees, Saddam Hussein, in die Arme, nachdem sie ihren alten Grenzstreit auf dem Rücken der Kurden beigelegt hatten. Vertragspunkte waren:
* Der Schah erhält Schiffahrtsrechte auf dem Schatt el-Arab und damit ungehinderten Zugang vom Persischen Golf zu seinen Erdölfeldern und -raffinerien um Abadan.
* Dafür hält er das gemeinsame Grenzgebiet von jeglicher subversiver Infiltration frei.
CIA- und Schahgelder wurden umgehend gestoppt, die irakischen Kurdenregionen mit Bomben eingedeckt, nur noch drei Wochen waren die Grenzen zum Iran geöffnet. Noch etwa 3000 Flüchtlinge pro Tag passierten die Linie, bis der Schah seinen ehemaligen Schützlingen den Rückzug in sein Land unmöglich machte. Unter den Irak-Flüchtlingen waren General Barsani sowie seine Söhne Idris und Masud.
Seither werden Kurden im Irak wieder gefoltert, eingesperrt, zum Tode verurteilt. Für die Zeit vom Januar 1977 bis April 1978 berichtet Amnesty International von 130 Hinrichtungen aus politischen Gründen.
Hunderttausende von Kurden im Irak wurden in den vergangenen vier Jahren deportiert, noch im Herbst vergangenen Jahres meldeten irakische Zeitungen, daß über 28 000 Familien aus ihren angestammten Gebieten in den Süden umgesiedelt worden seien. Ein langer Streifen an der türkisch-irakischen Grenze wurde tota' entvölkert.
Ein Handikap der kurdischen Freiheitskämpfer war wiederum ihre Spaltung: in Barsanis Demokratische Partei Kurdistan (DPK), der Idris und Masud Barsani vorstehen, und die extrem linke Sammelbewegung Patriotische Union Kurdistan (PUK) des Dschalal Talabani, der, anders als die LPK, eine gesamtirakische Revolution von Arabern und Kurden anstrebt.
Beide Organisationen. die im Iran wie in der Türkei Anhänger haben, bekämpfen sich mittlerweile gegenseitig.
Der irakischen Regierung kann die Feindschaft nur recht sAn, dennoch zeigte sie sich beunruhigt über den Kurdenaufstand im Nachbarland.
Schon gegen Chomeini-freundliche Demonstrationen in Lagern umgesiedelter Kurden im Süden des Irak mußten Truppen vom Norden in Marsch gesetzt werden. Vor zwei Wochen reiste der starke Mann Bagdads, Saddam Hussein, in die kurdische Stadt Suleimania, um die Bewohner vor Angriffen auf die staatliche Einheit zu warnen. Das irakische »Staatsschiff«. so Hussein, sei Eigentum sowohl der Araber als auch der Kurden.
»Jede Freiheit der Kurden in einem Land«, so lautet einer der Glaubenssätze der DPK-Führung, »wirkt sich politisch und militärisch auch auf die anderen Kurdengebiete aus«, aber nicht nur auf die.
Vorige Woche kam es an der nordostiranischen Grenze, in der Stadt Genbad-e-Kawus, zu blutigen Aufständen der turkmenischen Minderheit, die wie die Kurden Autonomie fordert.