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»Keiner interessierte sich für uns«

Der letzte Oberkommandierende der Westgruppe, Generaloberst Matwej Burlakow, 74, über die Folgen des Truppenabzugs
Von Christian Neef und Wladimir Pyljow
aus DER SPIEGEL 53/2009

SPIEGEL: Die Rückkehr der sowjetischen Armeen aus der DDR war ein abenteuerliches Unternehmen. Einheiten wie die 10. Panzerdivision landeten in der Steppe. Eine Ausnahme?

Burlakow: Nein. Sie haben in diesem Fall 10 000 Leute in ein kleines Städtchen gebracht - eine völlig idiotische Entscheidung. Nicht einmal eine Eisenbahn gab es dorthin; wir mussten auf alten DDR-Flugplätzen 30 000 Betonplatten herausreißen und sie über 2000 Kilometer hinweg in die Steppe karren, damit die Panzer an ihr Ziel kamen. Sie haben die Division dorthin verlegt, weil sie Angst vor den Tschetschenen hatten: Bogutschar liegt von Moskau aus auf halbem Wege Richtung Kaukasus. Dabei war das eine Division, die für den Einsatz gegen die Nato ausgebildet worden war.

SPIEGEL: Warum diese Eile damals?

Burlakow: Das hat alles Michail Gorbatschow zu verantworten. Wir hatten zum Beispiel 90 000 Offizierskinder bei der Westgruppe. Wo sollten die plötzlich hin? Im Ergebnis unseres überhasteten Abzugs sind viele Familien kaputtgegangen - die Aktion betraf immerhin 76 000 Offiziere und 26 000 Fähnriche.

SPIEGEL: Was war das größte Problem für Sie als Oberkommandierenden?

Burlakow: Polen und die damalige Tschechoslowakei schlossen ab 1991 für unsere Truppen de facto ihre Grenzen. Sie forderten einen gewaltigen Preis für den Durchmarsch, wir sollten Straßen und Brücken verstärken. So mussten wir aufs Meer ausweichen. Der Transport allein hat eine Milliarde Mark gekostet.

SPIEGEL: Wie haben Sie damals die Truppe zusammengehalten?

Burlakow: Das war eine Sisyphusaufgabe. 1992 beispielsweise mussten wir mit einem Schlag 92 000 Wehrpflichtige entlassen. Dadurch blieben die Panzer plötzlich ohne Besatzung und die Geschütze ohne Bedienung. In meiner Not rief ich den usbekischen Verteidigungsminister an, der hatte mit mir gedient. Er schickte mir per Flugzeug 7000 Mann. Und mit 10 000 Soldaten schlossen wir Verträge ab, damit die ein halbes Jahr länger blieben - für 200 Mark Sold. Es war schwierig, sie in Deutschland zu halten. Zu Hause war der Teufel los, die wollten zurück.

SPIEGEL: Auch für Sie in Deutschland tauchten immer mehr Probleme auf.

Burlakow: 1991 gab es einen heiklen Zwischenfall. Drei Bundeswehr-Offiziere fuhren an einem unserer Objekte vor, in dem wir Atommunition gelagert hatten. Sie wollten die Strahlung messen oder was auch immer. Dort aber standen einige dieser usbekischen Soldaten, und die waren überfordert - einer schoss einem Offizier in den Arm. Ich wurde alarmiert und setzte mich mit dem damaligen Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg in Verbindung. Keine Seite wollte einen Skandal; das Ministerium ließ anderntags verlauten, die deutschen Offiziere seien betrunken gewesen. Nun weiß man aber: Die Deutschen sind nie besoffen, jedenfalls nicht im Dienst.

SPIEGEL: Haben die Deutschen genug dafür getan, damit die Armee zu Hause wieder Fuß fassen konnte?

Burlakow: 33 Militärstädtchen wurden später in Russland gebaut, 4 in der Ukraine, 7 in Weißrussland, alle mit deutschem Geld. Aber die Soldaten kamen zu früh zurück, etwa zehn Jahre hätten wir für einen geordneten Umzug gebraucht. Wir hatten 40 Jahre auf dem Gebiet der DDR gelebt und 21 111 Gebäude dort gebaut - Häuser, Lager, Flugplätze. Als Ausgleich dafür hatten wir mindestens 23 Milliarden Mark erwartet. Aber die Deutschen feilschten wie auf einem Basar.

SPIEGEL: Es wurden 12 Milliarden.

Burlakow: Das Schlimmste war: Bei uns zu Hause interessierte sich niemand für das Schicksal der Westgruppe.

INTERVIEW: CHRISTIAN NEEF,

WLADIMIR PYLJOW

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