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KENNEN SIE DEN BEGRIFF DES KRANKFEIERNS ?

aus DER SPIEGEL 7/1957

SPIEGEL: Nachdem die Metallarbeiter Schleswig-Holsteins 15 Wochen gestreikt haben, ist es jetzt zu neuen Schlichtungsverhandlungen gekommen. Das Ergebnis der Schlichtungsverhandlung in Bonn, wo Sie sich mit den Arbeitgebern auf einen Kompromiß (vgl. S. 18) geeinigt hatten, war ja von Ihren Mitgliedern hier abgelehnt worden. Es ist doch wohl ein Phänomen, daß hier die Arbeiter in breiter Front gegen einen vernünftigen Beschluß ihres eigenen Gewerkschaftsvorstandes und der zuständigen Spitzenfunktionäre stimmten?

SÜHRIG: Natürlich.

SPIEGEL: Das hat es noch nicht gegeben in der Bundesrepublik.

SÜHRIG: Nein.

SPIEGEL: Wie kam es zu dieser Situation?

SÜHRIG: Hier in Schleswig-Holstein entwickelte sich zunächst etwas, was in jeder Beziehung bei der Tarifgestaltung sonst üblich ist. Der Tarifvertrag für Metallarbeiter, der am 31. Dezember 1955 ausgelaufen war, sollte erneuert werden. Mithin mußten, um diesen alten Vertrag zu erneuern, von uns Vorschläge gemacht werden. Diese Vorschläge sind den Arbeitgebern überreicht worden. Die Verhandlungen hier scheiterten am 8. Oktober vorigen Jahres. Da hatten die Arbeitgeber erklärt: Bis hierher und nicht weiter. Alles übrige, was nun offengeblieben war, war für sie nicht mehr diskutabel.

SPIEGEL: Die Gewerkschaft wollte also eine möglichst hundertprozentige Erfüllung ihrer Forderungen haben?

SÜHRIG: Das nicht. Das wußten unsere Mitglieder auch. Denen ist von Anbeginn gesagt worden: Die Forderungen bedeuten kein Ultimatum; die Forderungen sind Verhandlungsobjekt, und aus den Forderungen wird ein Kompromiß entstehen.

SPIEGEL: Sie haben später in den Streiknachrichten aber geschrieben, daß das, was Sie fordern, das Minimum dar stelle.

SÜHRIG: Ja, richtig. Von dem Gesichtspunkt der materiellen Entwicklung her oder Belastung, wie es die Arbeitgeber so schön sagen, waren wir durchaus der Meinung, daß diese unsere Forderungen erfüllbar wären, weil sie ja nur vier Prozent der Lohnsumme ausmachen.

SPIEGEL: Darüber werden sehr unterschiedliche Angaben gemacht; sie schwanken zwischen vierzig und vier Prozent.

SÜHRIG: Das hatten die Arbeitgeber gesagt: bis 37 Prozent. Das war die Auffassung.

SPIEGEL: Die Gewerkschaft meint: Nur vier Prozent.

SÜHRIG: Für ihre Auffassung - 37 Prozent indirekte Lohnerhöhung - haben die Arbeitgeber zu keiner Zeit den Beweis angetreten. Interessant ist bei der Geschichte ja, daß diese Belastungsmomente für die Arbeitgeber so lange aktuell waren, bis wir zu den Verhandlungen nach Bonn gingen, und daß in Bonn, als wir die Frage von der möglichen Belastung her ansprachen, die Arbeitgeber einfach zumachten und davon nichts mehr hören wollten. Sie erklärten: Es geht gar nicht um die materiellen Belastungen mehr, sondern es geht jetzt nur noch um Grundsätze. Und von diesen Grundsätzen und Prinzipien haben sich die Arbeitgeber auch bis heute nicht gelöst.

SPIEGEL: Man hört häufig die Ansicht, daß es auch den Arbeitern nicht nur oder nicht in erster Linie um rein materielle Fragen gehe, sondern es fiel das Wort - auch in Ihren Streiknachrichten: Wir wollen keine Menschen zweiter Klasse sein. Es ist wohl das Ziel der Gewerkschaft, wenn wir recht verstehen, den Unterschied zwischen Angestellten und Arbeitern möglichst weitgehend zu beseitigen.

SÜHRIG: Sie zusammenzuziehen auf jeden Fall. Soweit es sich um sozialpolitische Sicherheit handelt, auf jeden Fall. Damit ist aber der Ausgangspunkt nicht der, daß wir dem Angestellten nun neiden, daß er besser steht, sondern wir sagen ganz einfach und mit Recht sehr wahrscheinlich: Der Arbeiter ist kein Arbeitnehmer zweiter Klasse.

SPIEGEL: Wie weit sollen die Lebensumstände des Arbeiters an die des Angestellten angeglichen werden? Würden Sie so weit gehen, zu sagen, daß im Endziel auch der Arbeiter Monatsgehaltsempfänger sein soll?

SÜHRIG: Nein.

SPIEGEL: Mehr gesellschaftliche Annäherung, neuer gesellschaftlicher Status für die Arbeiterschaft, ist das Ihr Ziel?

SÜHRIG: Ja, das ist auch in der Verfassung verankert.

SPIEGEL: Es ist ja aber wohl heute schon so, daß ein qualifizierter Facharbeiter mehr Geld nach Hause trägt als ein Angestellter.

SÜHRIG: Natürlich. Von der materiellen Seite können wir also eine solche Gleichstellung mit dem Angestellten gar nicht erstreben, weil nämlich der Arbeiter zum Teil materiell besser gestellt ist als der Angestellte.

SPIEGEL: Sie streben also offenbar an, dem Arbeiter durch diesen zähen Streik gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen?

SÜHRIG: Sie sehen ja die gesellschaftliche Diffamierung der Arbeiter gegenüber den Angestellten in den gleichen Betrieben. Der Arbeiter muß, wenn er krank wird, seine Krankheit einfach unterdrücken, aus materiellen Gründen. Denn er weiß, daß einmal die dreitägige Karenzzeit auf ihn zukommt, in der er kein Geld bekommt; er weiß, wenn er lange krank ist, wenn er die drei Tage überschreitet, daß er nur 50 Prozent seines Nettoeinkommens bekommt, und das zwingt ihn einfach dazu, nun weiterzuarbeiten, wenn er gegenüber seiner Familie verantwortungsbewußt ist. Er darf die Krankheit also nicht hegen, möchte ich sagen. Er darf sich der Krankheit nicht hingeben, und daraus resultiert doch letzten Endes die frühe Invalidität. So kann man es in der Konsequenz sagen. Der Arbeiter wird veranlaßt, bei Grippe oder Erkältungserscheinungen sich weiter zur Arbeit zu schleppen, weil er es sich nicht leisten kann, krank zu sein. Der Angestellte kriegt sechs Wochen sein volles Gehalt weiter, wenn er krank wird. Da gibt es keine Karenztage.

SPIEGEL: Sie kennen den Begriff des »Krankfeierns«? Man meint, der Arbeiter bleibt einfach mal zu Hause, wenn er für den Fehltag seinen Lohn ohne weiteres bekommt.

SÜHRIG: Das haben die Arbeitgeber in Bonn recht oft strapaziert, und daraus haben sich häßliche Auseinandersetzungen ergeben. Die Argumentation der Arbeitgeber zielt darauf ab - und darin sehe ich die fürchterliche Diffamierung des Arbeiters: »Sonntag gesoffen, Montag blau.«

SPIEGEL: Ist das wörtlich so gesagt worden?

SÜHRIG: Ja, genau so. Das hat unseren Widerstand ausgelöst. Weiter hat es geheißen: Der Arbeiter kann nicht maßhalten, der Arbeiter wird diese neue Einrichtung, die für ihn gedacht ist, diesen Wegfall der Karenztage, über Gebühr strapazieren.

SPIEGEL: Haben die Arbeitgeber Beispiele für ihr »Sonntag gesoffen, Montag blau« angeführt?

SÜHRIG: Nein, sie konnten keine dafür bringen. Der Arbeiter ist auch nicht schlechter als der Angestellte. Wir haben an dem Beispiel der Badischen Anilin- und Sodafabriken demonstriert, daß in einem großen Betrieb von 20 000 Beschäftigten, wo diese Geschichte seit 1951 praktiziert wird, durchaus gute wirtschaftliche Erfahrungen gemacht wurden. Dort herrscht im Krankheitsfall Lohnfortzahlung für sechs Wochen, wie bei den Angestellten. Trotz strenger Kontrollen sind in einem Jahr nur zwanzig Entlassungen wegen grober Verstöße ausgesprochen worden, also ein Promille.

SPIEGEL: Es gibt Leute - wir wollen uns mit dieser Meinung nicht unbedingt identifizieren -, die sagen, daß ein Angestellter zu seinem Betrieb häufig ein anderes Verhältnis hat als ein Arbeiter, daß nämlich ein Angestellter normalerweise die Arbeit, die er zu tun hat, auch dann machen müsse, wenn er sonntags säuft und montags krank ist - dann muß er eben am Dienstag nacharbeiten. Ein Arbeiter hat nichts nachzuarbeiten. Wenn er nicht da ist, verringert sich eben die Produktion.

SÜHRIG: Das trifft ja auch nicht zu. Der Angestellte hat ja auch einen Tarifvertrag, und danach kann von keinem Angestellten verlangt werden, daß er Arbeit, die er tags zuvor versäumt hat, am nächsten oder übernächsten Tage nachholen muß.

SPIEGEL: Aber man könnte denken, der Arbeiter wechselt innerhalb des Betriebes, er wechselt von Betrieb zu Betrieb, er hat keine langen Kündigungsfristen. Die persönlichen Bindungen sind nicht so stark, da fehlt er eben mal, wenn er es nicht im Portemonnaie zu spüren bekommt. Der Angestellte ist auf die gute Beurteilung gleichbleibender Vorgesetzter angewiesen, da kann er sich häufiges Fehlen nicht leisten.

SÜHRIG: In bezug auf das Treueverhältnis ist folgendes festzustellen: Wir haben in Schleswig-Holstein eben in der Entwicklung dieser Streiksituation nach bundesstatistischen Unterlagen ermittelt, daß die Fluktuation der Arbeiter, von der man so gern bei den Arbeitgebern spricht, hier in der Metallindustrie Schleswig-Holsteins so gering ist, daß man auch von einem Treueverhältnis der Arbeiter sprechen kann. Es steht in Schleswig-Holstein fest, daß wir 30 Prozent der Beschäftigten über zehn Jahre in den Betrieben beschäftigt haben, daß über fünf Jahre etwa 55 Prozent beschäftigt sind, und daß etwa 80 Prozent der Belegschaft über zwei Jahre beschäftigt sind. Es kann also von einer großen Fluktuation oder von einem nicht vorhandenen Treueverhältnis gar keine Rede sein.

SPIEGEL: Ist es nicht so, daß die Gewerkschaft hier in Schleswig-Holstein schon immer schärfsten Widerstand von Arbeitgeberseite erfahren hat?

SÜHRIG: Nein, das kann man nicht sagen. Wir haben in der Vergangenheit zwar einige harte Sträuße ausgefochten. Ich war bis Oktober ein Dreivierteljahr krank, und ich hatte mir nicht vorstellen können, daß das bis dahin zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gültige Klima, das immerhin als recht gut bezeichnet werden kann, ein solches Ausmaß von Gegensätzen aufkommen lassen könnte. Ich war der Meinung, daß man mit den Arbeitgebern in Schleswig-Holstein in einer ruhigen und sachlichen Verhandlung sehr wahrscheinlich weiter zum Zuge kommen könne. Daß es diesmal nicht so war, daran sind aber wieder die Arbeitgeber schuld, und zwar deshalb, weil sie in die maßgeblichen Verhandlungen nicht die Leute, die sie sonst zu solchen Verhandlungen schickten, entsandt hatten, sondern daß sie hier Leute - ich möchte fast sagen, ohne einen Wertmaßstab anzulegen - der zweiten und dritten Garnitur, die keine Verantwortlichkeit hatten, entsandten.

SPIEGEL: Hier aus dem Arbeitgeberverband?

SÜHRIG: Ja - Leute, die aus eigener Verantwortlichkeit nichts entscheiden konnten, sondern erst bei den maßgeblichen Leuten rückfragen mußten, mit denen wir bis dahin zu tun gehabt hatten.

SPIEGEL: Das haben Sie als Arbeitnehmervertreter als einen gewissen Affront empfunden?

SÜHRIG: Ja, das kann man wohl sagen.

SPIEGEL: Haben Sie das nicht gegenüber dem Sozialpartner zur Sprache gebracht?

SÜHRIG: Doch. Die haben aber nicht geantwortet.

SPIEGEL: Bestand also mit diesen Herren keine Möglichkeit einer weiteren Verhandlung über den neuen Tarifvertrag?

SÜHRIG: Nein. Sie stellten sich auf den Standpunkt: keinen Pfennig, nicht zum Lohnausgleich, nicht zur Urlaubsvergütung. Sie waren nicht einmal bereit, darüber oder über die Urlaubszeit zu reden. Diese drei wesentlichen Forderungen, die den ganzen Tarifvertrag bestimmen sollten, waren also durch die Arbeitgeber ad absurdum geführt.

SPIEGEL: Daraufhin kam es dann zum Streik?

SÜHRIG: Ja, es gab für uns zu dem Zeitpunkt gar keine andere Möglichkeit, als jetzt unsere Mitglieder zu fragen: Wie verhaltet ihr euch denn zu dem Standpunkt der Arbeitgeber? Was wollt ihr damit anfangen? Und um ihnen die Abstimmung zu erschweren, haben wir die Abstimmung verbunden mit einer Streikabstimmung. Denn es ist ja leichter, zu einem Ergebnis ja oder nein zu sagen, wenn dahinter keine Konsequenzen stehen.

SPIEGEL: Sie haben den Arbeitern empfohlen, für einen Streik zu stimmen?

SÜHRIG: Wir haben unseren Kollegen gesagt: Wenn ihr das bis jetzt ausgehandelte Ergebnis, das an sich kaum etwas war, ablehnt, dann müßt ihr euch darüber klar sein, daß darauf nichts anderes folgen kann als eine Streikauseinandersetzung.

SPIEGEL: Wenn Sie jetzt einen neuen Schlichtungsversuch machen, haben Sie dann die erste Garnitur der Gegenseite am Tisch?

SÜHRIG: Ja. Vier führende Mitglieder des Arbeitgeberverbandes. Die Zusammensetzung ist dieselbe wie bei den Verhandlungen in Bonn, deren Resultat die Arbeiter dann ablehnten. Da war auch schön die erste Garnitur.

SPIEGEL: Ist nicht im Verlaufe des ganzen Arbeitskampfes der Glaube aufgetaucht, daß damit doch eine sehr schwerwiegende Grundsatz-Entscheidung verknüpft ist? Es ist doch so: Wenn diese Forderungen der Gewerkschaft in Schleswig-Holstein akzeptiert werden, wird die IG Metall sie in anderen Bundesländern ebenfalls erheben: beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, wo die Entscheidung dann für 900 000 Metallarbeiter zu fällen wäre. Wenn die Unternehmer in Schleswig-Holstein nachgeben, dann wird doch wohl ein Modellfall geschaffen?

SÜHRIG: Selbstverständlich ist für andere Tarifgebiete die Möglichkeit vorhanden, über neue Verbesserungen zu verhandeln.

SPIEGEL: Also Modellfall?

SÜHRIG: Das ist nicht unsere Auffassung, daß es Modellfall ist. Diese Auffassung ist von Arbeitgeberseite verbreitet worden.

SPIEGEL: In Ihren Streikversammlungen ist aber gesagt worden: Auf euch blickt die Arbeiterschaft im ganzen Bundesgebiet.

SÜHRIG: Das hat sich später erst entwickelt, als man aus dieser Geschichte eine Angelegenheit der Bundesrepublik machte. Nach acht Wochen Streik und dann erst Verhandlung bekam der Streik die besondere Bedeutung in den Augen der Arbeitnehmerschaft.

SPIEGEL: Dieser Streik ist in der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung ein sehr exzeptioneller Fall ...

SÜHRIG: Das kann man wohl sagen. SPIEGEL: Wenn man sich vorstellt, daß ein solcher Streik in Nordrhein-Westfalen passiert wäre ...

SÜHRIG: Ein solcher Streik, in Nordrhein-Westfalen geführt, von vierzehn Wochen Dauer, hätte das ganze Wirtschaftsleben in der Bundesrepublik zum Erliegen gebracht.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß es auch dort zu einem Streik kommen könnte?

SÜHRIG: Das kann man nicht abschätzen. Es ist möglich.

SPIEGEL: Auch so lange?

SÜHRIG: Das glaube ich deshalb nicht, weil ich der Ansicht bin, daß in Nordrhein-Westfalen ein Streik von acht Tagen Dauer bereits so schwierige Probleme aufwirft, daß dort mit ganz anderen Komponenten gerechnet werden muß.

SPIEGEL: Können Sie uns erklären, wie es dazu kam, daß die Arbeiterschaft sich gegen ihre eigenen Funktionäre stellte, als sie das Bonner Verhandlungsergebnis ablehnte? Herr Brenner, der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Metall, sagte doch, er sei ziemlich sicher, daß die Arbeiterschaft in Schleswig-Holstein die Bonner Vorschläge annehmen werde.

SÜHRIG: Der Auffassung waren wir auch.

SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, daß diese Auffassung so völlig falsch war?

SÜHRIG: Dafür sind einige Komponenten verantwortlich zu machen, und zwar vor allem die Presse.

SPIEGEL: Welche Presse?

SÜHRIG: Ich möchte verallgemeinern, eben die Presse.

SPIEGEL: Auch die Presse hier, die Streikpresse?

SÜHRIG: Nicht unbedingt.

SPIEGEL: Wieso soll denn die Presse daran schuld sein, daß der Streik nun fortgesetzt wurde?

SÜHRIG: Presse und Rundfunk. Als wir an dem Freitagmorgen nach ungefähr achtzehn Stunden, wenn nicht mehr, die Verhandlungen abschlossen...

SPIEGEL: Sie meinen jetzt die Bonner Verhandlungen?

SÜHRIG: Ja - und als die Verträge dort unterzeichnet wurden, da hat die Presse sich, wie sie das überhaupt gern tut, auf die Beine gemacht, um ihren Zeitungen Berichte zu schreiben. Sie hat das Ergebnis der Verhandlungen mitgeteilt, sie hat nur eines unterschlagen - und das ist das Wichtigste -, nämlich die Protokollnotiz zu diesen Verträgen. In dieser Protokollnotiz war vereinbart worden, daß diese Verträge, die dort getroffen und unterzeichnet waren, erst Gültigkeit erlangten, wenn die Instanzen der Arbeitgeberverbände und der IG Metall dazu Stellung genommen hatten. Daß diese Tatsache unterschlagen wurde, löste hier in Schleswig-Holstein einen so großen Schock unter unseren Kollegen aus, daß sie der Ansicht waren: Wir sind in Bonn verkauft und verraten worden.

SPIEGEL: Wann merkten Sie zum erstenmal, daß es so war?

SÜHRIG: Das erfuhr ich am ersten Sonntag nach dem Abschluß des Ergebnisses, als ich die erste turbulente Versammlung hier in Kiel erlebte, im Kreise von Funktionären. Schon da tauchte die Frage auf: Wir wollen ja gar nichts von euch, sondern unsere Haltung soll dazu beitragen, um euch den Rücken zu stärken gegenüber den Arbeitgebern; wir erwarten von euch nichts anderes, als wieder mit den Arbeitgebern in Verhandlungen einzutreten, um die Forderungen mehr und besser zu realisieren. Das klang mir auch in einer Funktionärsversammlung in Flensburg entgegen, noch während der Krisentage.

SPIEGEL: Sie haben sicherlich die Karikatur in der »Welt« gesehen, wie der Zauberlehrling »IG Metall« vergeblich versucht, die Streikflut zu beschwören, die er selbst hervorgerufen hat?

SÜHRIG: Eine schlechte Karikatur. So ist es ja gar nicht. In der »Frankfurter Rundschau« war übrigens auch eine: Otto Brenner als Löwendompteur.

SPIEGEL: Gefällt Ihnen die besser?

SÜHRIG: Na ja.

SPIEGEL: Meinen Sie nicht, daß die streikenden Metallarbeiter glaubten, sie seien von ihren eigenen Gewerkschaftsfunktionären verraten worden?

SÜHRIG: Das war die Meinung, die sich in diesen zwei Tagen festgesetzt hatte.

SPIEGEL: Haben Sie bestimmte Vorstellungen?

SÜHRIG: Ja, bestimmte Vorstellungen. Das Ergebnis einer solchen Meinung resultiert daraus, daß unsere Kollegen einfach nicht mehr bereit waren, unseren Aufklärungen Glauben zu schenken. Das ging so weit, daß sie unsere Streiknachrichten, die am Montag herauskamen, zerrissen und verbrannt haben oder in die Verwaltungsstellen zurückgeschickt haben. Sie wollten gar keine Aufklärung, nachdem sich jeder seine eigene Meinung gebildet hatte, nämlich die, die von Rundfunk und Presse vertreten wurde.

SPIEGEL: Dem haben Sie nicht entgegenwirken können?

SÜHRIG: Konnten wir nicht. Diese Meinung der Kollegen wurde noch bestärkt durch die ungeschickte Rundfunkansprache von Herrn Hassel. Er fühlte sich bemüßigt, eine persönliche Erklärung zu dem Ergebnis in Bonn abzugeben. Er verstieg sich so weit, zu erklären, daß man wegen dieses Ergebnisses nicht erst hätte nach Bonn fahren müssen, daß man dieses Ergebnis im Vergleich zu seinem Vorschlag als kein besseres Ergebnis bezeichnen könne. Diese Ansprache von Herrn Hassel hat bei unseren Kollegen die Meinung bestärkt: Also wenn der Hassel das schon sagt, dann wird schon etwas dran sein; dann ist es nicht besser geworden, das hätten wir schon vor sechs Wochen haben können, wenn wir den Hasselschen Vorschlag angenommen hätten. Damit hat Hassel dem Lande Schleswig-Holstein und der Wirtschaft in Schleswig-Holstein einen schlechten Dienst erwiesen, wie das gar kein Geringerer tun konnte.

SPIEGEL: Ist es denkbar, daß diejenigen von Ihnen, die in Bonn und erst in Kiel verhandelt haben, im stillen damit rechneten - wir wollen anders sagen: Von dem Herrn Bundeskanzler sagt man jetzt, er habe das Saarstatut den Franzosen seinerzeit nur unterschrieben in der festen Annahme, daß es in der Volks-Abstimmung der Saarbevölkerung doch fallen würde; dadurch habe er den Franzosen sagen können: Bitte, ich will, aber das Volk will nicht. Könnte man sagen, daß Sie als Streikleiter sagen: Ich will schon, aber meine Mitglieder...

SÜHRIG: Derartige Mätzchen kann sich vielleicht der Bundeskanzler erlauben. Vorstand und Bezirksleiter der IG Metall können das nicht. Das würde sicherlich recht schnell durchschaut. Das ist bei dem nüchternen Verstand, den die Arbeiter haben, einfach nicht möglich.

SPIEGEL: In welcher Form hat sich der Bundeskanzler eigentlich in Bonn persönlich zu dem Streik geäußert?

SÜHRIG: Er hat den beiden Parteien empfohlen, durch echte Verhandlungen einander näherzukommen.

SPIEGEL: Der Bundeskanzler hat es ausdrücklich abgelehnt, von Staats wegen in den Sozialstreit einzugreifen?

SÜHRIG: Er hat nur eine pauschale Empfehlung gegeben. Er hat den Arbeitgebern ganz deutlich zu verstehen gegeben, daß er ihre Haltung nicht verstünde. Er hat den Arbeitgebern ganz deutlich gesagt, man sollte sich nicht zieren und man sollte sich nicht an den bisher eingenommenen Standpunkt festklammern - - man sollte den Weg der Verständigung suchen. Und dort in Bonn haben die Arbeitgeber ja zum erstenmal ihre Bereitschaft zu einem gemeinsamen Gespräch während des Streiks zugestanden.

SPIEGEL: Und was sagte der Bundesarbeitsminister Storch? Welche Seite hat seiner Ansicht nach recht, wenn man von Recht und Unrecht hier überhaupt sprechen kann?

SÜHRIG: Wenn er ein kluger Minister ist, sagt er, beide.

SPIEGEL: Ist er ein kluger Minister?

SÜHRIG: Ich weiß es nicht. Gesagt hat er es nicht.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß die doch ungewöhnlich hohen Streikgelder, die Sie zahlen, nicht von Einfluß auf die Bereitschaft der Arbeiter sind, den Streik fortzusetzen? Sie wissen, was wir meinen.

SÜHRIG: Ist die Unterstützung wirklich so ungewöhnlich hoch?

SPIEGEL: Ist sie nicht höher als bei sonstigen Arbeitskämpfen, die in Schleswig-Holstein abrollten?

SÜHRIG: Sie ist durch Beschluß der Gewerkschaft inzwischen erhöht worden.

SPIEGEL: Was haben Sie bisher insgesamt an Streikgeldern gezahlt?

SÜHRIG: Bisher 30 Millionen Mark. Die Streikkosten einschließlich Sonderausgaben betragen jede Woche zwei Millionen Mark. SPIEGEL: Ist das nicht eine gewisse Gefahr für die Gewerkschaftskasse, für einen einzigen Zweck soviel Mittel aufzuwenden? Wenn nun berechtigte Forderungen auf der Lohnebene oder auf sozialpolitischem Gebiet in einem anderen Bundesland auftauchten, ob dann die IG Metall in der Lage wäre, solche berechtigten Forderungen in ähnlicher Härte durchzusetzen? Hat sich die IG Metall nicht zu stark entblößt für eine Grundsatzfrage nur um des Prestiges willen?

SÜHRIG: Diese Ausgaben für den Streik werden im Augenblick aus den laufenden Einnahmen gedeckt, aus den Mitgliedsbeiträgen der IG Metall.

SPIEGEL: Wirtschaftsunternehmen hat die IG Metall doch nicht?

SÜHRIG: Nein, die Finanzierung erfolgt nur aus den Beiträgen der IG Metall. Sie ist ja die größte organisierte Gewerkschaft.

SPIEGEL: Das ist aber nicht beschränkt auf Schleswig-Holstein, sondern es handelt sich hierbei um das ganze Bundesgebiet?

SÜHRIG: Ja. Die Streikkasse ist ja Sache des Bundes.

SPIEGEL: Da kann man sagen: Wenn kein Streik ist, dann verfügt die IG Metall über beträchtliche Einnahmen. Die werden gewiß kurzfristig kündbar zurückgelegt?

SÜHRIG: Ja, dann kann man operieren.

SPIEGEL: Wenn die IG Metall in jeder Woche mehr als zwei Millionen Mark Einnahmen hat, dann kann man sagen, daß sie eine große Wirtschaftsmacht darstellt. Es wäre aber denkbar, daß diese Gelder bei Banken angelegt werden, die einen plötzlichen Abruf großer Summen gar nicht gut vertragen können.

SÜHRIG: Da haben sich allerdings einige Schwierigkeiten aufgetan.

SPIEGEL: Jetzt schon?

SÜHRIG: Bei einzelnen Banken. Das müssen natürlich flüssige Gelder sein, die auf Abruf bereit sind.

SPIEGEL: Werden auch Streikende unterstützt, die nicht Mitglied ihrer Gewerkschaft sind?

SÜHRIG: Nein.

SPIEGEL: Wovon leben die denn jetzt?

SÜHRIG: Das wissen wir auch nicht.

SPIEGEL: Sind noch viele eingetreten, nachträglich, während des Streiks?

SÜHRIG: Zu Anfang des Streiks ist ein ganzer Teil Leute, die bis dahin unorganisiert waren, aufgenommen worden.

SPIEGEL: Die nun auch Streikunterstützung bekommen?

SÜHRIG: Nach unseren Satzungen sind sie zwar nicht bezugsberechtigt, aber durch einen Beschluß des Vorstandes wurde ihnen ein Betrag von wöchentlich 18 Mark für Ledige und 20 Mark für Verheiratete gegeben. Wie gesagt, kein statutarischer Anspruch, aber wir haben gesagt: Den Leuten muß etwas gegeben werden, die sind Mitglieder; wenn sie auch nur zwei Beiträge gezahlt haben, muß man ihnen Geld geben.

SPIEGEL: Man kann wohl sagen, daß 90 Prozent der Streikenden in den Genuß der Streikgelder kommen?

SÜHRIG: Das kann man sagen.

SPIEGEL: Und der nichtorganisierte Metallarbeiter. Was bekommt der?

SÜHRIG: Fürsorgeunterstützung.

SPIEGEL: Also keine Arbeitslosenunterstützung, sondern Fürsorge. Die muß er aber zurückzahlen.

SÜHRIG: Wenn er Geld hat. Aber das wird er nie haben. Er wird nie die Grenze erreichen, von der man eine Rückforderung wirksam werden lassen könnte.

SPIEGEL: Fühlen Sie sich für diese Leute, die treu und brav den Streik mitmachen und nicht zu Streikbrechern werden, irgendwie verantwortlich?

SÜHRIG: Natürlich.

SPIEGEL: Hat das auch materiellen Ausdruck gefunden?

SÜHRIG: Nein. Wir haben lediglich die Leute, von denen wir annehmen mußten, sie sind nicht gewerkschaftlich organisiert, aufgefordert, sie sollten sich in unseren Verwaltungsstellen registrieren lassen. Dieser Aufforderung ist niemand gefolgt.

SPIEGEL: Das war nach Beginn des Streiks?

SÜHRIG: Ja.

SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das?

SÜHRIG: Ja, vielleicht der Stolz, der in Schleswig-Holstein eigenartig entwickelt ist. Es gibt sicher Leute, die nicht organisiert, aber am Streik beteiligt sind, die sind nun zu stolz und sagen: Wir wollen von der Gewerkschaft, der wir keinen Beitrag gezahlt haben, kein Geld haben.

SPIEGEL: Was würde Ihrer Ansicht nach jetzt noch notwendig sein bei den neuen Verhandlungen, um die Zustimmung der Mehrheit der jetzt Streikenden zu bekommen?

SÜHRIG: Man kann in diesem Stadium nicht auf konkrete Dinge eingehen. Das würde nicht zweckmäßig sein. Im wesentlichen handelt es sich doch wohl auch um die Karenztage. Die Arbeiter sagen, uns sind die sieben Wartetage zuviel, wir wollen die Karenztage ganz beseitigt wissen. Es muß eine Klarstellung in bezug auf Urlaubsgeld erfolgen.

SPIEGEL: Urlaubsgeld ist ein Novum im Tarifvertrag?

SÜHRIG: Ja.

SPIEGEL: Urlaubsgeld bekommt der Angestellte in der Form auch nicht, allenfalls durch betriebliche Vereinbarungen.

SÜHRIG: Nun, wir kennen bei staatlichen Angestellten und Beamten das dreizehnte Monatsgehalt, zum Teil sogar vierzehn Monatsgehälter. Da sagt der Arbeiter nun: Ob man das dreiundfünfzigsten Wochenlohn oder Urlaubsgeld nennt, ist uns ganz Gottlieb Schulze. Er will eben ein Äquivalent haben.

SPIEGEL: Die kleinen Betriebe werden am meisten unter dem Streik leiden. Ein Gesichtspunkt, der bei den Bonner Verhandlungen auch auf Ihrer Seite eine Rolle gespielt hat, ist doch, daß man bei solch langfristigen Streiks eine große Verantwortung übernimmt. Wenn nun kleine Betriebe möglicherweise gezwungen werden, auf Arbeitsplätze zu verzichten ...

SÜHRIG: Das ist der Appell, den wir immer an die Arbeitgeber gerichtet haben. Wir sind absolut der Auffassung, daß unsere Verantwortlichkeit so weit gehen muß, daß der Ast, auf dem wir selber sitzen, von uns nicht abgesägt werden darf.

SPIEGEL: Wie ist es mit den oft harten Rückwirkungen? Es ist doch wohl damit zu rechnen, daß im Rahmen der gesetzlichen Kündigungsfrist Entlassungen stattfinden, weil die Unternehmer feststellen: Wir sind so matt und durch den Streik so getroffen, daß wir die Produktion nicht im vollen Umfang weiterführen können.

SÜHRIG: Das hat sich hier gezeigt bei MAK und bei Howaldt. Da wurden Angestellte entlassen. 350 Leute. Diese Kündigungen beziehungsweise Entlassungen sind damit motiviert worden, daß, wenn der Streik zu Ende ist, dann sehr wahrscheinlich Aufträge nicht mehr in dem bisherigen Umfang vorliegen und demzufolge auch die Beschäftigtenzahl nicht mehr in dem bisherigen Umfange aufrechterhalten werden könne. Die Entscheidungen vor dem Arbeitsgericht sind inzwischen dahin gelangt, daß diese Entlassungen für nichtig erklärt worden sind. Diese Angestellten sind zum Teil Mitglieder der IG Metall. Die mußten wiedereingestellt werden.

SPiEGEL: Haben Sie diese Angestellten vertreten?

SÜHRIG: Natürlich.

SPIEGEL: Wenn nun die Gewerkschaft und die Gewerkschaftsfunktionäre, die einen besseren Überblick als die Mitglieder haben, meinen, daß die Gewerkschaft sich selbst den Ast absägt, auf dem sie sitzt, nämlich die Produktionsbetriebe zum Erliegen bringt - haben Sie Möglichkeiten, etwa durch Änderung der Höhe der Streikbezüge, auf Ihre Mitglieder einzuwirken?

SÜHRIG: Nein, das ist völlig ausgeschlossen. Wir wären ja natürlich in der Lage gewesen, durch einen Beschluß des Vorstandes den Streik zu verhindern - theoretisch -, aber wie die Mitglieder darauf reagiert hätten?! Genauso ist es, wenn die Streikunterstützung unter irgendeinem Vorwand gekürzt wird.

SPIEGEL: Es ist also Ihre Absicht, unter allen Umständen völlige Übereinstimmung zwischen Ihnen und den Arbeitern zu erhalten.

SÜHRIG: Die Übereinstimmung ist, glaube ich, nie verlorengegangen.

SPIEGEL: Auch nicht, als Ihre Streikzeitungen zerrissen wurden? In den Krisentagen war doch wohl eine Vertrauenskrise, sicherlich auch zwischen Ihnen hier und Ihren unteren Funktionären, festzustellen.

SÜHRIG: Natürlich, weil sie eben nicht begreifen konnten, daß etwas ohne ihren Willen geschah.

SPIEGEL: Angenommen, es gelingt jetzt auch wieder nicht, in der Urabstimmung eine Mehrheit der Streikenden für diese neuen Vorschläge zu gewinnen, was wird dann?

SÜHRIG: Weiterstreiken.

SPIEGEL: Wird das nicht langsam ein finanzielles Problem?

SÜHRIG: Nein. Das kann man machen.

SPIEGEL: Es war in einer Hamburger Zeitung zu lesen, daß die IG Metall einen Kredit von sieben Millionen Mark aufgenommen hat, um weitere Streikunterstützung zahlen zu können.

SÜHRIG: Was sind das für arme Leute? Stellen Sie sich einmal die Praxis vor: Wenn die IG Metall sieben Millionen Mark Kredit aufnehmen wollte, so würde das bedeuten, daß sie dafür noch drei Wochen streiken könnte.

SPIEGEL: Sie könnten ja auch zur Bank für Gemeinwirtschaft gehen und würden dort die von Ihnen gewünschte Summe bekommen.

SÜHRIG: Natürlich.

SPIEGEL: Man argumentiert von Arbeitgeberseite auch so: In einem Stadium, wo die Industriebetriebe dazu übergehen, den Arbeitern ein gewisses Miteigentum einzuräumen, wäre es ohnehin überholt, noch solche robusten Arbeitskämpfe um Grundsatzfragen zu führen.

SÜHRIG: Von dem Miteigentum halten wir nicht viel.

SPIEGEL: Besteht eigentlich die Möglichkeit, daß die Gewerkschaftsmitglieder einen neuen Vorstand wählen, wenn sie wieder einmal mit den Ansichten ihrer Funktionäre nicht übereinstimmen?

SÜHRIG: Nein. Soweit geht die Demokratie nun wieder nicht.

SPIEGEL: Sie sind unabsetzbar?

SÜHRIG: In diesem Streik auf jeden Fall.

SPIEGEL: Auch in der Funktion als Streikleiter?

SÜHRIG: Ich bin ja durch die Tarifkommission Schleswig-Holstein in die Streikleitung berufen.

SPIEGEL: Es wäre denkbar, daß man von oben her eine andere Streikleitung einsetzen könnte. Sie wissen, daß derartige Dinge in der Diskussion sind?

SÜHRIG: Ich würde sagen, nicht in der verantwortlichen.

SPIEGEL: In Zeitungen war zu lesen, daß die Gewerkschaften in Bonn einem Kompromiß zugestimmt hatten, der von der Masse der Streikenden nicht gebilligt wird, und daß der Vorstand nun abtreten müßte.

SÜHRIG: Das ist in der Vergangenheit schon passiert. Diese Urabstimmung ist aber nicht erfolgt unter dem Gesichtspunkt, daß es eine ausgesprochene Opposition gegen die Führung der Organisation sein soll, sondern es handelt sich mehr um Unkenntnis, um falsche Propagierung.

SPIEGEL: Sie wissen, daß sich jetzt Stimmen erheben, die der Zwangsschlichtung das Wort reden, die Arbeitgeberverbände sind aber wohl nicht dafür?

SÜHRIG: Nein, die haben sich gegen eine solche Zwangsschlichtung ausgesprochen. Wieweit dieses Bekenntnis zur Ablehnung der Zwangsschlichtung echt oder Lippenbekenntnis ist oder aus taktischen Überlegungen erfolgt, entzieht sich unserer Kenntnis.

SPIEGEL: Es wäre denkbar, daß der Streik - sagen wir infolge der Hartnäckigkeit der Arbeitgeber - ad infinitum weitergeht. Werden Sie das durchhalten können?

SÜHRIG: Wenn die Arbeitgeber das verantworten können. Die Verantwortung liegt auf der Arbeitgeberseite.

SPIEGEL: In der Weimarer Republik hat es Zwangsschlichtung gegeben. Welche Erfahrungen hat man damit gemacht?

SÜHRIG: Schlechte. Zum Teil für beide Parteien. Es ist eine Flucht aus der Verantwortung. Das hat auch Bundesarbeitsminister Storch sehr oft unterstrichen, daß diese Flucht aus der Verantwortung die Demokratie doch recht gefährdet.

SPIEGEL: Der CDU-Abgeordnete Neuburger hat aber erklärt, daß die Zeit gekommen sei, die Autonomie der Sozialpartner bei solchen Streiks als überholt zu erklären.

SÜHRIG: Ja, schön, es muß aber an die Wahlen gedacht werden. Keine Partei wird die unpopuläre Angelegenheit einer Zwangsschlichtung befürworten. Das würde den gesamten Widerstand aller Gewerkschaften auslösen.

SPIEGEL: Hängt die kommende Bundestagswahl irgendwie mit diesem Streik zusammen?

SÜHRIG: Nein. Die Forderung, um die gekämpft wird, wurde im April 1956 aufgestellt. Es ist wohl undenkbar, daß damals in der Perspektive gehandelt wurde, für das Jahr 1957 einen Streik zu probieren, der irgendwie die Wahlen beeinflußt.

SPIEGEL: Wir können davon ausgehen, daß die Regierung der Bundesrepublik im Augenblick von Kräften getragen wird, die den Arbeitgebern näherstehen als den Gewerkschaften, und daß die Kräfte jetzt gar kein Interesse daran haben können, die Gewerkschaften und ihre Mitglieder angesichts der Wahl vor den Kopf zu stoßen. Meinen Sie, daß diese Situation nicht jene hemmt, die sonst gegen Sie ganz anders argumentieren würden?

SÜHRIG: Nur zum Teil. Wenn es gelingt - und das ist der ganze Tenor -, den Kampf in Schleswig-Holstein in den Augen der Öffentlichkeit zu diffamieren - die Wirtschaft, wird erschüttert, Betriebe gehen zugrunde und wie die Dinge heißen -, dann dürfte es im Wahljahr dem Staat leichter fallen, mit einem Machtwort hier einzugreifen. Ich habe jene Kreise im Verdacht, daß sie absichtlich diese Situation provozieren, um auch aus einer für sie psychologisch ungünstigen Lage herauszukommen.

SPIEGEL: Sie meinen also, daß es solcher Agitation bedürfe, weil der Streik zunächst einmal sehr populär sei?

SÜHRIG: Ja, natürlich ist er populär. Wir wissen es genau.

Streikleiter Sührig (r.), SPIEGEL-Redakteure* im Kieler Gewerkschaftshaus

Die Welt

Der Zauberlehrling von Schleswig-Holstein

* Kurt Blauhorn (l.), Hans Dieter Jaene.

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