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RÜSTUNG / FORCE DE FRAPPE Keule im Keller

aus DER SPIEGEL 48/1965

Düsenbomber donnern westwärts. Sowjetische Panzerrudel malmen über Felder und Autobahnen. Die schwarzen Rauchschwaden der Napalm-Feuer verdüstern den Himmel über den Städten. In Europa gehen wieder die Lichter aus.

Vor zwei Tagen haben sowjetische Verbände südlich Lübeck auf breiter Front die Zonengrenze überschritten. Die 6. deutsche Panzergrenadierdivision und die hinzugezogenen dänischen Truppen sind aufgerieben. Die amerikanischen Marine-Infanteristen, die in Dänemark landen sollten, blieben aus.

Hamburg ist gefallen. 200 sowjetische T-54-Panzer überrollten die Stadt. Teile der sowjetzonalen 8. motorisierten Schützendivision halten Hafen, Flughahen und alle wichtigen Gebäude besetzt. An Mauern und Litfaßsäulen erscheinen Proklamationen einer »sozialistischen Stadtverwaltung«. Die 20. sowjetische Gardearmee hat West-Berlin genommen. Russische Jagdbomber und Raketenbataillone suchen den Widerstand deutscher Verbände im Raum Hannover zu zerschlagen. Der Hauptstoßkeil der Sowjet-Truppen rückt entlang der Autobahn Hannover-Ruhrgebiet zügig vor. Reste der britischen Rheinarmee sammeln sich bei Bielefeld.

Die Bundeswehrführung hat vom Nato-Kommando den Einsatz taktischer Atomwaffen gefordert - ohne Erfolg. Amerikanische »Phantom«-Kampfflugzeuggeschwader, die in der Eifel, in der Pfalz und in Bayern stationiert waren, wurden nach England verlegt. Vor dem Weißen Haus in Washington, aber auch in San Francisco, Detroit und New York demonstrieren hysterische Menschenmassen: »Kein neues Vietnam!« »Denkt an unsere Kinder!« »Warum sterben für Berlin?« Zur selben Stunde - am dritten Tag der sowjetischen Aggression - bahnt sich in einem Felsenkeller, 20 Kilometer nordwestlich Paris, die Wende an.

Dort, in 40 Meter Tiefe unter den Gipssteinbrüchen von Taverny, sitzen zwei Dutzend Männer um einen Konferenztisch: der französische Premierminister und die führenden Offiziere des französischen Generalstabs. Am Kopfende: der Präsident der Republik, General de Gaulle.

Auf der acht Meter langen Kartenwand links vom General wird Zug um Zug auf Ausschnitts- und Übersichtskarten projiziert, was das elektronische Fernmeldezentrum des Befehlsbunkers aus Funksprüchen, Radar-Aufklärung und Computer-Berechnungen über die immer bedrohlichere Feindlage meldet: Die bestausgerüstete Nato-Truppe, die amerikanische 7. Armee, weicht

nahezu kampflos zurück und gibt den Sowjets den Weg nach Ulm, Würzburg und Frankfurt frei. Die Panzerspitze des russischen Hauptstoßkeils nähert sich dem Ruhrgebiet.

Da gibt der General das Zeichen. Der französische Botschafter in Moskau empfängt über einen direkten Draht Order, die Sowjets zu warnen: »Wenn die russischen Verbände nicht sofort zurückgezogen werden, ist mit einem atomaren Gegenschlag zu rechnen.«

Sekunden später öffnen sich die hellblauen Stahltüren vor den Beton-Hangars in Mont-de-Marsan, Cazaux, Istres, Orange, auf zehn Flugplätzen zugleich hasten Piloten und Navigatoren zu ihren Maschinen. Weithin kenntlich mit ihren knallig roten Schwimmwesten, dem blauen Overall und den weißen Helmen, erklimmen sie die Kanzeln. Düsentriebwerke brüllen auf.

Fünf Minuten nach dem Alarmsignal hebt sich vom Boden, was die Sowjets erzittern lassen und Europa vor der Heimsuchung des Dritten Krieges retten soll - Inbegriff französischer Machtvollkommenheit im atomaren Zeitalter: de Gaulles Abschreckungswaffe »Force de Frappe«.

Glitzernden Riesenpfeilen gleich, zwei Mann im Cockpit, zwei Triebwerke von je 15 000 PS Leistung im Rumpf, stürmen die Düsenbomber »Mirage IV« steil in den Himmel. Unter den silbrigen Deltaschwingen leuchtet Frankreichs Kokarde, unter dem bleistiftspitzen Rumpf dräut tödliche Fracht, vier Meter lang, eine Armlänge im Durchmesser: Frankreichs Atombombe - mit einer Vernichtungskraft dreimal so groß wie die der Hiroshima-Bombe.

In 12 000 Meter Höhe, nur noch als winzige Gleißpunkte am Himmel sichtbar,

donnern die Atombomber mit fast zweifacher Schallgeschwindigkeit zunächst in die Lufträume über Dänemark, Griechenland und der Türkei - zum Rendezvous mit den dort kreisenden Tankflugzeugen.

In einem kniffligen Manöver nähert sich jeder der Mirage-Bomber einem der vierstrahligen Boeing-Tanker »KC-135« bis auf wenige Meter, klinkt die Rumpfspitze in den Füllstutzen des Tankschlauchs ein und läßt 14 000 Liter Kerosin in seine Treibstofftanks pumpen. Keinen Augenblick darf der Pilot den immer noch fast schallschnellen Bomber um mehr als 50 Zentimeter nach rechts oder links vom Kurs abweichen lassen. Zehn Minuten dauert das Auftanken im Fluge.

Dann jagen die Mirage-Bomber, wieder mit Höchstgeschwindigkeit, ihren Zielen im Roten Reich entgegen: Moskau, Kiew, Minsk und Kasan sollen im atomaren Feuer verglühen.

Aber die todgeweihten Sowjetstädte bleiben dann doch verschont. Die Mission der blauweißroten Schreckenspfeile ist erfüllt, bevor sie ihre Zielorte erreicht haben. Ein Funkspruch aus dem Bergbunker bei Taverny ruft die Mirage-Bomber zurück: Die Sowjets haben sich der atomaren Drohung gebeugt. Die russischen und sowjetzonalen Divisionen werden den westdeutschen Boden wieder räumen. Auch West-Berlin wird wieder frei.

Anfängliches Kriegsglück sowjetischer Aggressoren, Wankelmut der amerikanischen Bündnispartner, Einsatz der Mirage-Bomber und schließlich Rückzug der roten Divisionen sind die Programmpunkte eines militärischen Planspiels, das im Kommandostand der Force de Frappe bei Taverny Routine geworden ist.

In Hunderten von Variationen, von denen eine unlängst in dem französischen Nachrichtenmagazin »L'Express« geschildert wurde, haben Frankreichs Generale das atomare Sandkasten-Kriegsspiel exerziert - stets triumphiert die »Grande Nation«. Solche Sandkasten-Siege sind nötig, denn sie allein vermögen Daseinsberechtigung und Nutzen des aufwendigsten, ehrgeizigsten, aber auch umstrittensten Waffensystems in Europa zu beweisen.

Kein anderes Waffensystem der Atom-Ära hat so viel emphatische Begeisterung und zugleich so herbe Kritik auf sich vereinigt wie die Force de Frappe.

Gaullisten innerhalb und außerhalb Frankreichs nennen sie »die einzig sichere Abschreckung, die Europa besitzt« (so Frankreichs Premier Georges Pompidou), und den »Garanten unserer Sicherheit, Befreier unserer Jugend« (so »Paris Match").

Atom-Träumer in der Bundesrepublik hoffen immer noch - solange sie nicht selber die Hand am atomaren Drücker haben -, Retter de Gaulle werde im Ernstfall »schießen mit allem, was er hat« (Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier), und mit der atomaren Keule drohen, wann immer ein roter Angreifer die Zonengrenze überschreitet. Als »ein gigantisches Mißverständnis das zu einer gigantischen Katastrophe führen könnte« umschrieb der amerikanische Kolumnist Joseph Alsop die Force de Frappe. »Nicht ultima ratio, sondern ultima dementia«, und"eines der kostspieligsten Prestige -Symbole der Weltgeschichte, aber kein Instrument der Abschreckung« nannte es der deutsche Publizist und Hochschullehrer Georg Picht.

Das Standard-Kriegsspiel von Taverny, so meinen die Gegner der Force de Frappe, verdiene eben jenen Namen, den Frankreich seinem Atombomber

gab: »Mirage« zu deutsch: Trugbild, Wahnvorstellung, Selbsttäuschung.

»Die Force de Frappe«, verkündete demgegenüber Verteidigungsminister Pierre Messmer Ende letzten Monats, als vor dem französischen Parlament der Wehr-Etat 1966 verhandelt wurde, »ist eine Realität. Jedermann innerhalb und außerhalb Frankreichs muß mit der französischen Atombewaffnung als einer vollendeten Tatsache rechnen.«

Messmer erteilte Auskunft über den derzeitigen Stand und die für 1966 vorgesehenen Planziele der gallischen-Atomrüstung:

- 24 Atombomber des Typs Mirage IV sind gegenwärtig »fast einsatzbereit« (Messmer). Bis Ende 1966 sollen rund 50 der insgesamt 62 geplanten Mirage-Bomber startklar sein. Auch alle zehn geplanten Startbasen für die Mirages sollen bis Ende nächsten Jahres fertig sein.

- Auf dem Raketen-Versuchsgelände Biscarrosse im Departement Landes (an der französischen Atlantikküste) soll in den kommenden Monaten die zweistufige Mittelstreckenrakete der Force de Frappe (Reichweite: 3000 Kilometer) erstmals im Flug getestet werden.

- Im Herbst 1966 sollen

im Departement Vaucluse, 70 Kilometer nördlich Marseille, die Bauarbeiten an den unterirdischen Silos für Raketen dieses Typs beginnen. Die ersten der geplanten 30 Abschuß -Silos sollen 1968 fertig sein.

- Teststände für die Erprobung der 'französisehen Wasserstoffbombe, die in einigen Jahren das

Vernichtungspotential der Force de Frappe ergänzen soll, werden demnächst im südlichen Pazifik fertiggestellt; bislang sind Frankreichs Bombentester in der Sahara tätig.

- Im Laufe des kommenden Jahres sollen zum erstenmal französische Feststoff-Raketen von dem Versuchs-U-Boot »Gymnote« unter Wasser abgeschossen werden - nach dem Vorbild der amerikanischen Polaris-Raketen. Frankreichs erstes Atom-U-Boot ist schon im Bau, ein zweites wird im Januar auf Kiel gelegt. Voraussichtlicher Einsatztermin: 1973.

Was Pierre Messmer in seiner Zwischenbilanz Ende Oktober aufzählen konnte, ist das Ergebnis einer allfranzösischen Anstrengung, die Frankreichs Militär-Budget und sein Reservoir an Forschergeist, Technikertalent und industrieller Kapazität seit einem halben Jahrzehnt aufs äußerste belastet hat.

Im nächsten Jahr, wenn de Gaulles Bomber-Staffeln startklar sind, wird Frankreich über ein Atom-Arsenal verfügen, das etwa einem Zweitausendstel

- zwei Promille - der amerikanischen

Atommacht gleichkommt. Dafür hat die Nation in den vergangenen fünf Jahren rund 40 Milliarden Mark bezahlt - das Fünffache von dem, was die Vereinigten Staaten für die Entwicklung ihrer Atombombe (Projekt Manhattan) aufgewendet haben, rund vierzigmal soviel, wie alle 60 000 Beschäftigten des französischen. Automobilkonzerns Renault im Jahr verdienen.

Mehr als 60 Prozent aller Mittel, die in Frankreich wissenschaftlicher Forschung gewidmet werden, gelten der französischen Atomrüstung. 150 000 Ingenieure, Techniker und Arbeiter aus 250 Industriebetrieben sind, wie unlängst der Generalstabschef der französischen Marine, Admiral Cabanier, bekanntgab, allein an der Entwicklung des ersten blauweißroten Atom-U-Bootes beteiligt.

Der Entschluß, der französischen Nation mit einer eigenen Atombombe wieder Großmachtprestige zu verschaffen, reicht zurück in die Ära der Vierten Republik, als General de Gaulle noch in Colombey-les-Deux-Eglises seiner Erlöser-Rolle entgegenharrte. Der konkrete Plan einer kompletten französischen Atomstreitmacht zu Lande, zu Wasser und in der Luft wurde erst 1960 gebilligt von einer (durch Geschäftsordnungstricks tragfähig gemachten) Minderheit der Nationalversammlung, nachdem ihn, wie die »Neue Zürcher Zeitung« damals meldete, »der Senat zweimal mit wuchtigen Mehrheiten verworfen« hatte. Doch bereits acht Jahre zuvor hatte die französische Atomenergiekommission in Gang gesetzt, was die Voraussetzung für jeden Eigenbau von Atombomben sein würde: die - Produktion spaltbaren Materials.

Zwei Wege hatten amerikanische wie sowjetische Physiker vorexerziert, die

Urkraft zu entfesseln, die im Atom verborgen liegt.

- Der eine Weg, weniger kostspielig

und vergleichsweise minder kompliziert: Das in der Natur vorhandene, schwer spaltbare Uran 238 wird in einem langwierigen Reaktor-Prozeß in leicht spaltbares Plutonium umgewandelt - Material für eine Atombombe, wie sie auf Nagasaki fiel.

- Der andere Weg, technisch höchst

diffizil: Aus dem Uran wird - in Tausenden von Arbeitsstufen - das nur in Spuren (0,7 Prozent) darin enthaltene leicht spaltbare Uran 235 extrahiert. Dieses Verfahren ermöglicht die Massenproduktion von Atombomben und liefert zugleich einen entscheidenden Ausgangsstoff für die Wasserstoffbombe (H-Bombe). Amerika und Rußland hatten beide Verfahren nebeneinanderher vorangetrieben. Frankreich wählte zunächst den billigeren Weg. Anfang der fünfziger Jahre schickte der französische Atomkommissar und spätere Premierminister Felix Gaillard Geologen und Prospektoren aus, mit Geigerzählern nach Uranerzvorkommen zu suchen- im Dschungel von Nigeria, Gabun und Madagaskar ebenso wie in der Vendee (südlich der Loire-Mündung), den mittelfranzösischen »Monts du Forez«, in der Bretagne und den Vogesen.

Bei Le Bouchet (in der Nähe von Paris) und bei Malvezy (nahe der Mittelmeerküste) wurden kostspielige Anlagen zur Aufbereitung des Uranerzes errichtet. Bereits 1962 wurden eine Million Tonnen Roherz geschürft und daraus 1550 Tonnen natürliches Uran gewonnen - erstmals genug, um Frankreich vom Uranerz-Import unabhängig zu machen.

700 Millionen Mark kostete die erste Reaktor-Großanlage zur Gewinnung von Plutonium, mit deren Planung 1952 begonnen und die bei Marcoule am Unterlauf der Rhone errichtet wurde (jährliche Betriebskosten: 57 Millionen Mark).

Ende 1959 lieferte Marcoule das erste spaltbare Material. De Gaulle nahm es in Kauf, daß ein Gramm des französischen Plutoniums 800 Mark kostete, das Vierfache des amerikanischen Plutoniumpreises. 10 000 Gramm, also Plutonium im Wert von acht Millionen Mark, brauchen die Franzosen für jede der Atombomben, wie sie im Rumpf der Mirage-Flugzeuge eingeklinkt sind.

Am 13. Februar 1960 war es soweit: Über der mit Sandwällen abgeschirmten Sahara-Oase Reggane wuchs zum erstenmal der tödliche Rauchpilz einer französischen Atombombe in den Himmel - 15 Jahre nach der amerikanischen, elf Jahre nach der sowjetischen. Luftdruckmesser und Seismographen registrierten eine Sprengkraft wie von 55 000 Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs TNT - rund 20mal so viel, wie 800 alliierte Bomber im Februar 1945 über Dresden abgeworfen hatten.

»Hurra für Frankreich«, triumphierte der General im Elysee. »Welt«-Leitartikler Hans Zehrer freute sich mit: »Auf diesem alten Kontinent, der bisher machtlos zwischen den großen Weltmächten lag, existieren (nun) eigene Machtmittel der Abschreckung ... eine europäische Bombe.« »Bild« sekundierte: Europa müsse nun nicht mehr »am Katzentisch sitzen«.

Inzwischen liefert Frankreichs Plutonium-Fabrik Marcoule (drei Brut -Reaktoren sind in Betrieb, ein vierter ist im Bau) jedes Jahr rund 100 Kilogramm spaltbares Material, genug für zehn Atombomben - zu wenig, um Frankreichs Gloire zu sichern.

Schon 1957, im Gefolge der Suez -Krise, beschlossen die Franzosen, sich auch den zweiten Zugang zur atomaren Bombe zu erschließen und eine jener gewaltigen Industrie-Anlagen zu errichten, die den Serienbau von A-Bomben sowie die Herstellung von H-Bomben ermöglichen: eine Isotopen-Trennanlage zur Gewinnung von Uran 235.

Was die Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs in der Geheimstadt Oak Ridge (US-Staat Tennessee) und die Sowjets - mit Hilfe deutscher Wissenschaftler - 1945 bei Suchumi am Schwarzen Meer aufbauten, lassen französische Techniker nun im Rhonetal oberhalb Marcoule emporwachsen, in Pierrelatte.

1967 soll die Atomfabrik Pierrelatte voll in Betrieb genommen werden. Sie wird der größte Industriekomplex Frankreichs sein. Geschätzte Gesamtbaukosten: sieben Milliarden Mark. Voraussichtliche jährliche Unterhaltungskosten: 400 Millionen Mark. Fünftausend Ingenieure werden in Pierrelatte arbeiten. In jeder Stunde wird das Werk 300 000 Kilowatt Strom verbrauchen, die gesamte Energie des Rhone-Kraftwerkes Donzere-Mondragon - das entspricht der gesamten Kraftwerks-Leistung des Landes Baden-Württemberg.

Als im Sommer dieses Jahres der amerikanische Air-Force-Pilot Joseph P. Smith mit seinem »Voodoo«-Aufklärer - die Kamera war; wie es hieß, versehentlich eingeschaltet - den U-förmigen Gebäudekomplex überflog, der eine Fläche von der vierfachen Ausdehnung des Berliner Olympia-Stadions

bedeckt, war erst eine der vier geplanten Mammutwerkhallen in Betrieb.

Jede der Werkhallen aber bildet nur eine Stufe in dem kompliziertesten und aufwendigsten industriellen Prozeß, den es heute auf Erden gibt: Natürliches Uran, chemisch in Gasform umgewandelt, wird in einem Labyrinth von Röhren und Pumpen durch Tausende von Diffusions-Membranen hindurchgepreßt, die jeweils eine Milliarde Poren pro Quadratzentimeter aufweisen.

Das Uran 235 passiert die Membranen um einen winzigen Bruchteil leichter - auf diese Weise nimmt seine Konzentration im Ausgangsmaterial, jeweils nur um Promillewerte, langsam zu.

Das jetzt in Betrieb befindliche Werk I kann allenfalls zweiprozentiges Uran-235-Gemisch liefern;, erst wenn alle vier Werke in Betrieb sind, wird sich 99 prozentiges Gemisch herstellen lassen - Material für die Bombe und Brennstoff für die Antriebsaggregate der geplanten Atom-U-Boote. Es wird, nach Schätzung der Experten, rund zehnmal so teuer sein wie das amerikanische Uran 235.

Frühestens Ende dieses Jahrzehnts wird also jener atomare Rohstoff verfügbar sein, der Frankreich auf einer noch höheren Ebene »den Eintritt in den Kreis der wahrhaft großen Mächte« (so der ehemalige Informationsminister Jacques Soustelle) verschaffen soll. Doch schon jetzt fiebern Frankreichs Atomgläubige jener Sekunde entgegen, da sie der Welt jene nächste Eskalationsstufe der Force de Frappe vor Augen führen wollen:

17 000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt, bereiten französische Techniker das makabre Schauspiel vor. Drei Inseln im Pazifik - Mururoa, Tahiti und Fangataufa - werden dafür hergerichtet. Jeder Bolzen, jede Schraube muß aus Frankreich herangeschafft werden; so wird der Bau der Testanlagen für die Explosion der ersten französischen Wasserstoffbombe rund 5,5 Milliarden Mark kosten. Wenn - wahrscheinlich 1970 - der atomare Feuerball emporzuckt, wird das Pazifik-Eiland Mururoa aufgehört haben zu existieren.

Frankreich indessen mochte sich nicht damit begnügen, nur die Vernichtungskraft des Atoms in seinen eigenen Labors und Werkhallen zu Bomben zu ballen. Es strebte nach vollkommener Autarkie des Schreckens.

Gallisches Ingenieurs-, und Militärgenie kreißte, und es gebar, was General de Gaulle für ein zukunftssicheres und unverwundbares System von Trägerwaffen hält, die Frankreichs Atombomben jederzeit ins ferne Feindziel tragen könnten.

Mehr als 100 französische Firmen wurden beauftragt, die 62 bombentragenden Silberpfeile zu bauen: die Mirage-Bomber. Das Flugzeug, eine vergrößerte Version des überschalljägers Mirage III, wurde buchstäblich um Frankreichs Plutoniumbombe herum konstruiert (die, verglichen mit amerikanischen Bomben gleicher Sprengkraft, noch immer ein Vielfaches an Raum einnimmt). Im Juni 1964 verließ die erste serienmäßig hergestellte Mirage IV das Flugzeugwerk Dassault in Merignac nahe Bordeaux; seither werden in jedem Monat zwei Maschinen fertig. Stückpreis: 35 Millionen Mark.

Aber das ist nur die erste Generation der Force-de-Frappe-Waffen. Von Anfang der siebziger Jahre an sollen Frankreichs Atombomben ferngelenkt ins Ziel befördert werden.

Die Ingenieure der staatlichen Raumfahrt- und Rüstungsfirma Sereb entwarfen eine zweistufige, knapp 20 Meter hohe Mittelstreckenrakete, die aus, unterirdischen Silos abgefeuert werden und eine Wasserstoff-Sprengladung tragen soll, fünfmal so stark wie die Atombombe im Rumpf der Mirage IV. Ein Vorläufer des Mittelstrecken-Projektils, die Feststoff-Rakete »Topaze«, wurde 1962 bei Hammaguir in der Sahara mit Erfolg getestet.

In einem Wasserbassin bei Cadarache in der Provence schließlich, in dem die Wellenbewegungen des Meeres nachgeahmt werden können, dümpelt - zur Erprobung - ein weiteres Teilstück der

de Gaulleschen Schreckenswaffe: Ein schwimmendes Stück Bootsrumpf beherbergt den Experimentalreaktor »Azur«, aus dem der Antrieb für Frankreichs Atom-U-Boot entwickelt werden soll. Den Brennstoff, 440 Kilogramm Uran 235, mußten sich die französischen Techniker, mangels eigener Masse, von den Amerikanern zur Verfügung stellen lassen (Preis: 230 Millionen Mark; Auflage der Lieferanten: nur für Versuchszwecke an Land).

Jedes der fußballfeldlangen französischen Atom-U-Boote (130 Meter lang, 8000 Tonnen, 25 Knoten schnell) wird 16 Raketen mit sich führen, jede mit einem Sprengsatz von der fünfzigfachen Zerstörungsgewalt der Hiroshima -Bombe. Insgesamt drei solcher schwimmenden und tauchenden Abschußbasen - Stückpreis: eine Milliarde Mark - sollen dereinst den Feind von allen Weltmeeren her umlauern. De Gaulle: »Es ist notwendig, daß wir unserer Force de Frappe die Möglichkeit geben, überall auf der Erde zuzuschlagen.«

Der unterirdische Kommandostand, von dem aus der atomare Keulenschlag geführt werden kann, ist schon vollendet: im Felsenkeller bei Taverny.

Im Frühjahr 1944 hatten deutsche Truppen das Stollenlabyrinth des Gipsbruchs mit Stahlträgern und Beton versteift; in den Kriegskatakomben sollten V-2-Raketen montiert werden. Nun verwandelten französische Militärs den Wehrmachtsbunker in eine Art Atom -Hilton - für den General und 299 Auserwählte.

»Spartanisch elegante Zimmer für die Verantwortlichen«, so schwärmte »Paris Match«, »Konferenzraum... gefilterte Atemluft, eigenes Trinkwasser aus einigen hundert Meter Tiefe, fünf Tonnen Lebensmittel, eine gemeinsame Küche, alles funktioniert elektrisch ... Herz und Hirn der französischen Atommacht.«

In einem unterirdischen Saal, terrassenförmig gestaffelt nach Art eines Amphitheaters, reihen sich Stufe um Stufe elektronische Schaltpulte, Meßpunkte geistern auf fluoreszierenden Radarschirmen, ein halbes Dutzend Weltkarten-Projektionen, jede von der Größe einer riesigen Filmleinwand, bedecken das Halbrund der sechs Meter hohen Stirnwand - das ist die Befehlszentrale des Strategischen Luftwaffenkommandos in Omaha (US-Staat Nebraska), wo 600 Generale, Stabsoffiziere und Techniker die amerikanische Atommacht dirigieren.

Im Gipskeller von Taverny sind es nur sechs Männer, die jeweils über die atomare Schreckensmacht ihrer Nation wachen. Hinter einem klaviergroßen Telephonschrank sitzt der Fernmeldeoffizier und hält Verbindung zu Radarstationen und Bomberbasen. Ein anderer Offizier bedient das Regiepult des Elektronenrechners »Strida 2«; der auf Abruf farbige Kartenprojektionen mit den Freund- und Feind-Standorten liefert.

Auf einer erhöhten Kanzel, ähnlich einer Kino-Loge, sitzen der Kommandant und sein Adjutant. Sie dürfen Frankreichs Force de Frappe befehlen, den atomaren Gegenschlag auslösen - wenn es der General befiehlt.

Der General - noch ohne Raketen, ohne Atom-U-Boote und H-Bomben glaubt schon jetzt an die Schreckkraft der Force de Frappe wie an sein eigenes Charisma. Unter den Kristallüstern in der goldverzierten Empfangshalle des Elysee-Palastes verkündete er Mitte September: »Wenn unsere gegenwärtigen Verpflichtungen abgelaufen sind, also spätestens 1969, werden wir jener Unterordnung ein Ende machen, die man Integration nennt und die unser Schicksal in die Hände fremder Mächte legt.«

Tiefes Mißtrauen in die Verläßlichkeit von Bündnispartnern ist das eine Grundmotiv des Force-de-Frappe-Konzepts. »Ein Mann hat Freunde«, dekretierte Charles de Gaulle, »eine Nation kann sie nicht haben.« Der General bezweifelt - wie inzwischen auch seine Anhänger in der Bundesrepublik -, daß die Amerikaner ihren europäischen Verbündeten im Ernstfall atomaren Feuerschutz gewähren würden.

Zweites Motiv: Frankreich, in seinem Streben nach »grandeur«, verlangte - schon lange ehe de Gaulle die Großmachträume artikulierte - nach jenem Status-Symbol, das auch manchen westdeutschen Politikern als höchster und einziger Ausweis wahrer Souveränität gilt: »Alle, die nicht den Finger am

atomaren Abzug haben«, so formulierte es der Vizepräsident des französischen Verteidigungsausschusses, Alexandre Sanguinetti, »können nur Hilfsvölker sein.«

Seit zwei Jahrzehnten beweist die Entwicklung in den Einflußbereichen beider Atom-Großmächte - die Aufweichung des Ostblocks und der unaufhaltsame Aufstieg des Sowjet-Rivalen China ebenso wie etwa die Minderung des US-Einflusses in Mittel- und Südamerika und das Vietnam-Debakel -, wie wenig politische Macht von Waffen ausgeht, deren Prinzip es ist, nicht anwendbar zu sein.

Doch Frankreich, die Nation, die im 18. Jahrhundert für Europa die Fackel der Vernunft entzündet hatte, entzog sich dieser paradox anmutenden Logik des Atomzeitalters - es wählte die Illusion.

Am Anfang war der Wille zur Bombe. Das strategische Konzept, ersonnen diesen irrationalen Wunsch nach dem Signum der Macht militärisch zu rechtfertigen, wurde nachgeliefert - ein Vorgang, den die Psychiater eine »nachgeschobene Motivation« nennen.

Chef-Ideologen der französischen Atomstreitmacht und Ersinner ihres strategischen Konzepts sind der ehemalige Luftwaffengeneral Pierre Gallois, heute Direktor der Flugzeugwerke Marcel Dassault (die den Mirage-Bomber fertigen), und General Charles Ailleret, Chef des französischen Generalstabs.

Wie Eugen Gerstenmaier, der zur Veranschaulichung seiner Zwei-Brennpunkt-Theorie gern selbstgefertigte Papp-Ellipsen aus der Rocktasche zieht, so reiste auch Pierre Gallois, begeisterter Amateurmaler, Mitte der fünfziger Jahre mit bunten Illustrations-Tafeln von Vortrag zu Vortrag, von Vorzimmer zu Vorzimmer, um seine Atom-Thesen an die Politiker zu bringen. Sein Kredo:

- Frankreich ist nur dann sicher vor einer Aggression, wenn es eine strategische Atommacht besitzt, die im Ernstfall ihre städtezerstörende Vernichtungskraft ins Land des Gegners tragen kann. Denn:

- Kein noch so starker Gegner wird es riskieren, Frankreich anzugreifen, wenn er todsicher damit rechnen muß, daß auch nur einige seiner Städte bei einem atomaren Vergeltungsschlag verglühen.

Mit einer kleinen atomaren Keule, so erläuterte Gallois, sei sogar, ein Land wie die Schweiz stark genug, einen Gegner wie die Sowjet-Union oder Rotchina von einem Angriff abzuschrecken.

Mit dieser Konzeption griffen Frankreichs Militärs jenes strategische Rezept auf, das die Amerikaner in der Dulles-Ära für brauchbar hielten, inzwischen aber als überholt verworfen haben: das Prinzip der »massiven Vergeltung« ("massive retaliation").

Während die Amerikaner die Atomschwelle - den Zeitpunkt, da der Einsatz atomarer Waffen unvermeidbar wird - möglichst hochzuschrauben und somit den Spielraum für Verhandlungen in die Länge zu ziehen trachten, spannte Frankreich den atomaren Stolperdraht wieder ganz vorn: Im selben Augenblick, da die gegnerische Aggressionsabsicht deutlich erkennbar wird, soll sich die Force de Frappe mit »dem Mechanismus eines Uhrwerks« (Gallois) in die Lüfte heben und dem Feindesland entgegenbrausen.

Wenn der mögliche Gegner, so meinen die französischen Atomstrategen, um diesen Automatismus der Vergeltung wisse, dann müsse Frankreichs »Waffe der Abschreckung« glaubhaft sein.

Gerade in diesem Punkt aber erscheint das strategische Konzept der Force de Frappe höchst zweifelhaft. Die markanteste Formel der Kritik fand der amerikanische Kolumnist Walter Lippmann, der vorletzte Woche in der »New York Herald Tribune« meinte, die französische Atommacht habe mit einer glaubhaften Abschreckungswaffe so wenig gemein »wie echtes Geschmeide mit einer Imitation«

Selbst 1975, am Gipfelpunkt der jetzigen Force-de-Frappe-Planung wird Frankreich über weniger als ein Prozent des amerikanischen oder des sowjetischen Atomkriegs-Potentials verfügen:

- Frankreichs derzeitige Atombombe hat eine Sprengkraft von rund 50 Kilotonnen. 1970 werden die Franzosen Bomben von einer Megatonne (1000 Kilotonnen) ins Ziel bringen können. Amerikaner und Sowjets vermögen schon jetzt H-Bomben zwischen 25 und 100 Megatonnen ins Ziel zu befördern.

- Den 1967 einsatzbereiten 62 Mirage -Bombern stehen schon heute 200 russische und 1100 amerikanische Atombomber gegenüber, jeder einzelne mit ungleich größerer Bombenlast als die Mirage.

- 25 französische Mittelstreckenraketen; schußbereit 1970, konkurrieren mit derzeit 1200 amerikanischen und 300

sowjetischen Interkontinentalraketen.

- Den drei geplanten französischen Atom-U-Booten, startklar frühestens 1973, stehen schon jetzt 41 amerikanische und 16 sowjetische gegenüber. »Wir können«, suchte General de Gaulle Hinweise auf dieses Mißverhältnis zu entkräften, »dem Gegner eine Hand abschlagen - das genügt.«

Aber so fraglich es angesichts des militärischen Niveau-Unterschiedes erscheint, ob dieser Schlag auf die Hand eines Gegners je würde treffen können, so sicher ist auch, daß ein solcher atomarer Handstreich einen vernichtenden Konterschlag zur Folge hätte. Gesetzt, die Force de Frappe zermalmte einige Sowjet-Städte - ein kleines und dicht besiedeltes Land wie Frankreich würde Minuten später durch sowjetische Raketen, wie die »Zeit« formulierte, »in ein radioaktives Leichenschauhaus verwandelt«. »Frankreich«, so umschrieb es Theologie-Professor Georg Picht in einem Essay über die Force de Frappe, »hat sich durch seine atomare Rüstung die Freiheit erobert, jederzeit einen Akt des Wahnsinns begehen zu können*.«

Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Sowjet-Union, wenn sie sich wirklich zu einer massiven Aggression in Europa entschlösse, auch das Risiko auf sich nehmen würde, einige ihrer Städte zu opfern. Wahrscheinlicher aber ist, daß die Sowjets dieses Risiko gar nicht erst werden kalkulieren müssen. Sie werden im Gegenteil davon ausgehen können, daß General de Gaulle jenen atomaren Hebel nicht betätigen wird, der Frankreichs Souveränität auf die Freiheit reduziert, den atomaren Selbstmord zu begehen.

Grotesk muß angesichts dieses Dilemmas die Hoffnung westdeutscher De-Gaulle-Freunde wie etwa des CDU -Chefs Konrad Adenauer anmuten, der westliche Nachbar werde »auf jeden sowjetischen Angriff (mit einem) sofortigen, wenn auch kleinen Atomschlag« antworten. Es ist nicht vorstellbar, daß Frankreich um der Bundesrepublik oder West-Berlins willen den Atom-Selbstmord riskieren würde.

So hat denn auch Force-de-Frappe-Theoretiker Gallois nie Zweifel daran

gelassen, daß Frankreich seine Bombe, wenn überhaupt, erst werfen werde, wenn der Feind im Begriff sei, seinen Fuß in das »Allerheiligste« ("sanctuaire")' zu setzen, er also französischen Boden betritt. Und General de Gaulle selbst hat stets vermieden, seine pauschalen Schutz-Versprechungen zu definieren. Den tastenden Versuch Bonns, sich an der Force de Frappe zu beteiligen und dafür atomares Mitspracherecht einzuhandeln, beschied der General - im Sommer 1964 - mit einem »Non«. Frankreichs Freiheit zum Selbstmord ist unteilbar.

Längst ist de Gaulles Traum von Atom-Größe zum »Alptraum der Nato« ("Industriekurier") geworden. Im gleichen Maße, wie sich Frankreich der Atom-Heilslehre verschrieb, schrumpfte es seine konventionelle Wehr.

Bei der Festlegung des Militärbudgets im Oktober dieses Jahres wurden die Etatposten für den Bau des französischen Standardpanzers »AMX-30« sowie für die Fertigung von Jagdflugzeugen, Lastwagen und Hubschraubern um 20 bis 30 Prozent gekürzt. Seit Ende des Algerienkrieges entließ der General eine halbe Million Mann aus den französischen Streitkräften; Frankreichs Armee hat derzeit mit 510 000 Mann den niedrigsten Personalbestand seit 1880.

De Gaulle entzog der Nato Zug um Zug Divisionen, Fliegerstaffeln und Schiffsverbände, er nahm in Kauf, daß der deutsche Nachbar wieder zur stärksten konventionellen Streitmacht Europas aufwuchs - alles, um eine Atomstreitmacht aufzubauen, deren militärischer Nutzen fragwürdig ist: Die Force de Frappe ist nicht nur ihres strategischen Widersinns, sondern auch ihrer militärtechnischen Mängel wegen zur Abschreckung untauglich.

»Frankreich«, so umriß Force-de-Frappe-Kritiker Picht die Ursache dieser Unzulänglichkeit, »ist in den atomaren Wettlauf mit einer Verspätung von 15 Jahren eingetreten und will mit dem fünfzehnten Teil der Mittel den qualitativen Vorsprung der großen Atommächte einholen.«

Niemals zuvor in der Geschichte der Kriegstechnologie war das Entwicklungstempo so rasant wie in der Ära der Atombomben und Interkontinentalraketen. Alle fünf Jahre, so schätzen die Experten, wird jeweils ein Waffensystem, für dessen Entwicklung und Verwirklichung Milliardenbeträge aufgewendet wurden, durch, eine neue Generation von Waffen übertrumpft. Jede Stufe dieser waffentechnischen Eskalation kostet das Drei- bis Zehnfache der vorhergehenden: Nur die beiden Supermächte haben noch genug wirtschaftlichen Atem, in diesem gigantischen Rüstungsrennen einander auf den Fersen zu bleiben. Und selbst sie scheinen nunmehr gewillt, die wachsende Ausgabenflut durch Vereinbarung von Rüstungsbeschränkungen einzudämmen.

Während die Franzosen ihre erste Mittelstreckenrakete noch auf den Prüfständen erproben, sind Sowjets wie Amerikaner schon dabei, zum Schutz ihrer Städte Anti-Raketen-Raketen zu installieren.

Noch sind die französischen Atom -U-Boote nicht gebaut (das einzige bisher auf Kiel gelegte Boot mußte wieder abgewrackt werden, weil der Rumpf für den Atomreaktor zu eng bemessen war). Aber schon jetzt ist abzusehen, daß sie 1973, zum vorgesehenen Einsatztermin, ebenso veraltet sein werden wie die Raketen, die sie an Bord haben: Bis dahin werden die elektronischen Spüreinrichtungen der amerikanischen und sowjetischen atomgetriebenen (doppelt so schnellen) Jagd-U-Boote (etwa des Typs »Thresher") so weit fortentwickelt sein, daß die französischen Atom -U-Boote aller Voraussicht nach schwerlich zum Schuß kämen.

Erst recht wird den Franzosen unerreichbar bleiben, was dem Visionär im Elysee-Palast vorschwebt: der Traum von einer französischen Autarkie der Abschreckung. Denn die Waffensysteme des 'Atomzeitalters sind nur funktionsfähig, wenn sie sich technischer Apparaturen von planetarischer Ausdehnung bedienen können.

Ohne das weitverzweigte Warn-, Beobachtungs- und Nachrichtennetz der Amerikaner würde Frankreichs künftige Raketen- und U-Boot-Streitmacht

- einem Überraschungsangriff mit sowjetischen Raketen nahezu schutzlos ausgeliefert sein und

- den etwaigen atomaren Vergeltungsschlag nicht treffsicher ins Ziel führen können.

Das geographische Fünfeck zwischen Ärmelkanal und Mittelmeer liegt knapp sieben Raketenminuten von der Sowjet -Union entfernt. Ohne Benutzung der vom Nordkap bis zum Kaukasus reichenden Nato-Warnkette, nur mit einem innerfranzösischen Radar-System, müßte die Warnzeit bei einem Atomschlag der Sowjets auf knapp zwei Minuten schrumpfen - zu wenig, um eine Atom-Vergeltung auszulösen.

Auch die geplanten Atom-U-Boote der Franzosen, als kaum verwundbare Abschußbasen des Vergeltungsschlags gepriesen, wären ohne technische Hilfeleistung der Amerikaner nicht verläßlich: Ein weltumspannendes Netz von Aufklärungs- und Navigationssatelliten liefert der amerikanischen Polaris-Flotte metergenaue Vermessungsdaten über den jeweiligen Abschuß-Standort der U-Boote und über den angepeilten Zielpunkt. Ohne ein solches Hilfssystem würden die meisten der von schwimmenden Basen abgefeuerten Atom-Raketen unweigerlich ihre Ziele verfehlen.

Trotz allem - mit der Unbeirrbarkeit eines Heilskünders ist General de Gaulle durchdrungen von der Zuversicht, »daß keine Macht der Erde uns den Tod bringen kann, ohne eine Vergeltung fürchten zu müssen«. Frankreichs Atom-Strategen glauben sich schon jetzt - mit den Mirage-Bombern und ihrer Vernichtungslast - ihrer Sache sicher, wie die Kriegsspiele im Felsenkeller von Taverny beweisen.

»Ist das noch ein Flugzeug«, schwärmte die französische Staats-Illustrierte »Paris Match« über die Mirage-Bomber, »dieser graue Blitz, dieser Donner, der stärker ist als der Donner selbst? In einigen Sekunden wird der Blitz über Bordeaux sein. In wenigen Minuten könnte er den Eisernen Vorhang überfliegen. In einer Stunde...«

An dieser Stelle unterbricht der Illustrierten-Autor seine visionäre Schilderung. In der Tat: Eine Phantasie, die sich an den kriegstechnischen Gegebenheiten des Atomzeitalters orientierte, könnte von da an den Mirage-Staffeln nur noch Düsteres prophezeien.

Das wissen auch französische Experten. So schrieb ein anonymer Offizier des französischen Generalstabs in der Fachzeitschrift »L'Armée": »Nur Diskretion und Nachsicht zwingen dazu, über das Ergebnis von Studien bezüglich der Überlebenschancen (solcher Flugzeuge) zu schweigen.«

Um möglichst schnell zu einem fliegenden Atombomben-Träger zu kommen, begnügten sich die Franzosen mit einem Düsenbomber von beschränkter Reichweite; die Mirage IV könnte von Hause aus allenfalls die westlichen Randgebiete der Sowjet-Union erreichen. Hilfslösung: Frankreich kaufte von den Vereinigten Staaten zwölf Tankflugzeuge »KC-135« (Kosten einschließlich Unterhalt bis 1970: acht Milliarden Mark), von denen die Mirage-Bomber im Fluge neuen Treibstoff übernehmen. Damit wurde ihr Aktionsradius auf etwa 4000 Kilometer erweitert (siehe Graphik Seite 115).

Nicht anders als die Nato-Sphäre ist jedoch auch der Ostblock von einem lückenlosen, weit hinausfächernden Schirmwall von Radarstationen umgeben. Jeder Mirage-Bomber, der beim Anflug auf Sowjetziele von den elektronischen Fühlern dieses Radarsystems erfaßt würde, wäre Minuten später durch selbstlenkende Abwehrraketen ("Sam II") abgeschossen.

Um den Radar-Tentakeln zu entgehen, müßten die Mirage-Bomber im Tiefflug über sowjetische Steppen und Wälder fegen - herkömmliches Radar könnte sie dann nicht ausmachen. Zugunsten dieser Flugtaktik mußten die Franzosen freilich wiederum Nachteile in Kauf nehmen.

Wie der Starfighter der Bundeswehr, so wurden auch die Mirage-Bomber dafür konstruiert, in Flughöhen von etwa 15 000 Meter große Entfernungen mit fast doppelter Schallgeschwindigkeit zu überbrücken. Im Tiefflug können sie - wie der Starfighter - nur mit Unterschallgeschwindigkeit (Mach 0,9) fliegen, bei fast dreifachem Treibstoffverbrauch (160 Liter je Minute). Damit verringert sich die Reichweite wieder.

Zudem haben die Sowjets in den letzten Jahren in der Nähe ihrer wichtigsten Städte und Industriezentren eine neuartige Abwehrrakete ("Sam III") installiert, die auf tieffliegende Feindflugzeuge spezialisiert ist. Geriete ein Mirage-Bomber für nur 30 Sekunden in den Streubereich einer Sam-III-Batterie

- seine Mission wäre jäh beendet.

Ob »Sam III« zum Zuge kommt, muß freilich bezweifelt werden. Die Silberpfeile der Force de Frappe werden wahrscheinlich schon auf sowjetischen Radarschirmen erkennbar sein, wenn sie noch in den Rendezvous-Räumen über Dänemark, Griechenland oder der Türkei ihre Tank-Manöver ausführen. Augenblicks würden sodann sowjetische Abfangjäger starten, um den französischen Bombern schon an den Grenzen des Sowjetbereichs aufzulauern.

Allenfalls zwei oder drei der französischen Atombomber, so mußten denn auch selbst Fürsprecher der Force de Frappe einräumen, könnten im Ernstfall ihre designierten Ziele in der Sowjet-Union erreichen - unter der Voraussetzung, daß alle geplanten 62 Mirage -Bomber von den Startpisten in Frankreich abheben.

Ständig eine Staffel atombombenbewehrter Mirage-Flugzeuge am Himmel patrouillieren zu lassen, wie es die amerikanische Luftwaffe tut, kann sich Frankreich nicht leisten. Jede Mirage-Flugstunde kostet 80 000 Mark. Auch nur einen einzigen Bomber ein Jahr lang in der Luft zu halten, würde eine Dreiviertelmilliarde Mark verschlingen. Tag und Nacht, jeweils in Vier-Stunden-Schichten, sitzen deshalb in den Betonblockhäusern der französischen Bomberbasen die Männer in blauem Overall und knallroter Schwimmweste zeitunglesend, nüsseknabbernd und fernsehend in Bereitschaft - jederzeit gewärtig, auf das Alarmsignal aus Taverny hin ihre weißen Helme aufzustülpen und im Laufschritt zu den Hangars zu eilen. Ob sie im Ernstfall noch genügend Zeit fänden, die Cockpit -Hauben über sich zu schließen, ist zweifelhaft.

Den Sowjets wird keiner der zehn über Frankreich verteilten Mirage-Flugplätze unbekannt sein. Längst sind die geographischen Koordinaten der zwei Kilometer langen Rollfelder - metergenau - in der elektronischen Zielautomatik russischer Projektile gespeichert. Zehn der 800 auf Europa gerichteten Sowjet-Raketen genügen, das Trugbild der französischen Atommacht auszulöschen.

* »Die Force de Frappe - Europas Hoffnung oder Verhängnis«, herausgegeben von Hans Dieter Müller. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau; 124 Seiten, 9,90 Mark.

Französische Atombombe: Die Grande Nation triumphiert...

... stets im Sandkasten: Bomben-Besitzer de Gaulle (r.), Messmer

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... ein Hurra für Frankreich: Testpuppen auf dem Atom-Versuchsgelände in der Sahara

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Bombenfabrik-Besucher de Gaulle*

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Force-de-Frappe-Befürworter Gerstenmaier

»Schießen mit allem, was er hat«

Force-de-Frappe-Kritiker Picht

»Die Freiheit zum Wahnsinn erobert«

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...das Trugbild auszulöschen: Mirage-Besatzungen im Bereitschaftsraum

Das freie Wort

Selbst ist der Mann!

* Im weißen Strahlenschutz-Mantel bei

einem Besuch in Pierrelatte.

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