KGB: »Das Schwert trifft auch Unschuldige«
Vielleicht gibt es Krieg mit Wasserstoffbomben. Was ist dann? Was für einen Sinn hat es, über das Morgen nachzudenken?« So grübelt ein junger Sowjetbürger, Sohn eines hohen Geheimpolizisten. Weil er keine Antwort findet, ergibt er sich einem »zügellosen Leben«. Er nimmt Drogen und leistet einem alten Antikommunisten in Moskau Beistand bei der Wühlarbeit.
Das Schicksal des jungen Nihilisten schildert ein sowjetischer Roman ("Petrowka 28") von strenger Regimetreue und mit systemtypischem Happy-End: Der junge Übeltäter wird verhaftet. »Petrowka«-Autor Julian Semjonow, 53, schreibt die populärsten Bücher der Sowjet-Union. Mit seinen Trivialwerken wirbt der russische Konsalik für eine nicht ganz so populäre sowjetische Institution: das Komitee für Staatssicherheit, das KGB (Komitet Gosudarstwennoj Besopastnosti).
Semjonow, der in den siebziger Jahren als Korrespondent der »Literaturzeitung« in Bonn arbeitete, fabuliert in einem anderen Buch über einen Sowjetbürger namens »Schlauberger«, der - vom Konkurrenzdienst CIA mitten in Moskau angeheuert - am Ende seiner treulosen Karriere in Afrika umkommt.
Hier erfährt der Leser, wie geschickt KGB-Beschatter eine verdächtige Person beim Jogging in einem Moskauer Park oder unterwegs aus drei schnellen Wagen heraus (mit Autotelephon) observieren. In jedem der Spionage-Thriller Semjonows sind die KGB-Helden edelmütige und vornehme Herren, dem Leser als Vorbild anempfohlen.
Die fiktiven Gestalten müssen etwas tun für den Ruf ihrer Behörde. Der bisher prominenteste Sowjet-Überläufer, Arkadij Schewtschenko, einst Vize-Generalsekretär der Uno, beschrieb die lähmende Wirkung der drei Anfangsbuchstaben auf seine Landsleute: »Jeder hat Angst vor dem KGB.«
Das ist durchaus der Zweck dieser Geheimpolizei - Furcht im Volk zu erzeugen, mithin Wohlverhalten und Gehorsam. Die mächtige Behörde mit ihren rund 90 000 hauptamtlichen Geheimen, 300 000 uniformierten Staatsschützern und 1,75 Millionen nebenberuflichen Spitzeln, die das Sowjetland kontrollieren und die übrige Welt ausspionieren, diese Behörde sehnt sich aber auch nach Anerkennung, wenn nicht Zuneigung. Das ist verständlich. Der Organisation hängt immer noch der Blutgeruch ihres Vorläufers aus der Revolutionszeit an, der »Tscheka«, und ihrer Nachfolger aus der Terrorzeit, GPU und NKWD.
Deren Schreckensmethoden hat das KGB weitgehend abgelegt; die politische Funktion aber ist die gleiche geblieben: die 273 Millionen Sowjetbürger mit einem stählernen Reifen zu umschließen, so daß unberechenbare Einzelaktionen unmöglich, individuelles politisches Handeln unvorstellbar, der Appell an sowjetische Verfassungsgarantien im Keime erstickt werden.
Inzwischen schickt sich das KGB an, auch die Partei in die eigenen Dienste zu stellen. Zu diesem Behufe gilt es, das Image der Vergangenheit zu überwinden. Das KGB paßt sein öffentliches Bild den eigenen Plänen an. Der erste Schritt dient der Selbst-Romantisierung, der nächste dem KGB-Heldenkult.
Ihrem erfolgreichsten Kollegen, Richard Sorge, dem deutschen Agenten in Tokio, der Stalin vergebens vor Hitlers Überfall gewarnt hatte, errichteten die KGB-Leute 1981 ein Helden-Denkmal in Baku, ihre DDR-Kameraden stifteten ihm eine Briefmarke. Ein Westfilm über ihn lief in allen Sowjetkinos.
Semjonow schrieb über Sorge einen Krimi, in dem der Deutsche als Späher »Stirlitz« auftritt, der dann in weiteren Büchern noch viele andere Abenteuer zu bestehen hat. Stirlitz verkleidet sich als SS-Obersturmbannführer, schlüpft unter Sowjet-Emigranten, enttarnt den ukrainischen Partisanenführer und Sowjetfeind Stepan Bandera (der spätere
Bundesminister Theodor Oberländer kommt auch vor), dringt ins Führerhauptquartier ein (ein freundlicher Hitler rettet gerade den Dirigenten Herbert von Karajan vor Goebbels) und verhindert sogar die Allianz der Nazis mit den Amerikanern gegen die Sowjet-Union.
Die Kunstfigur Stirlitz, beliebt wie andernorts James Bond, trat auch in einer Fernsehserie vor das Sowjetvolk. Doch wo der Brite en passant noch Teil eines kapitalistischen Sittengemäldes ist, bleibt Stirlitz in revolutionärer Keuschheit stecken: ein Idealist.
Die KGB-Geheimpolizisten von heute geben sich harmlos als »Grenzschützer« oder »Kundschafter« aus, tätig an der »unsichtbaren Front«. Um die mörderische Vergangenheit zu bewältigen, nennt die sowjetische Führung ihre geheimen Wächter inzwischen gern »Tschekisten«. Werber Semjonow pries (in »Diamanten für die Diktatur des Proletariats") die Bemühungen eines Tschekisten von 1921, konfiszierte Kunstschätze im Ausland gegen Devisen loszuschlagen.
Semjonows jugendfreie Botschaft: »Es ist unmoralisch, sich an einem Verbrechen zu beteiligen, selbst wenn man es im Namen des Guten tut.« Unter diesem Vorzeichen sind binnen zwei Jahrzehnten mindesten 2400 Bücher in der UdSSR erschienen, deren Autoren für die Staatssicherheitsorgane Stimmung machen.
Offenbar sind es nicht genug: Im Mai dieses Jahres schrieb das KGB einen öffentlichen Wettbewerb in der Militärzeitung »Roter Stern« aus, um »die weitere Steigerung des geistig-künstlerischen Niveaus der Literaturerzeugnisse, _(Uno-Angestellter Wassilij Awerjanow ) _(leert 1977 in der Umgebung von New York ) _(einen »toten Briefkasten«. )
Kino- und Fernsehfilme mit tschekistischer Thematik und dadurch die Mobilisierung neuer schöpferischer Kräfte zu fördern«.
Den Niveau-Siegern winken Geldprämien, Diplome, Abzeichen, »kostbare Geschenke« und Ehren-Urkunden des KGB der UdSSR: So wird das Außergewöhnliche, der allgegenwärtige Herrschafts- und Kontrollapparat, zur Normalität unter der sowjetischen Intelligenzia.
Jede staatliche Verlags- und Funkanstalt, Redaktion, Filmfirma und Künstlervereinigung darf bis zu drei Vorschläge an folgende Adresse schicken: Moskau, Zentrum, Dserschinski-Straße Nr. 2. Dort, auf einer Anhöhe, steht ein gelber Häuserblock, der optisch die Stadt beherrscht - in Wahrheit aber das ganze Land.
Hinter den sechs Stockwerken der neugotischen Fassade residierte einst die Versicherungsgesellschaft »Rossija« (Rußland). Kein Schild verrät, wer heute hier amtiert, doch jeder weiß es. Den achtstöckigen Bau daneben, wo früher das von Deutschen bevorzugte Hotel Billo stand, zogen nach 1945 deutsche Kriegsgefangene hoch; vor drei Jahren wurde der Komplex restauriert und erweitert.
Nebenan liegt das Kaufhaus »Kinderwelt«. Das KGB-Hauptquartier nennen die Moskauer »Die Welt der Erwachsenen« oder nach einem längst hier zugeschütteten Flüßchen die »Lubjanka«, die Liebliche.
In der »Lubjanka« haben alle wichtigen Staatsfeinde eingesessen: Eine Zellenwelt der Gleichen, die alten Bolschewiki neben Bürgern, Bauern, Bonzen - in den Kellergewölben, die sich in mehreren Etagen Tiefe unter dem Vorplatz erstrecken, auf dem heute der Verkehr kreist.
Wie es in dieser Unterwelt des Stalinismus inzwischen aussieht, ist unbekannt; nur noch ein Seitenflügel der Lubjanka mit hundert Einmann- und ebensoviel Viermannzellen dient inzwischen als KGB-Gefängnis. Die Inhaftierten dürfen ihre Freistunde auf dem Dach verbringen - abgeschirmt durch eine Mauer. Der Lubjanka-Schornstein dient nicht mehr wie früher einem hauseigenen Krematorium.
Längst sind die großen, hellgrün gestrichenen Räume der Untersuchungsbeamten in viele kleine Büros aufgeteilt. In diesem Haus wurden höchst unterschiedliche Verdächtige vernommen: Komintern-Kurier Herbert Wehner, Nazi-Propagandist Hans Fritzsche, der Retter von tausenden ungarischen Juden, Raoul Wallenberg, der einstige Hausherr Lawrentij Berija, Nobelpreisträger Solschenizyn, US-Luftspion Powers - und die ungezählten unbekannten Opfer eines Systems, das sich selbst nur bestätigen konnte, indem es Schuldige produzierte: Schuldige an der Verzögerung des Reichs der Freiheit, das die Parteigründer angekündigt und dessen Pforten sich doch nicht geöffnet hatten.
Der jeweilige KGB-Chef residiert in einem Prunksaal im dritten Stock. Dort hat einst Hausherr Abakumow eigenhändig Hättlinge geprügelt, nachdem eine Schondecke gegen Blutspritzer über den Teppich gebreitet worden war. Unter dem in diesen Dingen zurückhaltenden Jurij Andropow - dem ersten Geheimpolizeichef, der es auch zum Partei- und Staatschef brachte - ging dort selbst nachts das Licht nicht aus. So dachten auch späte Passanten, daß der Chef immer über sie wache.
Zum Einkauf von Mangelware im eigenen Sonderladen ihrer Behörde müssen _(Titel: »Wer sind Sie, Dr. Sorge?« )
die »Kagebetschiki« (Volksmund) auf die andere Seite jenes Platzes über den alten Zellengewölben gehen, den Chruschtschow 1961 mit einem Denkmal des ersten Tschekisten Dserschinski schmückte. Auch Reformer Chruschtschow, der aus Selbsterhaltungstrieb die Macht seiner geheimen Staatspolizei drastisch beschnitten hatte, hielt dafür: »Unsere Tschekisten sind in ihrer überwältigenden Mehrheit ehrliche Arbeiter ... Wir haben Vertrauen zu diesen Kadern.«
Die Kader standen nicht an, das Vertrauen zu kontrollieren. Dabei entwickelten sie neues Taktgefühl. In den Worten des West-Experten Georgij Arbatow, mit Andropow einst gut bekannt: »Das KGB von heute ist nicht mehr jene stereotype Terrororganisation, obwohl auch keine Wohlfahrtsbehörde.«
Gleichwohl ist die selbstauferlegte Imageverbesserung fällig: Nicht nur weil sich die Behörde ein geneigtes Publikum wünscht, sondern auch, weil das KGB wieder einmal in internationalen Verruf geraten ist.
In der für Ausländer gesperrten Rüstungsstadt Gorki hält das KGB einen der kundigsten Atomphysiker der UdSSR unter Verschluß, ohne den auch dort erforderlichen Gerichtsentscheid - Andrej Sacharow. Der Professor hatte außer dem Stalinpreis für den Bau der sowjetischen Wasserstoffbombe auch den Friedensnobelpreis für seine Zweifel am System (1975) empfangen.
Als im Ausland vermutet wurde, Sacharow, der am 2. Mai in den Hungerstreik getreten war, und seine Frau Jelena Bonner seien gar nicht mehr am Leben, konnte oder wollte das KGB sein Opfer nicht leibhaftig vorzeigen - nur nichtssagende Photos, die der KGB-Agent Viktor Louis der »Bild«-Zeitung Axel Springers übergab.
Zu spät: Die Sacharow-Affäre ist längst eine Niederlage des KGB geworden. Bei seiner Visite in Moskau machte sie Frankreichs sozialistischer Präsident Mitterrand zum Bankett-Thema. Gastgeber Tschernenko war außer sich.
Das nächste KGB-Versagen zeichnete sich ab, als das Sicherheitskomitee die zivile Elite der Sowjet-Union, die Spitzensportler, von den Olympischen Sommerspielen 1984 abhielt, weil es ihre Fahnentreue nicht garantieren konnte - es sei denn, in Los Angeles wäre eine KGB-Enklave ohne Demonstrationsfreiheit und menschliche Kontakte etabliert worden. Andere Pannen und Blamagen sollten folgen:
KGB-General Arkadij Guk, Resident in London, ignorierte landesverräterische Angebote des Briten Michael Bettaney, Abteilungsleiter »Sowjet-Union« bei der englischen Spionageabwehr MI 5. Dessen Landsmann Dennis Skinner, ein Doppelagent, stürzte auf nicht mehr ungewöhnliche Weise aus dem elften Stock seiner Moskauer Wohnung; für die Briten ist er ein Mordopfer des KGB. Derlei ordinäre Stillosigkeit schien in die Roman-Phantasie eines Le Carre ("Der Mann, der aus der Kälte kam") verbannt: Nun blamierte das KGB die ganze Branche.
Und in Rom lieferte ein Staatsanwalt seinen Untersuchungsbericht über den Papst-Attentäter Mehmet Ali Agca ab, wonach eine »äußerst einflußreiche Kraft« entschieden hätte, »daß es nötig war, Papst Wojtyla zu töten«. Der Staatsanwalt ließ durchblicken, wo er die Kraft vermute: in der Lubjanka.
Die jüngste KGB-Niederlage dürfte die lauteste der sowjetischen Geschichte gewesen sein: Im Mai flog ein von KGB-Truppen abgeschirmtes Munitionslager der Nordmeer-Flotte bei Murmansk in die Luft. Alles explodierte: Bomben, Torpedos, Granaten, Cruise Missiles, Raketen - ein »Angriff der sowjetischen Nordmeer-Flotte«, so ein britischer Marine-Offizier, »kommt vorläufig nicht in Frage«. Sabotage, Schlamperei? Auf alle Fälle eine Schlappe der Kontrolleure.
Und doch: Angeschlagen, aber unbesiegt strebt die Organisation für die Sicherung von Leben, Eigentum und Bestand der Nomenklatura nach mehr Einfluß auf die Sowjetpolitik denn je zuvor.
Unter Andropow hatte das KGB sein Herrschaftsgebiet vergrößert: Seine uniformierten »Grenzschutz«-Truppen dürfen seither auch im Inland Verhaftungen vornehmen und Gefängnisse einrichten. Nach Andropows Griff zum höchsten Amt in Partei und Staat übernahm sein KGB-Nachfolger Fedortschuk das Innenministerium. Der aserbaidschanische KGB-Leiter Alijew, Erbauer des Sorge-Denkmals - in seiner Heimat auch schon Parteichef -, wurde Politbüro-Mitglied und Erster Vizepremier mit Zuständigkeit für die Wirtschaft.
Zwar schien mit Andropows raschem Ende die Aussicht auf eine KGB-Regierung in Rußland abgewendet, doch der neue KGB-Chef Wiktor Tschebrikow zeigt sich nicht gewillt, den Herrschaftsanspruch seines Apparats zu mäßigen.
Tschebrikow, 60, diente einst als Parteisekretär in Dnjepropetrowsk - wie vor ihm Breschnew, der ihn 1968 dem obersten Geheimpolizisten Andropow als Personalchef zur Seite stellte. Am Ende der Andropow-Ära verhalf der Armeegeneral Tschebrikow einem anderen Ex-Staatsschützer nach oben: Tschernenko,
Breschnews verdienter Assistent, erbte die Macht im Politbüro.
Unheildräuend, als ob das irgendwie aktuell wäre, unterschrieb der neue Parteichef einen Ukas, wonach ein Offizier an der Spitze des KGB theoretisch auch einmal den höchsten Militärrang erreichen könne: Generalissimus. Der letzte Generalissmus hieß Stalin.
Anläufe der Geheimpolizei zur totalen Herrschaft über Partei und Armee im Lande hatten oft tödlich geendet. Von den 15 Geheimpolizeichefs im Lauf der Sowjetgeschichte wurden vier erschossen. Der erste, Dserschinski, erlag nach einem Streit im ZK einem Herzanfall.
Der Berufsrevolutionär und Abkömmling einer polnischen Adelsfamilie Felix Edmundowitsch Dserschinski hatte sieben Wochen nach der Oktoberrevolution die »Außerordentliche Kommission« (Tschreswytschainaja Kommissija, abgekürzt: Tsche-Ka) »zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage« mit zunächst 70 Mitarbeitern gegründet.
Anfangs diente sie der Unterdrückung von Plünderern, Räuberbanden und Anarchisten. Die »Tscheka« ging mit einer spektakulären Aktion in der Nacht vom 11. auf den 12. April 1918 unter Einsatz von Artillerie gegen die Moskauer Hausbesetzer-Szene vor und zeigte hernach West-Diplomaten die geräumten Villen ("Der Schmutz war unbeschreiblich«, berichtete einer der Zeugen, »zerbrochene Flaschen lagen auf dem Fußboden verbreitet. Weinflaschen und menschliche Exkremente beschmutzten die Aubusson-Teppiche. Die Toten lagen noch dort, wo sie gefallen waren").
Wochen später allerdings beteiligten sich schon mehrere Tscheka-Abteilungen am Aufstand der Sozialrevolutionären Partei, welche die einzigen freien Wahlen der sowjetischen Geschichte gewonnen hatte. Der linientreue Dserschinski wurde in seiner eigenen Lubjanka festgesetzt, dem Hauptquartier der Rebellen.
Nach seiner Befreiung gab er auf einer Pressekonferenz die neuen, rächenden Rahmenrichtlinien seiner gesäuberten Organisation bekannt: »Die Tscheka ist verpflichtet, die Revolution zu verteidigen und den Feind zu besiegen, auch dann, wenn ihr Schwert zufällig die Köpfe Unschuldiger trifft.« Solch Zufall wurde sogleich zur Regel: Lenin verkündete den »Roten Terror«.
Die Tscheka durfte nach eigenem Ermessen »an Ort und Stelle« hinrichten. Sie meldete binnen 18 Monaten für 20 Gouvernements Zentralrußlands 8389 Erschießungen ohne Gerichtsurteil, 412 aufgedeckte konterrevolutionäre Organisationen und 87 000 Verhaftungen.
Erst von 1922 an mußte sich die Terror-Garde mäßigen - sie durfte nur noch drei Jahre Verbannung verhängen und nannte sich nun schlicht »Staatliche Politische Verwaltung« (russisch abgekürzt: GPU) des Innenministeriums (NKWD). Doch aus solcher Zurückhaltung befreite sie Lenin-Nachfolger Stalin - er hetzte von 1929 an seine Terrorpolizei auf diejenigen Bauern, die dem Kolchosen-Programm im Wege standen: 3,5 Millionen Tote.
Weiter gings mit der »Großen Säuberung« von 1934 an. Die Vollzugsgewalt der Geheimpolizei, in deren wechselnden Namen nun das Wort »Staatssicherheit« erschien (russisch abgekürzt: GB), trat an die Stelle der renitenten Partei. Hingerichtet wurde auch jener Altbolschewik Antonow-Owssejenko, der 1917 den Sturm auf das Winterpalais in Petrograd angeführt hatte. Sein Sohn Anton erhielt viele Jahre später Einsicht in die Archive, in denen die Zahl der zwischen 1935 und 1941 Getöteten festgehalten ist: 19 Millionen.
Aber Stalin mißtraute seinen Exekutoren. GPU-Chef Jagoda wurde 1936 im Lubjanka-Keller, sein Nachfolger Jeschow 1938 im Lager erschossen. Jeschow-Nachfolger Berija genehmigte offiziell den stets schon geübten »physischen Druck« bei Vernehmungen. Unter seiner Aufsicht entstand ein eigenes Volkskommissariat (Ministerium) für »GB«, das schließlich ein General von den Kommandos »Smersch« (Abkürzung von: »Tod den Spionen") übernahm: Abakumow, der eigenhändige Folterer.
Aus Rücksicht auf die westliche Öffentlichkeit schaffte Stalin nach dem Krieg (vorübergehend) die Todesstrafe ab. »In den Lagern gibt es auch nichts Abschreckendes mehr«, beklagte sich Abakumow laut Solschenizyn bei Stalin über die Bürden seines Amtes. »Wie nötig brauchen wir die Todesstrafe! Josef Wissarionowitsch, geben Sie uns die Todesstrafe zurück!«
Ein Vierteljahr nach Stalins Tod 1953 wurde Berija, den es nach der Alleinherrschaft gelüstet hatte, hingerichtet. Zwei Dutzend seiner Helfer einschließlich Abakumows wurden ebenfalls erschossen - die einzigen Repräsentanten der Stalinschen Gewaltherrschaft, die nach dem Ende des Diktators mit dem Leben büßen mußten.
Der Terrorapparat aber geriet unter die Kontrolle neuer Sowjetgesetze. Sein Stellenplan muß seither von der ZK-Abteilung
für Administrative Organe, jede Aktion mit möglichen politischen Folgen muß direkt vom Politbüro genehmigt werden. Die geheime Staatspolizei blieb jedoch bestehen. An ihre Spitze trat der Jugendfunktionär Alexander Schelepin, der den Apparat für den parteiinternen Machtkampf zu nutzen suchte und deshalb stürzte (er blieb am Leben).
Ihm folgte im Amt sein Freund Semitschastny, der 1967 entlassen wurde, weil sein Staatsicherheitsdienst die peinliche Flucht der redseligen Stalin-Tochter Swetlana ins westliche Ausland nicht hatte verhindern können. Darauf sorgte der gestandene Parteifunktionär und ehemalige Botschafter in Ungarn, Jurij Andropow, 15 Jahre lang für die innere und äußere Sicherheit der Sowjet-Union.
Der KGB-Chef galt als Alliierter des Parteichefs Breschnew, mit dem er im selben Haus an Moskaus Kutusow-Prospekt Nr. 26 wohnte und wo für ihn im Juni eine Gedenktafel mit Konterfei im Flachrelief angebracht wurde.
Breschnew wußte, was er sagte, als er nach einigen Jahren Andropow lobte, seine Hände seien »sauber« geblieben: Vorsichtig hatte der Beamte das KGB aus den Schlagzeilen der Weltpresse gehalten, nachhaltig (aber ohne Blutvergießen) unterdrückte er die Dissidenten-Gruppen, indem er auf die vom Zaren Nikolaus I. erfundene Methode zurückgriff, Untertanen mit Reformideen ins Irrenhaus zu sperren. Andropow: »Wir versuchen jenen, die verwirrt sind, zu helfen.«
Um aktive Systemkritiker kümmert sich immer noch die Fünfte Hauptverwaltung des KGB, der auch die Zensurbehörde »Glawlit« untersteht (siehe Graphik Seite 128). Eine Glawlit-Vorschrift fürs ganze Reich: Photokopiergeräte, jedes einzelne beim KGB registriert (auch das der Moskauer SPIEGEL-Vertretung), dürfen nur in abschließbaren Räumen stehen und in Gegenwart amtlicher Zeugen benutzt werden.
Die Fünfte Hauptverwaltung schleust ihre Vertrauensleute in jede russische Ansammlung Unzufriedener, in Kirchengemeinden und in die Zirkel nichtrussischer Minderheiten. Warnungen an erkannte Widersacher erteilen heutzutage notfalls Rollkommandos.
Das Heer der gewöhnlichen KGB-Spitzel steht unter Anleitung der Zweiten Hauptverwaltung und ihrer regionalen Zweigstellen: Sie lauschen überall, wo sich mehrere Sowjetbürger zusammenfinden - in Fabriken und Behörden, in Gaststätten und Kinos. Jede Massenorganisation hat ihren festen Vigilanten-Stamm, und alle Hauswarte ("Uprawdom") gehören dazu.
Vor zwei Jahren besuchten die Beamten dieser Hauptverwaltung die Bewohner ganzer Stadtteile in Moskau und in Kiew. Sie hinterließen Formulare für anonyme Anzeigen gegen den Nachbarn.
Eine eigene KGB-Direktion bewacht die Ausländer in ihren Wohngettos, Botschaftsräumen und unterwegs. Technisch unterstützt wird die Direktion von der Siebten Abteilung. In ihrem Sold stehen das zur laufenden Berichterstattung verpflichtete Dienstpersonal der Fremden, Kolonnen von Beschattern (insgesamt allein in Moskau ständig rund 400 Genossinnen und Genossen) sowie die Experten für Mini-Mikrophone, Infrarot-Gläser und anderes moderne Spitzel-Zubehör.
Die Postzensur der UdSSR steht unter Aufsicht der Administrativen Direktion des KGB. Um ihr das Schnüffeln zu erleichtern, dürfen im ganzen Land Pakete nur im geöffneten Zustand bei der Post aufgegeben werden. Aus demselben Grund wurde eine technische Errungenschaft der Sowjet-Union wieder abgeschafft: der automatische Telephonverkehr mit dem Ausland. Er ließ sich nur schwer kontrollieren.
Die KGB-Lauscher in der Armee - bis hinunter zur Kompanieebene - unterstehen der Dritten Verwaltung. Die Identität der uniformierten Spitzel bleibt den Militärkommandeuren verborgen. Der eigene militärische Geheimdienst GRU ("Hauptverwaltung Aufklärung« des Generalstabs), der früher die Hauptlast der Auslandsspionage trug, ist seit einer schweren Panne dem KGB-General Iwaschutin und seinen leitenden Beamten unterstellt: 1962 stellte sich heraus, daß GRU-Oberst Oleg Penkowski ein Agent war, wahrscheinlich der einzige, den die CIA jemals richtig hatte placieren können. Penkowski wurde erschossen.
Die Neunte Verwaltung stellt die Leibwachen für die Spitzenfunktionäre. Sie hatte am eklatantesten versagt, als Leutnant Anatolij Iljin 1969 am Borowizki-Tor des Kreml mit zwei Pistolen auf die Wagenkolonne Breschnews schoß (und einen Kosmonauten traf). Im Leningrader Wehrkreis, aus dem Iljin stammte, nahm das KGB nach dem Anschlag mehrere hundert Verhaftungen vor - als ob es sich um eine fehlgeschlagene Militärverschwörung gehandelt hätte.
Doch die terroristische KGB-Geschichte, gelegentliches Versagen und die landeseigene Schwerfälligkeit des Apparats können nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Behörde ihr Produktionsziel im Inland immer noch erreicht hat: Stabilität durch Furcht. Das Fürchten
lehrte sogar die Partei-Elite eine seltsame Serie von Todesfällen. 1980 verunglückte der Parteichef von Belorußland trotz KGB-Begleitschutz in seinem gepanzerten Wagen auf einer Fahrt nach Moskau. Dann erlitt der 2. Sekretär des Leningrader Gebietskomitees einen »tragischen Unfall«, ähnliches widerfuhr auch dem Premier von Georgien, dem Parteichef von Tadschikistan, dem von Tatarien und dem von Jakutien.
Nach Meinung des früheren Sowjetfunktionärs Michael Voslensky ("Nomenklatura"), der jetzt in München lebt, sollten die Gerüchte, dies alles sei nicht mit rechten Dingen zugegangen, die Spitzengenossen der KPdSU einschüchtern.
Eine Anti-Korruptions-Kampagne der für Wirtschaftsvergehen zuständigen 10. Direktion der Zweiten KGB-Hauptabteilung machte plötzlich noch die Bestechlichkeit von Politikern publik. Erstmals seit der Stalinzeit wurde ein Vizeminister, der Kaviar en gros in den Westen verschoben hatte, zum Tode verurteilt.
Es starb auch ein Vizekommandeur jener Privatarmee des KGB, die einst - als bei ihr noch der heutige Partei- und Staatschef Tschernenko diente - lediglich die Grenzen des jungen Sowjetstaates hatte sichern sollen.
Im Jahre 1969 trugen die Staatspolizisten mit dem »GB« auf den grünen Schulterstücken den Grenzkonflikt mit China am Ussuri aus - sie verfügen über Panzer, Schiffe, Artillerie.
Doch das KGB hat seine Truppe dort konzentriert, wo es am meisten zu schützen gibt: in Moskau. Zur Wehr der sowjetischen Hauptstadt stehen die bewaffneten KGB-Truppen bereit, daneben die kasernierten Verbände des Innenministeriums; diese Behörde hat der »Kagebetschik« Fedortschuk vor zwei Jahren übernommen. Seitdem ist die Stadt in der Hand des KGB.
Damals kehrte sich die Anti-Korruptionskampagne des KGB gegen die Breschnew-Tochter Galina, verheiratet mit dem Ersten Vize-Innenminister.
Ein hoher KGB-Beamter kam ums Leben - Andropows Vize Zwigun, ein Schwager Breschnews; es hieß, er habe sich den Ereignissen widersetzt, die sich ankündigten: dem Aufstieg seines Chefs zur Spitze der Machtpyramide. Geheimpolizist Andropow wurde ZK-Sekretär und trat 1982 die Breschnew-Nachfolge an.
Seine Karriere war auch ein Sieg seiner hilfreichen Zweiten Hauptverwaltung (Inland), seiner Hauptverwaltung Grenztruppen und seiner Neunten Verwaltung Personenschutz, sowie der Desinformations-Abteilung, denn die Hintergründe blieben weithin verborgen.
Um diesem emsigen Apparat noch mehr Befugnisse zu verleihen und das Sowjetreich weiter abzuschotten, unterzeichnete Andropow-Nachfolger Tschernenko im Mai ein Dekret, das unangemeldete Kontakte mit Ausländern wie Beherbergung, Einladung und Mitnahme in Privatfahrzeugen unter Strafe stellt. Schon im Februar wurde die Weitergabe jeglicher Neuigkeiten an Landfremde mit acht Jahren Haft bedroht.
In solcher Politik kündigt sich die Rückkehr zur geheimpolizeilichen Taktik an, die sich ihren »objektiven Gegner« selbst schafft. Er unterscheidet sich von dem herkömmlichen Verdächtigen dadurch, daß er nicht durch irgendeine Aktion oder einen Plan, dessen Urheber er ist, sondern schon »durch die von ihm unbeeinflußbare Politik des Regimes selbst zum ''Gegner'' wird« (so die Philosophin Hannah Arendt 1955 in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft").
Zum »Gegner« und Träger »gefährlicher Tendenzen« wurden beispielsweise nach 1945 russische Kriegsgefangene ohne irgendeine eigene Schuld gestempelt, weil sie genau das genossen hatten, was Tschernenko jetzt wieder verbieten ließ: Kontakte mit dem nicht-sowjetischen, nicht-kommunistischen Ausland.
In der traditionellen Kunst des Ausspähens genießt der Sowjetgeheimdienst im Westen keinen großen Ruf mehr. Das war einmal anders. Im Zweiten Weltkrieg gelang es ihm nicht nur, Richard Sorge in die Geheimnisse des deutschen Botschafters in Tokio wie der japanischen Regierung Einblick nehmen zu lassen. Über Sandor Rado ("Dora") und Rudolf Rößer in Westeuropa und die »Rote Kapelle« in Berlin konnten die Sowjets die deutsche Wehrmachtsspitze, vielleicht sogar das Führerhauptquartier auskundschaften.
In England wurde das Maulwurf-Quartett Philby/Burgess/Maclean und Blunt (am Ende Kunst-Kurator der Queen) gewonnen; ihr Agentenführer Nikitin sitzt heute im sowjetischen Nationalen Olympischen Komitee. In den USA spionierten der Atomphysiker Klaus Fuchs und das Ehepaar Rosenberg - der eine wurde später Professor in der DDR, die beiden anderen wurden in Amerika hingerichtet. Ein Sowjet-Konfident, Dexter White, entwarf 1944 mit den amerikanischen Morgenthau-Plan für ein ganz und gar grünes Deutschland (er sah die Verwandlung des Industriestaates in einen großen Weidegrund vor).
Und dann war da noch der »Time«-Redakteur Whittaker Chambers. Der behauptete, unter seinen angeblich 77 Konfidenten im Sowjetsold sei auch ein hochgestellter Beamter des State Department gewesen: Alger Hiss, Berater Roosevelts in Jalta. Der habe von seinem sowjetischen Agentenführer Bykow als Lohn lediglich einen Teppich entgegengenommen; als »toter Briefkasten« - getarnter Aufbewahrungsort von Nachrichten - habe ein Kürbis gedient. Hiss wurde entlassen, verurteilt und geächtet; Ex-Kommunist Chambers diente sich zum Chef-Ethiker der amerikanischen Rechten empor.
Im Kalten Krieg agierte in Amerika Sowjetoberst Rudolf Iwanowitsch Abel, der, nachdem Hoovers FBI ihn gefaßt hatte, gegen den US-Luftspion Powers ausgetauscht wurde. 1963 entpuppte sich der schwedische Luftwaffenoberst Wennerström als Sowjetagent (Lohn: 360 000 Mark). Die Küstenverteidigung der sozialistischen Monarchie, die Wennerström
verraten hatte, erkunden heute nicht ganz so heimlich sowjetische U-Boote.
Bis zu ihrem Tod 1967 observierte die DDR-Agentin Haydee Tamara Bunke im KGB-Auftrag den Revolutionär Che Guevara. 1967 hoben auch italienische Fahnder den Antiquitätenhändler Rinaldi aus, der einem sowjetischen Spionagering im Mittelmeerraum angehörte - 29 Verhaftungen. 1971 gestand der französische Atomingenieur Wolokow, seit zehn Jahren für Moskau spioniert zu haben.
Als Führer der Geheimdienste aller anderen Ostblockstaaten buchte das KGB, vor allem über das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, weitere Erfolge. (Wie das KGB verfügt auch der »Stasi« über eigene Staatsanwälte und Gefängnisse: ein Privileg, das in der vorherigen deutschen Rechtsgeschichte nur die Gestapo beanspruchte.)
Der direkt an Moskau angebundene KGB-Mann Heinz Felfe war Referatsleiter »Sowjet-Union« in der Abteilung Gegenspionage des Bundesnachrichtendienstes. Als Bundestagsabgeordnete saßen Ostagenten in der Fraktion der CDU (Schmidt-Wittmack und Steiner) und der SPD (Frenzel). Sie schlüpften im DGB (Gronau) unter, in der Code-Forschung für die Nato (Eitzenberger), im Wissenschaftsministerium (Irene Schultz) und im Auswärtigen Amt (Leonore Sütterlin).
Ein Treffer war der Aufstieg Günter Guillaumes zum Persönlichen Referenten des Kanzlers Willy Brandt. Bei seiner Festnahme bezeichnete er sich nicht etwa als »Hauptmann der NVA« (Nationalen Volksarmee), wie die verdutzten Bonner Polizisten glaubten gehört zu haben, sondern als »Hauptmann der HVA«, der »Hauptverwaltung Aufklärung« des MfS. Jahrelang residierten die KGB-Offiziere als Vorgesetzte der MfS-Beamten auf denselben Behörden-Fluren in Ost-Berlin.
Emsige Industriespionage brachte den Sowjets die Zeichnungen der »Concorde« ein - der russische Nachbau Tu-144 hatte allerdings Mängel (angeblich hatten die Briten den Empfänger erkannt und absichtlich vorher in die Pläne Fehler eingebaut); Moskaus Raumfahrt sparte Millionen Rubel für die Entwicklung eines Weltraumanzugs durch illegalen Erwerb des US-Modells für nur 180 000 Dollar.
Freilich ist das Spitzeln in der offenen Gesellschaft des Westens nicht eben schwierig. Bekannte zivile KGB-Offiziere treiben sich in den Fluren des Capitols und der Regierungsbehörden in Washington herum und genossen jahrelang kaum gehinderten Zugang zu den Elektronik-Firmen Kaliforniens. Sie reden frei mit Abgeordneten und Handelsleuten, die sich freuen, einen leibhaftigen Sowjetmenschen zu ihrem Bekanntenkreis zu zählen. Auf Pressekonferenzen von Pentagon-Offizieren stellen sie die intelligentesten Fragen - die gewöhnlich beantwortet werden.
Denn in Amerika besitzen Geheimnisse nicht den hohen Stellenwert wie in der abgeschlossenen Sowjet-Union, wo ein Telephonbuch oder eine ausländische Zeitschrift geheim sind: Im Westen, wo ein fleißiger Interessent fast alles Wissenswerte aus Bibliotheken holen und das Aktuelle in der Presse nachlesen kann - etwa den Konstruktionsplan einer Wasserstoffbombe in der US-Zeitschrift »The Progressive« - gehören Informationsdurchlässigkeit und Pressefreiheit zu den höchsten Werten, deren Verlust die Gesellschaft mehr bedrohen würde als der Verrat.
Anders in der Sowjet-Union: Hier besitzt das Staatsgeheimnis, dessen Verletzung das System gefährdet, immer noch den Rang von unverzichtbarem Herrschaftswissen. Dieses Selbstverständnis projiziert der sowjetische Geheimdienst ins Ausland. Er sammelt vornehmlich Amtspapiere mit dem Stempel »Streng geheim«.
»Die Russen sind der Ansicht, daß wirkliche Geheimnisse fremder Staaten direkt aus den entsprechenden Akten der Ministerien dieser Länder und von den ausländischen Staatsbediensteten beschafft werden können und sollen«, verriet der übergelaufene Sowjetagent Alexander Orlow, daheim Autor eines Spio nage-Handbuchs.
Haben sie etwa den Verdacht, ein bestimmtes Land kehre sich gegen sie, suchen sie, so Orlow, »keine Nachrichten in Leitartikeln, Podiumsdiskussionen oder in historischen Präzedenzfällen. ... Der russische Geheimdienst wird sich bemühen, die diplomatische Geheimkorrespondenz zwischen kooperierenden Staaten zu stehlen oder einen Geheiminformanten im Stab der Unterhändler anzuwerben«.
Die Industriekapazität der Flugzeugrüstung entnehmen die Kundschafter der Ersten Hauptverwaltung nicht etwa der Fachpresse oder Statistischen Jahrbüchern. Es muß schon eine Akte aus dem Verteidigungsministerium sein.
So stattet denn die Sowjet-Union ihre Auslandsvertretungen mit viel mehr Personal aus, als die Botschaften anderer Staaten in Moskau beschäftigen. KGB-Offiziere treten als Attaches und Sekretäre auf. In den USA gibt es derzeit 310 Sowjetvertreter, in der Sowjet-Union hingegen nur 210 US-Diplomaten.
Dazu kommen Scharen von »Tass«- und »Nowosti«-Korrespondenten, zahllose Aeroflot-Bedienstete und Handelsvertreter - die Hälfte aller Sowjetbürger,
die mit offiziellem Auftrag im Westen leben (5000 sind mit diplomatischer Immunität versehen), dürfte damit beschäftigt sein, für die Erste Hauptverwaltung des KGB in Moskau zu horchen oder ausländische Horcher anzuwerben.
Das war leicht, als noch die Kommunistische Internationale weltweit Tausende von Idealisten binden konnte, die danach dürsteten, für das Vaterland aller Werktätigen das eigene zu verraten. Doch im selben Maße, in dem der Glanz des sowjetrussischen Experiments verblaßt, sank auch die Qualität der fremden Glaubensgenossen, die für den unbequemen Job eines Auskundschafters im Untergrund geeignet sind.
Die großen Verräter aus Überzeugung sind rar geworden - für Apparatschiks wie Tschernenko lohnt nicht der Galgen und auch nicht ein Lebensabend als verdienter Agent der UdSSR, seit sich herumgesprochen hat, wie miserabel es sich in Kasachstan lebt, in den Vororten Moskaus und auch am Bötzsee bei Berlin (wo Spion a.D. Guillaume seine Tage zubringt).
Der Nachschub an kommunistischen Sympathisanten, den zuverlässigsten und billigsten Agenten, stockt seit Jahren, und in einer KGB-Direktive für die »Anwerbung von Amerikanern in den USA und dritten Ländern« heißt es in resigniertem Ton: »Es wäre falsch anzunehmen, daß es viele solche Leute in den staatlichen Institutionen der USA gibt.«
Der sowjetische Geheimdienst ist auf Kauf und Erpressung angewiesen, auf Wichtigmacher und auf redselige kleine Leute - Zuträger der dritten Garnitur. Das »Jahrhundert des Verrats« (Margaret Boveri) läuft ab; die Seelenqualen von geständigen Überzeugungstätern können allfälligen Spionageprozessen keine tragische Qualität mehr verleihen: Es gibt nur noch ungetreue Angestellte und getäuschte Sekretärinnen.
Die Abgesandten der Ersten Hauptverwaltung des KGB im Westen unterliegen demselben Syndrom. Es sind nicht mehr die opferbereiten Lederjacken-Illegalen, die sich zur Weltrevolution verschworen haben, sondern nur alerte junge Leute, die durch ein fleißiges Sprachstudium der Langeweile in der Sowjetprovinz entgehen und die alltägliche Repression in Omsk und Tomsk eintauschen wollten gegen die auf andere Weise nie zu besichtigende Westwelt.
Einer Bürokratenkarriere ziehen sie das vermutete KGB-Abenteuer vor. Den schwer erträglichen Makel, ein Kagebetschik zu sein, den Verlust des in Rußland lebenswichtigen Freundeskreises, machen KGB-Privilegien wett. Dazu gehören Westprodukte wie Nescafe, Marlboro oder Rock-Schallplatten, aber auch die amtliche Zuteilung von einem Anzug und einem Paar Lederschuhen im Jahr, ebenso sportliche Ertüchtigung im angesehenen, betriebseigenen Sportklub
»Dynamo«, dessen Fußballmannschaft jahrelang den Ton in Rußlands Oberliga angab.
Die KGB-Vertreter im Ausland sind den Verlockungen ausgesetzt, die das dynamische, freizügige Leben der kapitalistischen Metropolen bietet; ihr Trachten geht deshalb danach, nichts zu unternehmen, was eine Ausweisung in die kalte Heimat nach sich ziehen könnte. So schwächt die Furcht vor dem eigenen System die Spionage-Tüchtigkeit in der Ferne. Ob in Bonn, Paris oder Washington - irgendwie spricht es sich immer schnell herum, wer unter den sowjetischen Diplomaten ein KGB-Mann ist; die Betroffenen selbst scheint es auch nicht zu genieren.
Auf ihrer Auslandsstation nehmen die meist kultivierten, umgänglichen Horcher ihre Pflichten nicht eben sehr ernst, nach Art ihrer westlichen Kollegen. Die Hoffnung, »Stirlitz« mimen zu können, legt sich rasch. So treffen sie allerlei Leute auf Cocktailpartys und Empfängen, machen Spesen, melden Aufgeschnapptes nach Moskau, lesen die Ortszeitung und führen ihr kleines Privatarchiv.
Gelingt es ihnen, einen richtigen Spion anzubinden, reichen sie Briefumschläge über den Tisch und besorgen Funkgeräte, legen am Fuß oder in Wipfeln von Bäumen ihre toten Briefkästen an, spielen Versteck mit mutmaßlichen Beschattern wie im Krimi bei Julian Semjonow. In den deutschen Abwehrstellen gibt es Photoserien von KGB-Agenten, die denselben Baum-Kletter-Lehrgang daheim besucht haben müssen.
Sowjetische Eigenart sind Nachrichten für KGB-Schützlinge über Radio Moskau, etwa ein Rückruf (an den gekeilten Amerikaner Mintkenbaugh): »Wenn der tiefe Purpur über verschlafene Gärten sinkt«, eine Telephonbotschaft mit dem vereinbarten Warnsignal »Der Hund ist tot« (an einen West-Berliner Mitarbeiter) oder eine unverständliche Buchstabenfolge in der »Prawda« für einen anders nicht mehr erreichbaren Agenten in Gefahr, der - Strafe genug - diese Zeitung regelmäßig lesen muß.
Am liebsten melden die Agentenführer und eigenen Kundschafter, was die Zentrale hören möchte: Ihnen allen ist ein Spionage-Produktionsplan auferlegt, etwa eine bestimmte Zahl Gewährsleute anzuwerben. Für die Übererfüllung gibt es eine Prämie; ausgezahlt wird sie auch für unüberprüfbare Übertreibungen. Haben die Außendienstler in der Stadt Moskau ihr Jahressoll während der Touristensaison nicht erfüllt, sprechen sie wahllos Westler, die im Dezember nur vereinzelt nach Rußland reisen, auch dann an, wenn sie sichtbar ungeeignet sind.
Was da an Informationen so zusammenkommt, wird vom Dienst I der Ersten Hauptabteilung ausgewertet, nach Expertenurteil allerdings höchst ungeschickt, mangels Landeskenntnissen der Sachbearbeiter in der Zentrale. Jede Woche geben sie einen internen Rundbrief heraus, täglich geht eine KGB-Lageübersicht ans Politbüro und manchmal auch eine zusammenfassende Prognose. Immerhin - Mitte der 70er Jahre soll der Dienst I eine Wiederkehr des politischen Konservatismus in den USA und Westeuropa für den Anfang der 80er Jahre vorausgesagt haben.
Doch das Bild, das die Analytiker dem Kreml ansonsten von der kapitalistischen Außenwelt zeichnen, kann sehr genau nicht sein; denn anders läßt sich nicht erklären, was Chef Andropow zur Zeit der Helsinki-Konferenz 1975 seinen Top-Spion Hugh Hambleton (der dem KGB binnen 30 Jahren 300 Geheimdokumente ausgeliefert hatte) persönlich fragte:
»Werden die Rüstungsausgaben den USA nicht zu hoch? Verfolgt man in Amerika die Juden? Wie denkt die amerikanische Jugend über die Sowjet-Union? Kann die EG nicht womöglich scheitern?«
Schild und Schwert, die Embleme im KGB-Wappen, sind zumindest im Ausland nicht mehr viel wert, die Sehkraft der hunderttausend Augen des Kreml im Sowjetland und überall in der Außenwelt läßt nach - der Genauigkeit der elektronischen US-Aufklärung haben die Sowjets nichts entgegenzusetzen.
Die reale Weltverlassenheit des KGB spiegelt sich wider in der lebensfremden _(Mit Königin Elisabeth 1959. )
Isolation der Ersten Hauptverwaltung. Sie arbeitet - abgesehen von einem Empfangsbüro für Moskau-Besucher in der Lubjanka - so abgeschlossen, wie es Sowjetfunktionäre nun einmal schätzen: 20 Kilometer südwestlich der Hauptstadt hinter dem Dorf Toplyj Ustan ("Warme Stelle") in einem siebenstöckigen Mammutgebäude aus Stahl und Glas auf freiem Feld.
Den Zugang verwehren Grenzschützer und eine Tafel »Wasserschutzgebiet«. An dem einsamen Bürohaus, erbaut von finnischen Architekten, prangt immerhin ein Schild in Gold und Bronze: »Wissenschaftliches Forschungszentrum«.
Dort sitzen die Direktionen S (wie Spionage) für die politische Aufklärung, T wie Technik für Wissenschafts- und Industrieausforschung und K wie Konterspionage für die Abwehr, das Eindringen in die gegnerischen Geheimdienste.
Außer den noch nicht zur »Direktion« erhobenen »Diensten« I (wie Information) für die Auswertung und R (wie Revision) für die Überprüfung aller anderen Bereiche sowie den zehn Länder- und sechs Verwaltungsabteilungen gibt es noch zwei besondere Arbeitsgruppen mit speziellen Erfolgen: den Dienst A
und die geheimnisumwitterte Sektion VIII.
Der A-Dienst ("Aktive Gegenmaßnahmen") ist eine Erfindung Andropows, der erkannt hatte: »Die politische Rolle der UdSSR im Ausland muß durch Verbreitung falscher Nachrichten und provokatorischer Informationen unterstützt werden.« Zu diesem Behuf entstand etwa die internationale Presseagentur »Nowosti« mit ihrem Korrespondentennetz. Gezielte Falsifikate werden, wenn die ausländischen Redaktionen nicht aufpassen, von KGB-Leuten in Umlauf gebracht.
So tauchten 1966 in der Türkei falsche Dokumente über eine amerikanische Einmischung in die Innenpolitik auf, so veröffentlichte 1968 eine Zeitung in Bombay getürkte US-Unterlagen zum bakteriologischen Krieg, so erhielt und druckte der »Stern« ein Interview mit einer Tante Solschenizyns, die den Nobelpreisträger diffamierte oder der SPIEGEL die (nicht gedruckte) Aussage eines seiner Mithäftlinge, der Schriftsteller sei im Lager ein Spitzel gewesen.
Der wohlhabende Moskauer Korrespondent Viktor Louis empfahl sich dem Westen mit der ersten Nachricht vom Chruschtschow-Sturz und lancierte dann
ein (nie geführtes) Interview mit Solschenizyn, das Solschenizyn gleichfalls herabsetzen sollte. Louis bot eine nicht autorisierte Version von Swetlana Allilujewas erstem Buch an, um der authentischen SPIEGEL-Fassung entgegenzuwirken.
Ähnliche Auslandsaktionen des KGB erinnern in ihrer offensichtlichen Vergeblichkeit an die PR-Arbeit der CIA - Ungeschickt läßt grüßen.
Dem kanadischen Wirtschaftsprofessor Hambleton riet das KGB, für das Parlament in Ottawa zu kandidieren, die Wahlkampfkosten übernehme die Sowjetregierung. Dann wurde Hambleton 1982 gefaßt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Der dänische Schriftsteller Arne Petersen traf sich im Laufe eines Jahrzehnts 23mal mit KGB-Major Merkulow, lieh angeblich seinen Namen für von jenem gelieferte Traktate und gab eine von 186 Geistesschaffenden unterzeichnete Zeitungsannonce für eine atomfreie Zone auf. 1981 organisierte Petersen einen eher kläglichen »Friedensmarsch« von Oslo nach Paris. Merkulow wurde ausgewiesen.
»Nowosti«-Vertreter Alexej Dumow ließ in seinem Berner Büro am Wildhainweg Nr. 19 seine Schweizer Angestellten Schwander und Spillmann Demonstrationen organisieren; sowjetische Diplomatenfrauen halfen dort bis zum vorigen Jahr beim Vervielfältigen von Flugblättern gegen die Nato. Dumow wurde ausgewiesen.
Doch am Beispiel der europäischen Friedensbewegung zeigen sich auch die Grenzen solcher KGB-Arbeit, die sich noch immer gern auf Mitglieder der kommunistischen Parteien des Westens stützt: Die Unterwanderung wirkt oftmals kontraproduktiv.
Die Kommunisten sind, sobald sie den Gruppen-Konsens preisgeben und ihre eigentlichen Ziele durchzusetzen suchen, im unterwanderten Verein rasch allein: Solange sie dem KGB-Staat die Stange halten, sind auch die ehrlichsten Weltveränderer nirgendwo im Westen mehrheitsfähig.
Das mühselig erworbene Prestige des Sowjetstaates kann das KGB nicht für sich beanspruchen - im Gegenteil, es droht den Ruf der UdSSR immer wieder nachhaltig zu lädieren: durch die Umtriebe der Sektion VIII, »Wypolnenije« (Vollzug).
Sie hat ihr Domizil außerhalb der Ersten Hauptabteilung, der sie zugehört, 25 Kilometer östlich des Moskauer Autobahnrings bei der Stadt Balaschicha.
Diese Kampfgruppe gehörte einst als »Spezbüro« zur Armee und wurde mit ihrem Kommandeur Pawel Sudoplatow 1946 in das Staatssicherheitsministerium übernommen, blieb jedoch weithin selbständig. Sie setzte die tschekistischen Traditionen wirklich fort, sie besorgte
die »mokrije djela«, »nassen Angelegenheiten« (weil Blut fließt).
In der Vergangenheit hatte sie Verräter in den eigenen Reihen ausgeschaltet, auch in ausländischen Bruderparteien, zum Beispiel Trotzkisten und Anarchisten im Spanienkrieg und 1940 Trotzki selbst, mittels einer Spitzhacke. Der Mörder, Ramon Mercader, lebte nach seiner Freilassung 1960 mit Staatspension in der Tschechoslowakei, ging 1968 nach Moskau, dann in die DDR und starb 1978 in Havanna.
Im Krieg beteiligte die Abteilung sich mit speziellen Spionage-, Mord- und Sabotageunternehmen am Partisanenkampf und sprengte etwa den Kiewer Prachtboulevard Khreschtschatik, was die Deutschen zum Vorwand nahmen, 34 000 Kiewer Juden zu ermorden.
Vollzugs-Chef Sudoplatow beschrieb seine Personalpolitik so:
»Suchen Sie Leute aus, die von der Natur oder vom Schicksal vernachlässigt wurden, Menschen mit häßlichem Äußeren oder Minderwertigkeitskomplexen; oder ehrgeizige und einflußreiche, die aber durch ungünstige Umstände nicht weiter vorangekommen sind ... Das Gefühl, einer mächtigen Organisation anzugehören, wird diesen Leuten zum ersten Mal in ihrem Leben das Bewußtsein der Überlegenheit über die glücklichen und zufriedenen Menschen um sie herum vermitteln. Zum ersten Mal in ihrem Leben werden sie ein Gefühl von Bedeutung haben.«
Sudoplatows Spezialisten entführten 1952 den Leiter des Referats Wirtschaft im »Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen«, Dr. Walter Linse, aus West-Berlin. Beim Berija-Sturz 1953 wurde auch Sudoplatow verhaftet.
Seine Truppe überlebte. Sie entführte den Journalisten Karl W. Fricke, den Emigranten Alexander Truschnowitsch und den geflüchteten früheren Agitprop-Sekretär der SED, Heinz Brandt, aus West-Berlin.
Ihr Hauptmann Nikolai Chochlow erhielt 1954 den Auftrag, in Frankfurt den russischen Emigrantenführer Okolowitsch mit einer elektrischen Pistole zu erschießen. Chochlow stellte sich seinem Opfer, er selbst wurde 1957 mit radioaktivem Thallium vergiftet. Im selben Jahr erhielt der KGB-Spezialist Bogdan Staschynski den Auftrag, in München den ukrainischen Ideologen Rebet mit einer Blausäure-Pistole zu erschießen. Er tat es, es sah aus wie ein Herztod.
1959 befahl ihm KGB-Chef Schelepin, in München seine Gift-Pistole auf den Antisowjet-Partisanen Bandera zu richten, Semjonows Romanfigur. Er tat es, allerdings fand man Glassplitter im Gesicht und Zyankali im Magen des Toten.
Staschynski erhielt den »Orden des Roten Banners«, doch am Tag vor dem Mauerbau 1961 floh er mit seiner DDR-Ehefrau
Inge Pohl in den Westen. Der BGH verurteilt ihn zu acht Jahren Gefängnis, und zwar nur wegen Beihilfe für den Schreibtischtäter Schelepin. In Moskau wurden 17 höhere KGB-Offiziere degradiert (Staschynski lebt heute unter anderer Identität in Südafrika).
Neue Angst ums Renommee befiel die Sowjetführer 1963, als sie entdeckten, daß der Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald bis anderthalb Jahre vor der Tat in Minsk gelebt hatte; seine KGB-Akte wurde per Sonderflugzeug nach Moskau befördert, wie der übergelaufene KGB-Major Jurij Nosenko berichtete.
Einen Monat vor Chruchtschows Sturz 1964 brachten die KGB-Experten für Nasses dem westdeutschen Techniker Schwirkmann im Kloster Sagorsk eine Senfgasvergiftung bei, aus Rache: Er hatte die Abhöranlagen in der Moskau-Botschaft geortet und kurzgeschlossen.
Bald darauf wurde die Killertruppe als »Sektion VIII« der Ersten KGB-Hauptverwaltung unterstellt. Sie soll sich seither nur noch der Sabotage widmen; für »Nasses« sind befreundete Dienste wie der bulgarische zuständig (der das Geheimwaffen-Arsenal um einen vergifteten Regenschirm bereichert hatte, mit dem 1978 nach einem Mißerfolg in der Pariser Metro drei Wochen später der Emigrant Georgij Markoff an einer Londoner Bus-Haltestelle getötet wurde).
Solchermaßen degradiert, verfiel die Sektion der ehemaligen Tatmenschen auf altem Unfug, der im Zeitalter der Permissivität erst recht nicht mehr verfängt: Im Januar 1981 stellte sie dem aufstrebenden US-Militärattache James Holbrook eine Sex-Falle, um ihn per Photo zu blamieren.
Spionage, Spitzeldienste und »Nasse Angelegenheiten« lohnen kaum, wenn die Resultate in der Klausur des »Wasserschutzgebietes« nicht überprüft oder falsch eingeordnet werden, wie die Fehleinschätzungen der Prager Reform von 1968 und der polnischen Arbeiter-Revolte von 1980 offenbaren.
Angesichts der chinesischen Kulturrevolution mußte die Behörde gar US-Sinologen um Amtshilfe bitten (die sie auch bekam): Korrekte Nachrichten können den Realitätsverlust der Eingeschlossenen im Kreml heilen, sie sind im Westen am Kiosk zu haben.
Spionage aber, das Hintertreppengewerbe der Kabinettspolitik einer vergangenen Ära, kann - in der Sowjet-Union genauso wie im Westen - unberechenbare Folgen nach sich ziehen, wie der Fall Hiss/Chambers lehrt: Die Affäre verhalf Richard Nixon zum Karrieresprung in den US-Senat - und von dort letztlich ins Weiße Haus. Der Verrats-Schock jener Jahre änderte das Weltbild des Künstler-Gewerkschaftlers Ronald Reagan, zuvor noch liberaler Roosevelt-Bewunderer, heute Präsident, der immer noch fest an tägliche Unterwanderungssiege der Sowjets glaubt.
Ähnlichen politischen Schaden stiftet KGB-Spionage, wenn sie auf Feindseligkeit des Auftraggebers schließen ließ wie *___in Costa Rica, wo 1979 zwei Sowjets ausgewiesen wurden, ____weil sie einen Generalstreik hatten schüren wollen; *___in Spanien, wo 1980 zwei Sowjets wegen ihrer Kontakte ____zu Terroristen und 1982 wieder zwei wegen ____Desinformation herausflogen; *___in Ägypten 1981, wo sieben Sowjetdiplomaten und zwei ____Korrespondenten gehen mußten, weil sie den Streit ____zwischen Kopten und Moslem-Fanatikern angefacht hatten, ____der 70 Tote forderte; *___in Norwegen 1982, wo zwei Handelsfunktionäre wegen ____Technologie-Diebstahls ausgewiesen wurden, oder *___in Frankreich, wo 1983 gleich 47 Sowjetbeamte wegen ____Spionage zurück in die Sowjetheimat mußten.
Sie alle haben bei der Regierung, die sie akkreditiert hatte, Verständnis für die Sowjet-Union nicht wecken können und wurden selbst bestraft mit Rückkehr in die Welt des Schlangestehens und des aufmerksamen Blockwarts.
So wagen denn mehr Sowjet-Agenten als je zuvor den Frontwechsel. Nach dem Chiffrierer Gusenko, dem Oberst Penkowski, den Majoren Nosenko, Ljalin und Golizin, dem Hauptmann Chochlow, dem Spezialisten Staschynski, den Aufklärern Sacharow (1971 in Kuweit übergetreten) und Kusitschkin (1982 in Teheran) kam auch jener KGB-Major Stanislaw Lewtschenko, 43, dessen Erfahrungen von der nächsten Woche an eine SPIEGEL-Serie schildert.
Die den umgekehrten Weg gegangen sind, von West nach Ost, fanden mit Glück eine geruhsame Beschäftigung in Moskau als KGB-Berater wie der Brite Kim Philby. In der Regel verschwanden sie als streng isolierte Sachbearbeiter in irgendeinem Institut wie Donald Maclean, fern von seinen Angehörigen und dem Trunk ergeben - so berichtet der frühere Büro-Nachbar Voslensky -, »unter falschem Namen, vom KGB beaufsichtigt und mit 1200 Mark im Monat sowie dem Orden des Roten Arbeitsbanners honoriert. Das hieß: Lebenslänglich.«
Im nächsten Heft
Beginn der SPIEGEL-Serie »Die 100 000 Augen des KGB«
[Grafiktext]
KOMITEE FÜR STAATSSICHERHEIT DER UdSSR Vorsitzender: Wiktor Tschebrikow Erste Stellvertreter: Georgij Zinjew, Nikolai Jemochonow Stellvertreter: Genij Agejew, Sergej Antonow, Filip Bobkow, Grigorij Grigorenko, Wladimir Krjutschkow, Wladimir Piroschkow ERSTE HAUPTVERWALTUNG Ausland DIREKTION S Politische Aufklärung DIENST I Auswertung DIREKTION T Industriespionage DIENST A Desinformation DIENST R Revision DIREKTION K Abwehr ABTEILUNG VIII Sabotage Abteilungen: 1. USA, Kanada 2. Lateinamerika 3. Commonwealth, Skandinavien 4. Bundesrepublik, Österreich 5. Romanische Länder 6. China 7. Japan, Südostasien 8. Nahost, Ägäis 9. Anglophones Afrika 10. Francophones Afrika 11. Verbindungen zu verbündeten Diensten 12. Sonderagenten 13. Nachrichtenmittel 14. Waffen und Geräte 15. Kartei und Archiv 16. Personal und Rekrutierung ZWEITE HAUPTVERWALTUNG Inland 1. DIREKTION Leitstelle Zentral-Rußland 2. DIREKTION Leitstelle Nord (Leningrad, Baltische Staaten) 3. DIREKTION Leitstelle Süd (Ukraine) 4. DIREKTION Leitstelle Ost (Mittelasien, Sibirien) 10. DIREKTION Wirtschaftsverbrechen 11. DIREKTION Schulung 12. DIREKTION Ausländer-Aufsicht VERWALTUNG INDUSTRIESCHUTZ TECHNISCHE HILFSGRUPPE (Durchsuchungen) Abteilungen: 1. Innere Sicherheit: Kontrolle der Mitarbeiter und ihrer Besucher 2. Finanzen: Gehälter, Spesen, Einsatzmittel 3. Registratur: Dossiers der Agenten und Spitzel, Häftlinge, Auslandsreisenden 4. Sonderermittlungen: Disziplinarsachen 5. Einsatzanalyse: Auswertung aller Operationen 6. Regierungskommunikation: Betrieb der Telephon- und Funkverbindungen aller Behörden 8. Computer 7. Touristen DRITTE VERWALTUNG Armee Abteilungen: 1. Verteidigungsministerium 2. Generalstab 3. Abschirmdienst GRU 4. Heer 5. Marine 6. Luftwaffe 7. Grenztruppen 8. Ordnungspolizei 9. Bereitschaftspolizei 10. Raketentruppen 11. Aeroflot 12. Wehrbezirk Moskau HAUPTVERWALTUNG Grenztruppen 300 000 uniformierte Beamte FÜNFTE HAUPTVERWALTUNG Gegnerbekämpfung 5. DIREKTION Religionsgesellschaften 6. DIREKTION Nationale Minderheiten 7. DIREKTION Auslandskontakte von Sowjetbürgern 8. DIREKTION Emigranten 9. DIREKTION Zensur von Publikationen Abteilung für jüdische Angelegenheiten ALLGEMEINE VERWALTUNG DIREKTION, ADMINISTRATION Immobilien, Reisen, Wohnungen, Erholungsheime TECHNISCHE VERWALTUNG Waffen u. Geräte für Inlandsoperationen, Laboratorien, Postzensur PERSONAL - VERWALTUNG Planung, Einstellungen, Versetzungen, Beförderungen, Ausbildung SIEBTE VERWALTUNG Beschattung Abteilungen: 1. Beobachtung von US-Bürgern 2. Besondere Zielpersonen 3. und 4. Ausländer (ohne US-Bürger) 5. Botschaftsgebäude in Moskau 6. Überprüfung von Anwärtern 7. Technische Mittel 9. Moskauer Straßen 10. Öffentliche Einrichtungen 11. Tarnung 12. Prominente ACHTE VERWALTUNG Kommunikationen Elektronische Erkundung mit stationären und beweglichen Mitteln (Satelliten, Schiffe) NEUNTE VERWALTUNG Personenschutz Leibwachen für Spitzenfunktionäre, Schutz ihrer Dienstgebäude und Privatwohnungen KGB SCHWERT UND SCHILD DER PARTEI
[GrafiktextEnde]
Uno-Angestellter Wassilij Awerjanow leert 1977 in der Umgebung vonNew York einen »toten Briefkasten«.Titel: »Wer sind Sie, Dr. Sorge?«Mit Königin Elisabeth 1959.