Der gut aussehende und weltläufig auftretende Mann, den Evelyn Heyers Mitte 1985 in Düsseldorf zufällig auf der Straße kennenlernte, hatte zwei Jahre früher noch Wlodzimierz Korepta geheißen. Er war der Sohn eines polnischen Postangestellten, hatte sich in seiner Heimat als Barmann, Stewart in einem Zug, als Betreiber einer Teppichreinigung durchgeschlagen.
Er war geschieden. Mit seiner zweiten Frau, wieder einer Polin, setzte er sich nach Australien ab und und nannte sich in Patrick Rhodes um, angeblich, weil Korepta sich kaum aussprechen lasse. Er arbeitete vorübergehend im Busch, betrieb möglicherweise auch eine Werkstatt für Badezimmereinrichtungen, dazwischen war er arbeitslos.
Von Australien ging er mit seiner Frau nach Europa. Ende 1984 nahm er in Düsseldorf Wohnung. Einer geregelten Beschäftigung ging er hier nicht nach. Gegenüber Evelyn Heyers gab er sich, fast 13 Jahre älter, als international tätiger Antiquitätenhändler aus, der demnächst wieder nach London zum Einkauf fliege.
Er sei der Sohn eines Diplomaten, seine Mutter die Cousine von Jacqueline Kennedy. Er telefoniere öfter mit dem Weißen Haus in Washington. Auch als Privatdetektiv habe er schon gearbeitet, und er sei Fremdenlegionär in Rhodesien gewesen. Er wußte abenteuerliche Geschichten zum besten zu geben.
Sie geht mit ihm aus und verbringt die erste Nacht mit ihm in einem Hotel. »Für mich war es eben auch mal schön, mich auf englisch zu unterhalten.« Daß er ein erbärmliches Englisch spricht, fällt ihr nicht auf. Die Episode Rhodes hält sie damals noch für eine den Reigen angenehm und amüsant bereichernde.
Ein Jahr später, in der Nacht zum 1. Juni 1986, ermordet Patrick Rhodes zwei Düsseldorfer Prostituierte, Martina Antonijevic und Malika Fechenbach, um deren Schmucks und vor allem eines 150 000 Mark teuren Mercedes 500 SEC habhaft zu werden. Evelyn Heyers ist dabei. Sie hatte unter falschem Namen bei den Opfern angerufen, sie hatte Rhodes Zutritt verschafft, sie hatte gedolmetscht. Sie hält den blutüberströmten Frauen Kissen aufs Gesicht (wenn auch vielleicht nicht so lange und so fest, wie Rhodes das von ihr verlangte). Sie ist auch dabei, als den Toten der Schmuck abgenommen wird, eine brillantenbesetzte Cartier-Uhr, Ringe, sogar die Ohrringe.
Mit Patrick Rhodes flüchtet sie anschließend nach Frankreich, später nach Italien. Der Schmuck wird zum Teil verkauft, für den Mercedes findet sich kein Abnehmer, weil die Papiere nicht vollständig sind. Die Cartier-Uhr und einen Brillantring trägt Evelyn Heyers selbst. Zwischendurch fliegt sie mit Rhodes für ein paar Tage nach Hause wegen der Wagenpapiere. Sie zeigt ihrer Mutter die Uhr. Sie habe 35 000 Mark gekostet, erklärt sie.
In der Nähe von Lyon werden sie schließlich festgenommen. Urlaubern war an einer Tankstelle das abgerissene Pärchen aufgefallen, das kein Geld mehr hatte, den Tank des schweren Wagens zu füllen. In der Gefängniszelle »hab' ich getanzt und geheult und geschlafen, geschlafen, geschlafen. Ich war total glücklich«.
Man gibt ihr Schreibzeug, sie formuliert das, »was ich damals sagen konnte«. Daß sie bei den Prostituierten in der Wohnung gewesen war, gehört nicht dazu, »weil ich nicht daran denken wollte«. Sondern sie schreibt unter anderem: »Ich war gespannt auf das Fahrerlebnis.«
Patrick Rhodes, 37, wurde am 5. Mai 1988 von der 17. Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf wegen Mordes in zwei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Evelyn Heyers, 25, kam mit vier Jahren davon - wegen Beihilfe zum schweren Raub in einem minder schweren Fall. »Die Angeklagte Heyers ist des Mordes oder einer Beteiligung am Mord nicht zu überführen«, hieß es in der schriftlichen Urteilsbegründung, »da nicht feststeht, ob sie den Tod der beiden Frauen gewollt oder auch nur gebilligt hat.«
Das Düsseldorfer Urteil erregte in der Öffentlichkeit Aufsehen und Empörung, schien Evelyn Heyers doch weit über Gebühr glimpflich davongekommen zu sein. Den Verdacht, daß die Richter bei ihr ein Auge zugedrückt hatten, verstärkte der Umstand, daß Evelyn Heyers die Tochter eines hohen Richters ist: des ehemaligen Vorsitzenden eines Senats am Oberlandesgericht Düsseldorf, Dr. Karl Heyers.
Der Bundesgerichtshof hob, soweit es die Angeklagte Heyers betraf, dieses Urteil auf. Das Landgericht stelle »lediglich summarisch darauf ab, es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die Angeklagte den Tod der beiden Frauen weder gewollt noch gebilligt habe. Dies läßt besorgen, daß es sich mit den seiner Beurteilung entgegenstehenden rechtlichen Gesichtspunkten nicht in der gebotenen Weise auseinandergesetzt hat«, entschied der 3. Karlsruher Strafsenat.
Und weiter: »Wegen des besonderen Aufsehens, das die Vorgänge im Tatortbezirk erregt haben, hat der Senat von der Möglichkeit . . . Gebrauch gemacht, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen.«
Die Karlsruher Richter dachten dabei wohl gar nicht so sehr an das Aufsehen. Es sollte vielmehr sichergestellt sein, daß unbefangene Richter über Evelyn Heyers urteilen, Richter, die weder mit Vater Heyers in beruflichem noch mit Familie Heyers je in privatem Kontakt standen. Doch lassen sich Gedankenspiele ausschließen, anstelle der Angeklagten Heyers könnte auch die eigene Tochter stehen? Lassen sich Ängste vor abzuwehrenden Gefahren, vor Versuchungen und Versagen vermeiden? Ist Evelyn Heyers straffällig geworden, obwohl sie Richterstochter ist - oder vielleicht, noch schlimmer, weil sie Richterstochter ist?
Die neue Verhandlung fand vor der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Duisburg statt mit Martin Hochstetter als Vorsitzendem, einem hochgewachsenen, aufrechten Mann, und den Richtern Klaus-Peter Fellmann und Dirk Struß. Diese Kammer hat Evelyn Heyers wegen gemeinschaftlichen Raubes mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt - nach 14 Tagen gewissenhafter Verhandlungsführung, stets bemüht, die besonderen Umstände des Falles weder über- noch unterzubewerten.
Dazu beigetragen hat auch Evelyn Heyers Verteidiger Georg Greeven, Düsseldorf, ein Mann, der leise und eindringlich diesen Fall, der vielen Menschen ein Rätsel war, zugänglich zu machen verstand.
»Dieses Verfahren war schwierig und zeitaufwendig aus zwei Gründen«, begann Hochstetter ernst und routiniert die mündliche Urteilsbegründung. Es gebe »für das Tatgeschehen keine verwertbare Aussage des Mittäters Patrick Rhodes«, und »Spuren, die die Einlassung der Angeklagten bestätigen, sagen nichts über die Rollenverteilung aus«.
Außerdem habe sich bereits bei der Vorbereitung des Verfahrens abgezeichnet, daß das »kaum nachvollziehbare Verhalten der Angeklagten« eine gründliche Persönlichkeitserforschung erfordere. Daher habe man einen Psychiater und einen Psychologen zugezogen, letzteren speziell, um »das Verhältnis der Angeklagten zu Patrick Rhodes« sowie »zu ihren Eltern zu durchleuchten«.
Evelyn Heyers, heute 28, stellt sich im Gerichtssaal nicht gut dar. Sie betet ihre Geschichte herunter, wie man es kennt von Menschen, die immer und immer wieder dasselbe gefragt werden.
Sie drückt sich gestelzt aus, und was sie sagt, klingt unecht: » . . . vorbelastet durch meinen Vater, entschloß ich mich zum Studium der Jurisprudenz«. Sie spricht über Rhodes und daß sie sich gefürchtet habe vor den »Racheauswirkungen seinerseits«.
Sie beschreibt, nur unterbrochen von einer bisweilen manieriert wirkenden Bewegung der Hand, mit der sie sich die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht streicht, unbewegt gleichförmig den quälenden Horrortrip mit Patrick Rhodes: wie sie nach einem halben Jahr schwanger wurde, wie sie abtreiben ließ, danach bei Rhodes nebst Ehefrau in dessen Zweizimmerwohnung lebte, weil die Eltern von dem Eingriff nichts wissen durften.
Wie sie zum erstenmal von ihm geschlagen, sexuell genötigt und bedroht wurde. Wie Rhodes sie zunehmend bedrängte und verfolgte - und sie nicht die Konsequenzen zog. Sie hat sich genauso verhalten, wie all jene geprügelten Frauen, die gleichwohl immer wieder zu ihren gewalttätigen Männern zurückkehren.
Nicht nur wie sie erzählt, nimmt nicht für sie ein - auch was sie sagt, erzeugt bei den Zuhörern im Saal immer wieder Fassungslosigkeit. Die Brutalität Rhodes' konnte ihr schließlich nicht verborgen geblieben sein, weder seine immer blutrünstigeren Erzählungen noch seine kriminellen Aktivitäten. Warum hat sie sich aus diesem Milieu nicht entfernt, als es noch Zeit war?
Warum hat sie mitgemacht? An einem Einbruch etwa in die Buchhandlung Schrobsdorff auf der Düsseldorfer Königsallee, aus der sie drei Bücher für sich selbst mitnahm (und eines davon ihrem Vater schenkte). Richter Hochstetter: »Haben Sie nicht überlegt, was Sie einem so korrekten und rechtlich denkenden Menschen wie Ihrem Vater damit antaten?«
Warum hat sie Lokale aufgesucht, in denen sie Rhodes zwangsläufig begegnete, wenn sie angeblich den Kontakt zu ihm abbrechen wollte? Warum hat sie sich nicht ihren Eltern, ihrem Vater anvertraut?
Der Fall der Evelyn Heyers, das Abgleiten einer behüteten Tochter aus gutem Haus in die Kriminalität, ihre Wesensveränderung, die sich in der Zeit mit Patrick Rhodes schleichend vollzog, erschließt sich nur mühsam. Das Duisburger Gericht hatte als Sachverständige den Psychiater Martin Albrecht, Viersen, und den klinischen Psychologen Herbert Maisch aus Hamburg geladen. Es konnte ihnen folgen, denn sie hatten sich die Mühe gemacht (Vorteil einer Richterstochter, ein interessanter Fall?), die Familiensituation, in der das Kind Evelyn in seiner Eigenheit großgeworden war, zu erklären.
Der Mutter konnte sie sich nicht offenbaren, denn die flüchtete sich bereits bei Kleinigkeiten in Nervenzusammenbrüche und Weinkrämpfe. »Kind, willst du deine Mutter ins Grab bringen«, hieß es von klein auf. Die Welt der Mutter war »rosa, wattemäßig«, wie es die Tochter schilderte. Auf ihre Tyrannei, ihre Unheilserwartungen und ihre Überängstlichkeit ("Kind, wirf dich nicht weg") antwortete die Tochter mit naiver, leichtgläubiger und unbekümmerter Tollkühnheit vor allem im Umgang mit Männern. Sie sieht nur das, was sie sehen will, in wirklich kritischen Situationen - so auch im Gerichtssaal - lächelt sie, schlägt die Augen auf und wartet vertrauensvoll ab.
Dem ausschließlich Leistung fordernden, korrekten, gefühlsgehemmten und von Frau und Tochter glorifizierten Vater hätte sie sich auch nicht offenbaren können. Er schloß mit der Tochter, nachdem sie zu Rhodes gezogen war, anläßlich einer »Besprechung« einen »Vertrag": » . . . Evelyn kann - wie bisher - hier die Wäsche waschen lassen . . . Evelyn kann auch sonst die Räume nutzen zum Aufenthalt . . . demzufolge ist sie ein Kind in Ausbildung im Sinne der Steuergesetze . . .« Erst jetzt, so scheint es, ist die Tochter in Vaters Welt angekommen. Jetzt kann, jetzt muß er sich mit ihr befassen.
Maisch zog eine Parallele zwischen dem Fall Heyers und dem Verlaufsmuster von Tötungen durch den verlassenen Ehemann oder Partner: das ständige Hin und Her in der Beziehung; die wegstrebende Frau, immer mehr in einer Statistenrolle, bestimmt von den Reaktionen des gewalttätigen, gekränkten Mannes; der Zyklus von Gewalt und Zuwendung oder Ruhe und die Angst vor dem nächsten Gewaltausbruch; schließlich der Zustand von Angst, Depression und Hilflosigkeit der Frau, der jeden Ausweg aus der Falle blockiert.
Zum Schluß hatte Evelyn Heyers nicht mehr gegessen, sie verbarrikadierte sich in ihrer Wohnung im elterlichen Haus, sie trank, nahm Kokain, sie dröhnte sich den Kopf mit Musik voll, sie wirkte hektisch, fahrig, glanzlos. Sie konnte nicht mehr klar denken und entscheiden. Sie fühlte nichts mehr.
Als sie in diesem Zustand in der Wohnung der Prostituierten schließlich die Schüsse hörte, als sie die tödlich verletzten Frauen sah, anfassen mußte, da, sagt sie vor Gericht, habe sie nur noch denken können: Die nächste bin ich.
So wird Evelyn Heyers für das »Kerngeschehen« der schuldausschließende Paragraph 20 zuteil, für die Zeit davor der schuldmindernde Paragraph 21. Mit den sieben Jahren Freiheitsstrafe sind weder Verteidigung noch Staatsanwaltschaft, die zwölf Jahre gefordert hatte, zufrieden. Doch: Wie hätte die Strafe gelautet, wenn die Angeklagte nicht eine Richterstochter, sondern zum Beispiel eine Kollegin der Getöteten aus dem Eros-Center gewesen wäre? o