DROGEN Kinder der Sucht
Als er zum ersten Mal Heroin kaufte, war Matthias gerade neun Jahre alt. Ein schmächtiger Junge mit blonden kurzen Haaren war er damals, und er hatte panische Angst, erwischt zu werden. Er setzte sich trotzdem tapfer in den Zug, fuhr zum Hauptbahnhof, dorthin, wo die Dealer auf Kundschaft warten. Das Geld für die Drogen hielt Matthias fest umklammert in seiner rechten Hand. Er hatte es von seiner Mutter.
Die lag zur selben Zeit zitternd und vor Schmerzen schreiend zu Hause auf dem Fußboden - sie »schob eine Affen«, so nennen es Junkies, wenn sie auf Entzug sind. »Mutter hatte mich angefleht, ich sollte ihr einen Schuss besorgen«, erinnert sich Matthias, »und dann hat sie gedroht, wenn ich nicht fahre, bringe sie sich um. So was hält doch kein Kind aus.«
Matthias musste noch viel mehr aushalten: die ständigen Abstürze der Mutter, die Schläge ihrer Lebensgefährten, die Sorge um seine sieben Jahre jüngere Schwester und das jahrelange Versteckspiel vor dem Jugendamt - damit die Kinder nicht in ein Heim mussten. Die Drogen, die Matthias mit 13 kaufte, nahm er selbst. Da war er schon kurz vor dem eigenen Absturz, schwänzte die Schule, klaute, trieb sich herum.
Heute ist Matthias 18 Jahre alt, fast zwei Meter groß. Er trägt Schlabberjeans und weite Pullis und träumt von einer Karriere als Soldat. Er hatte Glück. Seit drei Jahren lebt er in einer Therapieeinrichtung, lernt seine Vergangenheit zu verarbeiten. »Langsam«, sagt er, »komme ich darüber hinweg.« Doch welche Narben die Kindheit hinterlassen hat, merkt der junge Mann beim Essen. Dann schaufelt er alles auf seinen Teller, was auf dem Tisch steht. »Wenn meine Mutter auf Tour war, schloss sie uns immer ein. Dann gab es manchmal tagelang nichts zu essen.«
Schicksale wie das von Matthias werden selten öffentlich, dabei gehören sie zum Alltag in Deutschland: Niemand weiß genau, wie viele solcher Junkie-Kids hier leben, Schätzungen gehen von 40 000 bis 60 000 aus. Ein großer Teil davon ist im Vor- und Grundschulalter - und die Prognosen sind bedrückend: Die meisten süchtigen Mütter sind mit ihrem Nachwuchs überfordert. Viele der Kinder drohen zu verwahrlosen, sie werden verhaltensauffällig, haben Lernschwierigkeiten und rutschen nicht selten selbst in die Sucht ab.
Im schlimmsten Fall kommt es sogar zu Katastrophen wie in Bremen: Dort fanden Polizisten im vergangenen Oktober die Leiche des zweieinhalbjährigen Kevin tot im Kühlschrank seines süchtigen Ziehvaters. Der Junkie steht im Verdacht, das Kind womöglich zu Tode geprügelt zu haben. Ein Untersuchungsausschuss ermittelt nun, wieso die Behörden das Kind nicht schützen konnten, obwohl doch die Bedrohung seit langem bekannt war.
Auch bundesweit hat der Tod des Jungen Wellen geschlagen: Seither streiten Politiker über Kinderbetreuung und verbindliche Vorsorgeuntersuchungen, die Parteien entdecken die Familie neu - und
entsetzte Bürger wundern sich: Wieso dürfen Junkies wie Kevins Eltern überhaupt Kinder großziehen? Hätte der Staat nicht längst eingreifen müssen?
Dabei spitzt sich die Situation in vielen Fällen zu, eben weil der Staat eingreift. Es ist die Versorgung mit Methadon, die Süchtige langfristig aus der Abhängigkeit befreien soll - der Fachleute aber auch gewichtige Nebenwirkungen attestieren.
So gibt es unter den derzeit rund 65 000 Methadonpatienten einen regelrechten Babyboom. »Während bei vielen heroinkonsumierenden Frauen die Periode ausbleibt und sie deshalb unfruchtbar sind, stabilisiert die Methadonbehandlung den Zyklus«, erläutert der Erfurter Mediziner Ekkehart Englert. Die Folge: Fast jede zweite Substituierende hat mindestens ein Kind. Allein in der Berliner Charité waren in den vergangenen Jahren fast zwei Drittel der schwangeren Süchtigen in der Methadonversorgung.
Doch was in einem Land, das über Kindermangel klagt, eine gute Nachricht sein könnte, überfordert Jugendämter, Mediziner und Suchthilfe. Vielerorts fehlen ein klares Konzept für den Umgang mit den Junkie-Kids ebenso wie Personal für die notwendige Betreuung und Kontrollen. In mancher Stadt landet die Hälfte der Kinder früher oder später im Heim oder in einer Pflegefamilie.
So erging es auch Martina K., 37, einer schlanken, blonden Frau aus Hannover: Jahrelang dröhnte sie sich mit Heroin zu. »Ich wollte meinen Körper so wenig wie möglich spüren«, sagt sie. Eine Bekannte nahm sie mit zu einem Arzt, der ihr Methadon verschrieb. »Das war zwar ausgerechnet ein Gynäkologe«, erinnert sie sich, »doch davon, dass ich schwanger werden könnte, hat der nie gesprochen.« Martina K. bekam fortan einmal am Tag Methadon von dem Mediziner. Nebenbei aber rauchte sie viel, trank ständig Alkohol - und sie hatte häufig wechselnde Partner, ohne zu verhüten.
Sie war schon im fünften Monat, als endlich auffiel, dass sich Nachwuchs ankündigte. Der Arzt sagte: »Da gratuliere ich Ihnen.« Er gab ihr ein paar Broschüren. Als Martina K. nach Hause kam, ließ sie sich erst einmal volllaufen. »Das halte ich nicht aus«, dachte sie. Für eine Abtreibung war es da zu spät.
Mit der Geburt des kleinen Ben im achten Schwangerschaftsmonat ging der Horror allerdings erst richtig los. Die meisten Methadonsäuglinge leiden an einem Entzug, der noch schlimmer ist als bei Heroin. Ben hatte Krämpfe, zitterte am ganzen Körper, und Martina K. war verzweifelt: »Ich fühlte mich als schlechte Mutter. Doch mein Kind zur Adoption geben, das wollte ich auch auf keinen Fall.«
Jan-Peter Siedentopf, Oberarzt an der Geburtsklinik der Berliner Charité, kennt diese Situationen: 50 Junkie-Kids kommen in der Infektionsambulanz im Jahr zur Welt. »Die schrillen Schreie der Kinder, wenn der Entzug einsetzt, sind selbst für Gesunde kaum zu ertragen«, sagt er.
Besonders gefährlich für den Nachwuchs ist, wenn substituierende Frauen rauchen, trinken oder illegale Drogen nehmen, was in der Methadonversorgung weit verbreitet ist - dann drohen dem Nachwuchs Fehlbildungen. Vielen Süchtigen scheint das egal zu sein: Bei Drogentests in der Charité fiel fast jede zweite Frau mit Beikonsum auf. »Die Kinder sind unruhiger und aggressiver als Altersgenossen, haben motorische Probleme und Lernschwierigkeiten«, sagt Siedentopf. Konflikte sind da programmiert: »Schwierige Kinder treffen auf besonders leicht reizbare Eltern«, schildert der Mediziner. »Da frage ich mich schon manchmal: Kann das gutgehen?«
Siedentopf rührt damit an Kernfragen. Etwa der, ob sich Kindererziehung und Drogenkonsum generell vereinbaren lassen? Andererseits: Haben die Mütter nicht doch eine Chance verdient? Immerhin stellt das Grundgesetz die Familie unter besonderen Schutz.
Für eine frühe Trennung von Mutter und Säugling gibt es zumindest wissenschaftliche Argumente: Die Psychologin Silke Schiemann der Kinder- und Jugendpsychiatrie Frankfurt hat in ihrer Dissertation 50 Kinder untersucht, die in den Jahren 1988 bis 1995 von damals drogenabhängigen Müttern in Frankfurt am Main geboren wurden. Rund ein Drittel dieser Kinder lebt noch bei zumindest einem Elternteil, ein weiteres Drittel war kurz nach der Geburt zu Pflegeeltern gekommen oder adoptiert worden. Und das letzte Drittel hat »eine Odyssee mit bis zu fünf Betreuungswechseln hinter sich bringen müssen«, berichtet Schiemann.
Das Ergebnis: »Den Kindern, die früh adoptiert wurden oder zu Pflegeeltern kamen, ging es mit Abstand am besten«, fand die Psychologin heraus. Zwar litten auch die Pflegefamilienkinder, die in relativ stabilen Verhältnissen aufwuchsen, im Alter von 6 bis 15 Jahren noch unter erhöhten Aufmerksamkeitsproblemen und verstärkt aggressivem Verhalten. Aber bei den anderen Gruppen fielen die Ergebnisse »signifikant schlechter« aus, so Schiemann. Bei jenen Kindern attestierte die Psychologin »das höchste psychosoziale Risiko« und die »größten Entwicklungsbeeinträchtigungen«. Die Wissenschaftlerin kommt zu
einer deutlichen Empfehlung an die Jugendämter:
Bei der Frage nach einer Fremdunterbringung sollten sie »nicht zögerlich« sein. Zwar habe sie bei ihren Studien auch »einige wenige« Fälle kennengelernt, in denen die Kinder bei ihren opiatabhängigen Eltern unter vertretbaren Bedingungen aufgewachsen seien. Aber dies sei nur dann verantwortbar, wenn die Behörden »immer sehr nah dran bleiben«.
Denn oft scheitern sogar Mütter, die in der Geburt eines Kindes ihre Chance sehen, der Sucht zu entfliehen - wie Mechthild B., 42. Im Wartezimmer eines Substitutionsarztes in einer norddeutschen Kleinstadt entdeckte sie vor fünf Jahren die Liebe ihres Lebens. Schnell wurde sie schwanger, doch die Bedingungen für das »Wunschkind« waren erbärmlich: Ihrem Arzt verschwieg sie, dass sie nebenbei Heroin spritzte, die Frauenärztin bemerkte nicht einmal ihre Sucht.
Als Tochter Viktoria auf die Welt kam, war der Traummann über alle Berge, und das Kind hatte einen schweren Herzfehler und Hirnschäden.
Ihre Sucht ist Mechthild B. nicht losgeworden. Im Gegenteil: »Die Situation hat mich so überfordert, dass ich ständig neuen Stoff brauchte.« Die Mitarbeiter im Jugendamt merkten nichts. »Einmal in der Woche kam eine Frau zum Kaffeetrinken«, erinnert sich Mechthild B. Sie hatte dann die Wohnung aufgeräumt, das Kind war im Kindergarten. Obwohl sich die inzwischen vierjährige Viktoria wie eine Zweijährige verhielt, schrieb die Behörde unverdrossen positive Berichte.
Die Wende kam erst, als die Frau ihr unruhiges Kind abends auf dem Schoß in den Schlaf wiegen wollte - und selber im Rausch wegsackte. »Mitten in der Nacht klingelten die Nachbarn Sturm«, erinnert sie sich. »Die konnten nicht schlafen, weil meine Tochter stundenlang mit dem Kopf auf den Boden schlug.« Am nächsten Morgen meldete sich Mechthild B. beim Jugendamt, das Kind kam zu einer Pflegefamilie. »Sonst hätte ich die Kleine wohl umgebracht.«
Solche Stimmungsschwankungen sind nach Ansicht des Kölner Suchtforschers Michael Klein die Hauptgefahr für die Kinder. »Wer gerade eben noch lieb und zugewandt mit seinem Kind spielt, kann innerhalb weniger Stunden abweisend kalt und gewalttätig sein«, betont er.
Seit Jahren befasst sich Klein als einer der wenigen Wissenschaftler in Deutschland mit dem Thema - und weiß, dass deutsche Jugendämter die Situation häufig falsch einschätzen: »Angekündigte Besuche taugen kaum, die Kinder zu schützen. Wichtig wären intensive Betreuung und ständige Kontrolle.«
Davon allerdings ist das deutsche Sozialsystem weit entfernt. »Für viele Städte und Gemeinden sind das lauter Schmuddelkinder. Die meisten Mütter sind alleinerziehend, fast alle leben von Hartz IV«, klagt Martina Tödte von »Bella Donna«, der Landesfachstelle Frauen und Sucht in NRW. »Da will keiner ran.«
In vielen Kommunen schieben Mediziner, Hilfseinrichtungen und Behörden die Verantwortung hin und her - dabei sind substituierende Junkies, anders etwa als Alkoholiker, den Behörden bekannt: Sie werden in einem bundesweiten Register notiert, das freilich keine Information über den etwaigen Nachwuchs enthält.
Eigentlich sollten Städte und Gemeinden für eine psychosoziale Begleitung der Süchtigen sorgen, doch die fällt häufig leeren Kassen zum Opfer. Drogenberater insistieren ungern - das könnte die Vertrauensbasis zerstören. Und Jugendhilfeeinrichtungen werden von vielen Junkie-Müttern ohnehin gemieden. Sie fürchten, dort würden ihnen die Kinder weggenommen.
»Für alles gibt es Normen und Vorschriften«, klagt Jörg Kons, Leiter der Beratungsstelle »Fitkids« für Suchtkinder im nordrhein-westfälischen Wesel, »nur in diesem Bereich ist nichts geregelt.«
Erschwert wird die Situation, weil Politiker landauf, landab bei der Jugendhilfe die Mittel zusammengestrichen haben. In Frankfurt leben rund 1200 Junkie-Kids, das örtliche Projekt »Lichtblick«, das sich nicht einmal zwei Vollzeitstellen leisten kann, erreicht laut Leiterin Gabriele Schwarz »gerade zehn Prozent von ihnen«. In Hamburg sind es drei Betreuer des Projekts »Iglu«, die sich theoretisch um geschätzte 3000 Suchtkinder zu kümmern hätten. Projektkoordinator Ulrich Weller-Dieck klagt: »Hilfsmaßnahmen bewilligt die Stadt häufig nur, wenn Gefahr in Verzug ist.«
Dabei drohen den Kindern längst nicht nur Verwahrlosung oder Misshandlung. »Ob jemand süchtig wird, ist kein Zufall, Suchtverhalten wird gelehrt«, warnt der Wissenschaftler Ruthard Stachowske. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder dem Drogenschicksal anheimfallen, sei in einer Suchtfamilie sechsmal höher als in einer normalen Familie. Stachowske leitet die Therapeutische Gemeinschaft Wilschenbruch im niedersächsischen Lüneburg, wo Kinder und ihre süchtigen Eltern gemeinsam behandelt werden können. »Es gibt nur eine Handvoll solcher Einrichtungen, aber einen riesigen Bedarf«, klagt der Heimleiter.
Dass es bei entsprechender Betreuung durchaus eine gemeinsame Perspektive für Mütter und Kinder geben kann, will der Sozialdienst katholischer Frauen in Köln seit dem vorvergangenen Jahr mit einem ungewöhnlichen Angebot zeigen. Direkt gegenüber dem Wohnsitz des Kölner Kardinals Joachim Meisner betreibt die Organisation die »Clearingstelle Wohnen": In vier Apartments können süchtige Frauen mit ihren Kindern wohnen - um ihre Erziehungsfähigkeit zu beweisen. »Wir kehren die Beweislast um«, sagt der Leiter des Kölner Jugendamts Wolfgang Büscher. »Die Frauen zeigen, dass sie mit den Kindern klarkommen.«
Aische S., seit vier Jahren heroinsüchtig und jetzt im Methadonprogramm, wohnt seit Juli mit ihrer inzwischen neun Monate alten Tochter Desiree in einem der Apartments. Im ersten Monat nach der Geburt lebte ihr Kind bei einer Pflegefamilie.
»Unbeschreiblich« sei der Tag gewesen, an dem das Kind zu ihr zurückkehrte, schwärmt sie und hebt Desiree auf ihren Schoß: »Die werde ich nicht mehr hergeben.« Auch mit Methadon wolle sie bald nichts mehr zu tun haben. »Sie ist auf einem guten Weg«, glaubt die Psychologin Ilka Reinert, die in einem vierköpfigen Team die Frauen rund um die Uhr betreut.
Das Ende scheint allerdings offen: Neun Frauen wagten bisher das Erziehungsexperiment. Fünf sind gescheitert, die Trennung der Kinder von ihren Müttern wurde eingeleitet. MATTHIAS BARTSCH,
MICHAEL FRÖHLINGSDORF