TÜRKEI Klebriger Honig
Rund 100 Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei, an der Spitze ihr Führer Bülent Ecevit -- mithin ein knappes Viertel aller Volksvertreter --, erlebten unerwartet den türkischen Alltag am eigenen Leibe.
Die sozialdemokratischen Republikaner geleiteten am Mittwoch voriger Woche im südosttürkischen Städtchen Nevsehir gerade einen ihrer ermordeten Parteifreunde zu Grabe, als Schüsse und Steine aus einer Gruppe von etwa 150 feindlich gesinnten Zaungästen die Trauergemeinde trafen. Vier Parlamentarier und ein Jugend-Parteivertreter wurden verletzt.
Nicht zuletzt wegen der Zunahme der politischen Auseinandersetzungen mit derlei Mitteln hatte Ecevit zwei Tage zuvor seinen Entschluß verkündet, die Minderheitsregierung der Gerechtigkeitspartei unter dem Rechtskonservativen Süleiman Demirel per Mißtrauensantrag zu stürzen und zur Rettung der Nation eine Große Koalition anzubieten.
Denn das Land, in dem der Machtbereich der Nato ausläuft und der des Islam beginnt, nähert sich südamerikanischen Zuständen.
Vorige Woche wurde das Kriegsrecht für 20 Provinzen verlängert, gut die Hälfte der 45-Millionen-Bevölkerung ist davon betroffen. 1793 politische Mordopfer gab es in den sieben Monaten Demirelscher Regierungszeit -- acht pro Tag. Und die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International berichtet von schwerer, systematischer Folter in türkischen Gefängnissen.
Trotz angelaufener westlicher Finanzhilfe für den wichtigen Wächter am Bosporus konnten bislang nur Ökonomen mit wahrhaft seismologischem Gespür Schwankungen zum wirtschaftlich Besseren ausmachen.
Die Masse der Türken würgt vielmehr an den bitteren Pillen wie Abwertung, Sanierung der Staatsbetriebe und Lohnstopp, die der Internationale Währungsfonds verordnet hat, bevor er vorigen Donnerstag grünes Licht für den ersten 1,65-Milliarden-Dollar-Kredit gab. Die Konsequenzen erst einmal: Arbeitslosigkeit, Konsumgütermangel, über 100 Prozent Inflation.
Doch es sind nicht allein die Trostlosigkeiten im Innern, die Demirel, der das Premiersamt zum sechsten Mal innerhalb von knapp fünfzehn Jahren innehat, gefährlich werden. Es ist auch seine eingleisig prowestliche außenpolitische Orientierung, die nun neben der Ecevit-Opposition (die ausgeglichene Beziehungen zur Sowjet-Union sowie zur islamisch-arabischen Welt befürwortet) auch noch den Führer der islamischen »Nationalen Heilspartei«, S.119 Necmettin Erbakan, gegen Demirel aufgebracht hat.
Erbakans 22 Moslems sind, außer den 17 Männern des Rechtsradikalen Alparslan Türkes, Demirels wichtigste Stütze im Parlament, da Ecevits Partei mit 202 Stimmen die stärkste Fraktion stellt.
Am 7. Juni hatte Erbakan gedroht, er werde der Regierung sein Vertrauen entziehen, sollten 16 Bedingungen nicht erfüllt werden. Unter anderem solle die Türkei
* alle Bemühungen für einen EG-Beitritt aufgeben;
* sich außenpolitisch den islamischen Staaten zuwenden und die ausdrückliche Verpflichtung übernehmen, daß die US-Stützpunkte auf türkischem Boden nicht gegen Islam-Staaten benutzt werden.
Nun drängt aber Demirel -- sehr zu Brüssels Verlegenheit -- mit Macht in die EG; und die Verpflichtung in der Stützpunktfrage kann er glaubwürdig nicht abgeben.
Wohl nicht von ungefähr sind dem türkischen Parlament, welches den Pakt ratifizieren muß, die wesentlichen Teile des am 29. März in Ankara unterzeichneten türkisch-amerikanischen Verteidigungs- und Wirtschaftsabkommens vorenthalten worden. (An den US-Kongreßmännern geht das Abkommen, das als sogenanntes »executive agreement« abgestempelt ist, ohnehin und völlig legal vorbei.)
Der 100 Seiten lange Militärpakt umschließt das Hauptabkommen (sechs Seiten) sowie drei Zusätze und vierzehn Anhänge. Der Washingtoner Korrespondentin des linksliberalen britischen »New Statesman« hat jetzt das vollständige Vertragswerk vorgelegen, aus dem das Blatt am vorigen Freitag unter der Überschrift »Americas sticky Turkish delight«
( »Sticky« = klebrig; »Turkish delight« = ) ( Türkischer Honig; »delight« = ) ( Entzücken. )
Auszüge bringt.
»Der explosive Teil des Paktes«, so der »New Statesman«, »wird den USA ermöglichen, militärische Unternehmen auch außerhalb der vereinbarten geographischen Grenzen der Nato zu starten.«
Während Artikel V, Abschnitt 4 des Sechs-Seiten-Hauptabkommens »das Ausmaß der in diesem Abkommen vorgesehenen Verteidigungskooperation« auf »sich aus dem Nordatlantikpakt ergebende Verpflichtungen« beschränkt, wird dies nach Ansicht des Londoner Blattes durch die Zusatzvereinbarung Nummer 3 verwässert. Die sieht vor, daß »Zweck, Aufgabe ... der US-Streitkräfte sowie ziviler Bestandteile im einzelnen durch gegenseitige Übereinkunft festgelegt« werden.
Auch bezüglich einzelner Stützpunkt-Abkommen werden Doppeldeutigkeiten aufgedeckt, beispielsweise für die wichtige Luftwaffenbasis Incirlik.
In einem Teil des Paktes heißt es, Amerika und die Türkei wollten gemeinsam zwei taktische US-Air-Force-Staffeln in Incirlik »zur Unterstützung der Nato-Verteidigungspläne« stationieren. In einem anderen -- von Nato keine Rede -- steht, ausschließlich amerikanisches Personal sei verantwortlich und autorisiert, US-Militärflugzeuge zu kontrollieren. Obwohl der Vertrag von türkischer Seite noch nicht ratifiziert wurde, gilt für Washington: »Wenn etwas passiert, ist er in Kraft« (so ein Pentagon-Sprecher zum SPIEGEL).
Daß dieses »Schlupfloch« ("New Statesman") bereits benutzt wurde, argwöhnte der fromme Moslem-Professor Erbakan bereits Ende April.
Am 28. des Monats, unmittelbar nach dem mißglückten Wüstenabenteuer der Amerikaner im Iran, seien -von den Türken unbemerkt oder geflissentlich übersehen -- auf dem südostanatolischen Flugplatz Erhac zwei US-Transportmaschinen mit je 90 Mann in voller Ausrüstung gelandet.
Demirel dementierte, und gegenüber dem besorgt nachfragenden iranischen Außenminister Ghotbsadeh beteuerte er, freilich im grammatikalischen Futur, türkische Luftstützpunkte »werden« nicht für Aktionen gegen den Iran zur Verfügung stehen.
Nach einem Gespräch mit dem Premier gab der Iran-Freund Erbakan am vorigen Donnerstag bekannt, er werde seine endgültige Vertrauensentscheidung an diesem Montag treffen.
Die für jenen Donnerstag vorgesehene Mißtrauensdebatte im Parlament wurde ebenfalls aufgeschoben: Abgeordnete der Gerechtigkeitspartei boykottierten die Sitzung, und Volksparteiabgeordnete mußten schon wieder zur Beisetzung eines ermordeten Parteigenossen.
S.119"Sticky« = klebrig; »Turkish delight« = Türkischer Honig; »delight"= Entzücken.*