KOSMONAUTEN Kleine Liedchen
Rußlands Kosmonauten-Pärchen Walentina Tereschkowa und Walerij Bykowski geriet auf die schiefe Bahn: Beide Raumfahrer durcheilten das All auf Flugbahnen, die ihnen ursprünglich gar nicht zugedacht waren.
Zu diesem Resultat sind amerikanische Wissenschaftler gelangt, nachdem die US-Raumfahrtbehörde Nasa einen detaillierten Bericht über den Verlauf des Wostok-Unternehmens (SPIEGEL 26/1963) veröffentlicht hat. Der Nasa -Bericht ist das bislang deutlichste Anzeichen dafür, daß der »kolossale technische Erfolg«, wie die Sowjets ihren kosmischen Doppelstart rühmten, in Wirklichkeit ein - wenn auch ruhmträchtiger - Weltraum-Fehlschuß gewesen ist.
Daß der jüngste russische Verbandsflug »nicht planmäßig verlief« (so das Fachblatt »Aviation Week"), hatten US -Experten bereits vermutet, als Oberstleutnant Bykowski in Wostok V die ersten Runden um den Erdball machte. Als Indizien werteten die Amerikaner zwei offizielle Moskauer Verlautbarungen.
Unmittelbar nach dem Start am Nachmittag des 14. Juni hatte die sowjetamtliche Nachrichtenagentur Tass die Umlaufdaten bekanntgegeben. Umlaufzeit: 88,4 Minuten, Erdfernster Punkt (Apogäum) der Raumschiffbahn: 235 Kilometer. Erdnächster Punkt (Perigäum): 181 Kilometer.
Sieben Stunden später, um 22.12 Uhr Moskauer Zeit, berichtigte Tass. »Nach neuesten Angaben« betrug die Umlaufzeit der Bykowski-Kapsel nunmehr 88,27 Minuten. Apögäum: 222 Kilometer, Perigäum: 175 Kilometer.
Was sich hinter dieser Korrektur verbarg, haben jetzt die Amerikaner enthüllt, deren weltweites Satelliten-Spähersystem Spadats (Abkürzung für »space detection and tracking system") das Raumschiff Wostok V schon kurz nach dem Start erfaßt hatte. Noch ehe die Sowjets die Bahnabweichung bekanntgaben, war den Amerikanern bereits klar, daß Oberstleutnant Bykowski die Erde auf einer Ellipsenbahn umrundete, die um mehrere Kilometer erdnäher war, als ursprünglich von Tass verlautbart.
Allerdings: Auch auf der von Tass zuerst angegebenen Umlaufbahn entdeckten die Amerikaner einen Flugkörper. Nur war es nicht die Raumkapsel, sondern die letzte Stufe der Trägerrakete, die Wostok V hinaufbefördert hatte. Zweierlei ließ sich daraus folgern:
- Das sowjetische Raumschiff hatte sich vorzeitig von der Antriebsrakete gelöst; Resultat dieser Panne war eine um rund 20 Kilometer engere Umlauf-Ellipse.
- Den Sowjets war das Malheur anfangs entgangen; so gaben sie irrtümlich die Flugdaten der Raketenendstufe - und auch diese noch
ungenau - als Flugdaten der Raumkapsel an.
Die Flugbahn der Raketenendstufe aber, die eigentlich Wostok V zugedacht war, stimmte in ihrer Form fast genau mit dem Raumpfad überein, den Walentina Tereschkowa später mit Wostok VI einschlug. Erdfernster und erdnächster Punkt für Wostok VI: 233 beziehungsweise 183 Kilometer.
Das wiederum deutet darauf hin, daß die Sowjets tatsächlich arrangieren wollten, was Boulevard-Blätter mit der Schlagzeile »Kuß im All« umschrieben: ein Rendezvous im Kosmos. Die Raumschiffe sollten offenbar ursprünglich hintereinander herfliegen - idealste Vorbedingung für den Versuch, Raumkapseln zusammenzukoppeln: Beide Raumkapseln wären in derselben Bahnebene geflogen, bei annähernd gleicher Flughöhe und gleicher Geschwindigkeit. So hätten sie sich langsam aneinander herantasten können wie ein Bomber und ein Tankflugzeug für das Auftanken während des Fluges.
Für die Annahme, daß die Russen mit Wostok V und VI ein solches Manöver planten, sprechen zudem andere Überlegungen. Zum einen müssen die Sowjets - wie die Amerikaner, die das Koppel-Meeting für Ende 1964 vorgesehen haben ("Projekt Gemini") - dieses Nahziel der Raumfahrttechnik ansteuern, wenn sie das Fernziel einer Mond -Expedition erreichen wollen. Denn das Raum-Rendezvous ist die einzige Möglichkeit, mit Hilfe weniger schubstarker Raketen ein raumtüchtiges Fahrzeug im All zusammenzubauen und es dann mit erhöhter Geschwindigkeit zu anderen Planeten auf die Reise zu schicken.
Zum anderen hätte ein Rendezvous -Versuch der russischen Gepflogenheit eher entsprochen, den Marsch ins All nicht in kleinen Schritten (wie die Amerikaner), sondern mit immer neuen Riesensätzen zurückzulegen:
- April 1961: Erster Mensch im All (Gagarin mit einer Erdumrundung).
- August 1961: Erste Mehrfach-Umkreisung (Titow mit 17 Erdumrundungen).
- August 1962: Erster Raumschiff -Gruppenflug« (Nikolajew und Popowitsch, die in Wostok III und IV
zeitweise auf Sichtweite nebeneinander herflogen).
Der »Genosse Chefkonstrukteur«, wie die Sowjets ihren obersten Raketenbauer geheimnisvoll umschreiben, erläuterte dieses Prinzip noch vor dem Start von Wostok V und VI so: »Es gibt für uns keinen Grund, ein bereits ausgeführtes Stadium der Raumfahrt zu wiederholen.«
Der Simultan-Flug von Walentina Tereschkowa und Walerij Bykowski aber markierte kein neues Stadium der Raumfahrt. Vom Spektakulum des kosmischen Damen-Debüts abgesehen, gab es nichts Neues im Osten. Die Russen waren gezwungen, was sie erklärtermaßen nicht tun wollten: sich technisch zu wiederholen.
Allem Anschein nach sahen sie keine Alternative. Theoretisch hätten sie zwar die Tereschkowa auf die abgerutschte Bahn ihres Vorläufers Bykowski einschießen können. Aber diese Möglichkeit konnte nach Ansicht amerikanischer Experten nicht genutzt werden, weil die russischen Raketentechniker nicht genügend Zeit hatten, das elektronisch festgelegte Flugprogramm zu ändern - eine langwierige Prozedur, da sämtliche Flugwerte, so die Brennschlußzeiten der Raketen, neu errechnet und die Steuerungssysteme entsprechend eingerichtet werden müssen.
Und die Bahnkorrektur während des Fluges vorzunehmen, hätte einen derart hohen Treibstoffvorrat erfordert, wie ihn selbst die Russen in ihren üppig dimensionierten Raumschiffen vom Wostok-Typ nicht unterbringen können.
So zögerten die Sowjets denn auch den Abschuß von Wostok VI zwei Tage lang hinaus - »unentschlossen, wie sie die Panne vertuschen könnten« ("Aviation Week"). Schließlich verfielen sie auf einen nach Ansicht amerikanischer Fachleute ebenso simplen wie wirkungsvollen Trick: Sie behielten zwar die für Wostok Vl programmierte Form der Flugbahn bei, schossen aber die Trägerrakete in eine andere Bahnebene ein.
Konsequenz: Die Flugbahnen von Wostok V und VI mußten sich bei jeder Erdumkreisung an zwei Punkten im Winkel von 30 Grad überschneiden
(siehe Graphik). In der Tat näherten sich Wostok V und VI bis auf fünf Kilometer - ein neuer Rekord, der Fachleute freilich nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß die Sowjets damit dem Rendezvous eher entrückt als näher gekommen waren.
Denn ein Koppelmanöver auf sich kreuzenden Bahnen auszuführen, wäre nach dem derzeitigen Stand der Technik geradezu aberwitzig: Würden Raumschiffe, die - wie die Kapseln vom Wostok-Typ - noch nicht mit Steuerraketen zur Richtungsänderung ausgestattet sind, aus verschiedenen Richtungen aufeinandertreffen, käme es gar nicht zu einem Anlegemanöver, sondern zu einer Explosion. Allein Staub bliebe übrig, wenn sie bei einer Geschwindigkeit von 28 000 km/st zusammenprallen würden.
So ließen die russischen Raketen -Ingenieure denn auch ihr gemischtes Weltraum-Doppel Walentina Tereschkowa und Walerij Bykowski auf fernmündliche Kontakte ausweichen. Bykowski: »Wir tauschten Meinungen aus und sangen kleine Liedchen.«