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»Kleines Land, kleine Leute, kleiner Geist«

Eine neureiche Goldgräber-Metropole, ein gescheitertes Manhattan, eine charakterlose Bürosilo-Stadt -- das alles ist die Europa-Metropole Brüssel, ehemals eine der schönsten Städte des Kontinents. Die Diplomaten fliehen an den Wochenenden, die Polizei ist verhaßt: »Brüssel nimmt jeden auf, integriert aber niemanden.«
aus DER SPIEGEL 20/1978

Bei einem Diner auf Schloß Lacken, so erzählen sich Briten in der belgischen Hauptstadt, habe König Baudouin bemerkt, daß einer der Gäste seine Frackjacke ungeniert über die Stuhllehne hängte. Vom König zur Rede gestellt, berief sich der Gast auf die ausdrückliche Erlaubnis des britischen Prinzgemahls Philip.

Wie bitte? Ja, rechtfertigte sich der Gast, er habe bei einem Galaessen im Londoner Buckingham-Palast ebenfalls sein Jacket ausgezogen, worauf der Gatte der britischen Königin gesagt habe: »Wissen Sie überhaupt, wo Sie hier sind? So etwas können Sie in Brüssel machen.«

Das Lachen, das die Geschichte unter den Briten in Brüssel auslöst, entlarvt die Aggression der Zuhörer gegen eine Stadt, deren Name bei Ausländern und Einheimischen gleichermaßen negative Reaktionen hervorruft.

Für Frankreichs einstmaligen Königspräsidenten Charles de Gaulle war die Stadt ein gefährliches Nest von Apatriden, vaterlandslosen Gesellen. Für Bonns Kanzler Helmut Schmidt ist sie synonym für Verschwendung und Schlamperei einer im Namen Europas wildwuchernden internationalen Bürokratie.

Flamen und Wallonen des Zehn-Millionen-Königreiches Belgien macht die Nennung ihrer Hauptstadt schnell vergessen, daß sie immer noch den gleichen Paß tragen, mit den gleichen Franken zahlen und dem gleichen Königshaus Loyalität schwören -- ihrem verbissenen Kulturkampf zum Trotz.

Brüssel ist nämlich für die Flamen nach wie vor ein frankophoner Pfahl im Fleisch der germanisch-flämischen Provinz Brabant. Für die Wallonen aber, die sich in den letzten Jahren von den demographisch wie wirtschaftlich dynamischeren Flamen zunehmend bedroht fühlen, bleibt Brüssel letzte Bastion gegen die Machtübernahme durch die einstige flämische Dienernation.

Den Nachbarn Belgiens in Ost und West schließlich gilt Brüssel als kulturlos, als Hauptstadt eines Landes, das sich nach dem Urteil vieler Touristen »allenfalls zur Durchreise lohnt«. So erinnert sich »Windrose«-Weltenbummler Peter von Zahn an Brüssel nur, weil er sich hier »keinen Stadtplan gekauft« hat -- die belgische Hauptstadt schien ihm solcher Beachtung nicht wert.

Warum diese Mixtur aus Ablehnung und Indifferenz gegenüber einer Millionenstadt, die demnächst tausend Jahre Brüsseler Geschichte feiert, mit dem Großen Markt, der Grand« Place, in ihrer Mitte und dem Gemeinsamen Markt um sie herum. Warum so wenig Anteilnahme, Lokalstolz, Sympathie?

Gewiß ist die Stadt Brüssel in Europa ein Unikum: eine zweisprachige Kapitale, die nicht zwischen Flamen und Wallonen vermittelt, sondern sich im Kampf um Eigenständigkeit als dritte Nationalität in der Bevölkerungspalette des Königreichs zu profilieren sucht.

Dabei gibt es eine Hauptstadt namens Brüssel eigentlich gar nicht. Wei heute übertreibend von der »Hauptstadt Europas« spricht, meint in Wirklichkeit ein Areal von rund 16 000 Hektar, auf dem rund 1,05 Millionen Menschen leben -- aber in 19 autonomen Gemeinden nebeneinander.

Brüssel ist nur eine der 19, das Zentrum im Tal der Senne mit der Grand« Place, begrenzt durch das Fünfeck der einstigen Stadtmauern; was als Haupt stadt des Landes gilt, trifft sich mit großem Aufwand im »Rat der Agglomera tion«, in dem sich 103 Bürgermeister und Stadträte der Gemeinden über gemeinsame Projekte wie Straßenbau zu einigen suchen, aber ein städtebauliches Debakel entstehen ließen, das seinesgleichen in Europa sucht.

Eine unheilige Allianz aus Kommunalpolitikern und Spekulanten startete in den fünfziger Jahren zum Frontalangriff auf das Stadtbild und war dabei so erfolgreich, daß sich das heutige Brüssel als neureiche Goldgräber-Metropole empfiehlt, als städtebauliches Monument einer gigantischen charakterlosen Retortenarchitektur, ein belgisches Brasilia.

Zur Vernichtung ihrer Stadt, umfassender als es die Kanonen des französischen Marschalls Villeroi im 17. Jahrhundert vermocht hatten, marschierten die Brüsseler Frondeure unter der Fahne des Fortschritts: Brüssel sollte für die Weltausstellung von 1958 modernisiert werden. »Alles, was dieser Stadt in den letzten 20 Jahren angetan wurde«, erinnert sich heute der Brüsseler Journalist Robert Goffaux von »Le Soir«, »datiert aus jenen Tagen.«

Die Brüsseler Gemeinden einigten sich damals auf den Bau eines Tunnelsystems für den Ansturm der aus dem Ausland erwarteten Autos, bauten in Heysel ein Ausstellungsgelände mit dem Atomium, entwarfen Pläne für eine Untergrundbahn, ließen Hotels und die ersten Bürosilos hochziehen.

Außerdem bestimmten die sechs EG-Gründerstaaten, die Europa-Kommission in Brüssel zu stationieren, ausreichender Anlaß für die heute mehr als 500 multinationalen Unternehmen, ihre Europa-Zentralen ebenfalls in Brüssel einzurichten. Dort ch Goldrush-Stimmung aus.

Die Summe aus gewagten Finanzmanövern, spektakulären Bankrotts und gewaltigen Projekten, die aber schludrig vorbereitet waren: Brüssel verwandelte sich in den 20 Jahren seit Gründung der EG zu Westeuropas größter Spekulationswüste.

Makabres Denkmal einer sinnlosen Bauwut wurde das »Projekt Manhattan«, ein großes Büro- und Hotelzentrum am Brüsseler Nordbahnhof, geplant und beschlossen in einer Rekordzeit und mit einer für Brüsseler Verhältnisse beispiellosen Effizienz. Den Plan hatte der damalige Brüsseler Stadtbaurat und heutige Vizepremier Paul Vanden Boeynants im Architektenbüro seines Freundes Charles de Pauw bestellt, und de Pauw wollte mit seinem »Brüsseler Manhattan« klotzen:

Auf einem halben Quadratkilometer sollten außer dem »Manhattan-Centre« an die 30 weitere bis zu 100 Meter hohe Silos und elf Bürotürme von über 100 Metern entstehen, der höchste 162 Meter hoch. Das Brüsseler Stadtbauamt schwärmte denn auch, das »diese Erneuerung Teil der Stadt des Jahres 2000, modernster Teil Brüssels, wenn nicht gar Westeuropas« werde.

Für die rund 15 000 bisherigen Bewohner des Manhattan-Gebietes brach zunächst einmal Orwells 1984 an. Um das Areal freizubekommen, stellten die Gemeinden Gas und Wasser ab, Mieten wurden von der Polizei einkassiert. Physischer und psychischer Terror der Gemeinden gegen die Bewohner führten zu nervösen Erkrankungen, Fehlgeburten und Herzattacken.

Heute leben von den einst 15 000 Menschen noch ganze 2000 auf dem Manhattan-Areal, und sie werden dort wohl auch bleiben dürfen. Das Projekt für das Jahr 2000 nämlich hat die 70er Jahre nicht überlebt.

Von rund 80 anvisierten Hochhäusern des Komplexes, der nach Planer de Pauw »die Machtergreifung einer Zivilisation der Bestellung auf Knopfdruck« demonstrieren sollte, sind ganze drei Gebäude fertiggeworden.

Allein das Manhattan-Centre, eine 300-Millionen-Mark-Pleite, hat die durch Baukredite engagierte Gemeinde Saint-Josse praktisch ruiniert. Mit von der Pleite waren seit 1973 die britischen Immobilien-Anleger Metropolitan Estates and Property Corp. (MEPC), der Rothschild Investment Trust und der amerikanische Multi ITT, der sein Brüsseler Sheraton-Hotel schon längst geschlossen hätte, stundete nicht die Gemeinde Saint-Josse den Amerikanern die Schulden.

Zu besichtigen sind heute vor allem Tausende von Quadratmetern Gelände, deren Bauschutt noch davon zeugt, daß hier einmal Menschen gelebt haben: Symbol für eine Stadt, in der nach dem Urteil des Brüssel-Kritikers Heimo Claasen »der Spekulationsofen« ausgegangen ist.

* Transparent-Inschrift: Die Kämpfer von 14/18 und 40/45 fordern von uns: »Belgier, bleibt einig.«

Denn schweizerische, französische. deutsche und vor allem britische Immobilien-Gesellschaften, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre ganze Häuserzeilen, darunter fast alle Jugendstilbauten, niederreißen ließen, sitzen heute auf Quadratkilometern unvermietbarer Büroflächen und Geschäftsräume.

So bilden denn vor allem der jammervolle Kult um das Manneken Pis -- beliebtestes Wahrzeichen Brüsseis und erst vorletzte Woche zum zehnten Male gestohlen -, die Beleuchtungsspiele auf der Grand« Place und der jährliche Ommegang, ein Umzug in Erinnerung an die mittelalterliche Macht der Zünfte. nur noch eine dürftige folkloristische Fassade für das, was Brüssel einmal war: eine der schönsten, traditionsreichsten Städte des alten Europa, in der sich unter dem Schutz lothringischer und Brabanter Herzöge schon früh ein reiches Bürgertum entwickeln konnte. Die prächtig verzierten Gildehäuser der Grand« Place bekundeten Wohlstand und Selbstbewußtsein.

So angenehm ließ es sich im spätmittelalterlichen Brüssel leben, daß der Habsburger Karl V. in der Stadt am Flüßchen Senne besonders gern residierte, obschon doch in seinem Reich die Sonne nicht unterging.

Brüssel zog gleichermaßen Spanier, Österreicher und die Truppen Ludwigs XIV. an. Dessen Marschall Villeroi legte 1695 die Stadt in einem 36stündigen Bombardement in Schutt und Asche -- auch die Grand« Place.

Etwa hundert Jahre später erklärte der gelernte Artillerist Napoleon das Werk seines Landsmannes für »barbarisch und unnütz«, als er das erstemal mit Frau Josephine Brüssel besuchte. Aber da hatten die Brüsseler ihren schönen Platz schon wieder restauriert, malerischer Rahmen für den Dankgottesdienst, den die Alliierten fünf Tage nach Waterloo abhielten.

Fünfzehn Jahre nach den Böllerschüssen, die Jahre relativer Ruhe für Europa brachten, wurde in Brüssel wieder geschossen, nur ganz wenig, dann zogen die niederländischen Besatzer hinter die Scheide zurück. Die Belgier schrieben 1831 in ihre neue Verfassung, daß »Brüssel Hauptstadt Belgiens und Sitz der Regierung« sei und natürlich auch Residenz des Königs, den sich die Belgier mit Einverständnis Frankreichs. Englands und Preußens aus der deutschen Fürstenfamilie derer von Sachsen-Coburg holten.

Vielleicht fand der biedere Leopold 1. gar Gefallen an der Mentalität der Residenzstädtler, die schon Zeitgenossen als typisch belgisch erschien, in Wirklichkeit aber vor allem brüsslerisch war: Desinteresse für alles, was nicht mit Geld zu tun hatte.

Die Hauptstadt aber mißfiel dem neuen Herrscher. Unterhalb der Grand« Place drängten sich nahezu 100 000 Menschen in Häusern, die selbst nach den laxen Vorstellungen der Zeit beispiellos unhygienisch waren: Brutstätten für Cholera, Typhus und Ruhr.

Verständlich, daß sein Nachfolger, Leopold II., Brüssel Paris ähnlich machen wollte, das der Stadterneuerer des dritten Napoleon, Baron Haussmann, soeben großzügig gestaltet hatte.

Das Flüßchen Senne wurde unter die Erde verbannt, 1100 Häuser, viele aus dem 16. und 17. Jahrhundert, verschwanden, dazu die malerischen Mühlen, Brauereien und Gerbereien, die den Touristen damals schon als »Klein-Venedig«, Kritikern der Zeit aber als Fassade schlimmster Mißstände erschienen.

Das ehrgeizige Projekt, durch die britische Gesellschaft Belgian Public Works Company ausgeführt, geriet zum Menetekel für das Schicksal der Stadt im folgenden Jahrhundert: Die Politiker, Spekulanten und die Gesellschaft selber wurden in endlose Betrugs- und Bestechungsaffären verwickelt, über die das britische Unternehmen noch vor Abschluß der Arbeiten seinen Bankrott erklärte.

Dem König allerdings erschien die erste städtebauliche Katastrophe Brüssels als ein weiteres Beispiel dafür, was von seinen Untertanen zu halten sei: »Kleines Land, kleine Leute, kleiner Geist.«

Dieser König wollte für sich eine »große Stadt mit Luft und viel Platz«, eine Stadt, die, wenn schon nicht seiner Belgier würdig, dann aber ein Denkmal für Leopold II. werden sollte. Die Dynamik des Monarchen, der aus seiner kongolesischen Privatkolonie ein Riesenvermögen herauspreßte, leitete eine neue gewaltige Spekulationswelle in Brüssel ein.

Auf Drängen des Königs zogen Brüssel und die Nachbargemeinden große Avenuen durch die Slums, hinaus zum Schloß nach Lacken und nach Tervueren, wo der König ein Kongo-Museum errichtete. Die Herzgemeinde Brüssel verbanden Leopolds Urbanisten über eine neue Prachtstraße, die Avenue Louise, mit dem Bois de la Cambre, Brüssels Gegenstück zum Pariser Bois de Boulogne.

Das Panorama der Innenstadt wollte der König mit Monumenten für die drei Säulen eingrenzen. auf denen nach seinem Staatsverständnis das Königreich, seine aus den Bergwerken und Stahlschmieden Walloniens gespeiste »Fabrik Belgien«, ruhen sollte: Justiz, Kirche und Kunst.

So entstand der Justizpalast, ein vom König gefördertes Monstrum, das den Architekten Joseph Poelaert den Verstand kostete und die Brüsseler Stadtgemeinde an den Rand des finanziellen Ruins brachte.

Mitten in der hektischen Bautätigkeit an den babylonischen Monumenten königlichen Größenwahns tat sich in Brüssel eine architektonische Bewegung auf, die vielen wie ein befreiender Luftzug in dem offiziell geförderten Muff der neubarocken Architektur schien: der Jugendstil der Architekten Victor Horta und Henry van de Velde. Und Brüssels Neubürger, die an Kolonien und Industrien schwer verdienten, versorgten die Architekten-Avantgarde mit genügend Aufträgen. Allein zwischen 1893 und 1910 erbauten Horta und seine Freunde rund 1500 Häuser in den neuen Vierteln Saint-Gilles, Schaerbeek, Forest und Uccle.

Brüssel war damit Ausstellungsgelände einer ganzen Stilrichtung geworden, hatte einen neuen, eigenständigen Charakter gefunden. »Nach Paris die schönste Stadt, die ich kenne«, schrieb vor dem Ersten Weltkrieg der polnische »Quo vadis«-Autor Henryk Sienkiewicz.

Zwei Weltkriege überdauerte das Brüssel der Belle Epoque, bis der neue Größenwahn der fünfziger Jahre auch dieses Brüssel in Trümmer legte.

Ununterbrochen emigriert die angestammte Bevölkerung des Stadtkerns seither in die grünen Randgemeinden der Hauptstadt-Agglomeration; jährlich mindestens 9000 Menschen fliehen aus dem Brüssel der antiurbanen Bürosilos.

In die verlassenen Wohnungen rücken Tunesier, Algerier und Marokkaner nach, für sie wurde Brüssel der nördliche Sammelpunkt im französischen Sprachraum, eine Wohlfahrt-Oase, in der man für die Speisung aus der Gemeindekasse nicht einmal einen Arbeitsnachweis benötigt.

Jeder dritte Brüsseler trägt einen ausländischen Paß. Und kaum eine Stadt der Welt beherbergt so viele Diplomaten wie die Hauptstadt der EG. An die 2000 Wagen mit CD-Nummernschildern rollen durch die Brüsseler Gemeinden.

Die diplomatische Kolonie der Hauptstadt zählt rund 5000 Menschen. Aber bei der Europa-Kommission und beim Ministerrat der Neunergemeinschaft arbeiten noch einmal rund 8000 Beamte, die praktisch außerhalb der belgischen Steuergesetze stehen. 500 multinationale Gesellschaften und nach groben .Sehätzungen 2000 Interessenverbände, die als inoffizielle oder registrierte Lobbyisten die EG-Gesetzgebung zu beeinflussen suchen, überfremden die Hauptstadt.

So hätte denn Brüssel neben der neuen Silhouette auch eine neue Seele bekommen, als polyglotter Treffpunkt Europas und Amerikas, als Schmelztiegel europäischer Kultur, als ein europäisches New York?

Mitnichten, die »kosmopolitische Provinzstadt«, wie Belgiens Außenminister Henri Simonet Brüssel charakterisiert, bestätigt nur die pessimistischen Erwartungen auf ein engeres Zusammenrücken der europäischen Völker. wurde tätige Antithese gegen die »europäische Kirchentagsrhetorik« (so Bonns Hans Apel) der Europa-Apologeten.

Denn die Mehrheit gerade jener Ausländer, die ihr beträchtliches Einkommen für die Verwirklichung der europäischen Einigung beziehen, die Europa-Beamten, beweisen in Brüssel, wie wenig sie sich selbst eingliedern können.

Nach Dienstschluß bei den EG-Behörden zerfällt das Korps der Europa-Beamtenschaft in seine nationalen Bestandteile, eilt jedermann in sein nationales Getto. Deutsche wohnen in den Randgemeinden Overijse und Kraainem, die Franzosen in Uccle, die Engländer, natürlich, in Waterloo.

Sie alle unterhalten eigene nationale Schulen, und auch in den Klassen der Europäischen Schule, der Prestigeanstalt für Kinder der hohen EG-Beamten, findet sich gleich und gleich schnell zusammen gegen ähnliche Gruppen anderer Sprachen.

Besonders bei den Deutschen im Osten Brüssels wird den Kindern in einer Vielzahl der rund 9000 Haushalte vorgelebt, daß die Konservierung noch so antiquierter deutscher Gesellschaftsstrukturen Vorrang hat, selbst wenn man in europäischem Sold steht.

Die deutsche Brüsseler Gesellschaft gruppiert sich um den als international ausgewiesenen Nobel-Klub Château Sainte-Anne, wo eine Gruppe von Damen unter der Fürstin zu Putbus Hof hält und gesellschaftliche Ereignisse würdigt, die den Deutschen wichtig erscheinen.

Da gibt es etwa die Frühstücke der Kommissions-Protokollchefin Gräfin Hardenberg, die, wenn sie nicht gerade über den richtigen Gebrauch von Messer und Gabel der Kommissare wacht, Perlen ihrer Freundin Gräfin Arnim als den Frauen der deutschen Kolonie angemessenen Schmuck anpreist.

Gesichert ist auch, daß die deutschen Damen der innenarchitektonische Wagemut der Gräfin Schwerin doch sehr geschockt hat: einer Kombination dunkelroter Samttapeten und grüner Teppichböden.

Wie Deutsches dieser Art bei den Kollegen aus den EG-Partnerländern ankommt, wurde den Organisatorinnen beim letzten »deutschen Abend« im Club Samt Anne attestiert. Neun von zehn Gästen waren Deutsche, die Ausländer hatten lieber verzichtet.

Aber auch die Brüsseler Briten haben mit den »bloody Belgians« wenig im Sinn, meist bleiben sie unter sich. So wenig attraktiv erscheint ihnen das Leben in Brüssel, daß sie gar Pendler-Gesellschaften gegründet haben, die die freitägliche Flucht aus der Stadt zurück nach London billiger machen.

Daß auch die Franzosen die Hauptstadt der von ihnen belächelten Belgier nicht noch am Wochenende ertragen können, versteht sich von selbst. Am Freitagabend sind die beiden TEE-Züge nach Paris regelmäßig ausverkauft.

Der Exodus der Fremden am Wochenende erklärt sich mit der geographischen Mittellage der Stadt -- Paris drei Stunden, Amsterdam zwei, die deutsche Grenze in einer Stunde auf der Straße -- nur unzureichend. Vielmehr bieten die Brüsseler selber den Fremden das beste Alibi für deren Getto-Verhalten: durch die »herzliche Fremdenfeindlichkeit«, wie Außenminister Simonet die mit grimmiger Freundlichkeit garnierte Distanz der Brüsseler gegenüber ihren Euro-Besatzern beschreibt.

Ursache ist wahrscheinlich noch nicht einmal der »Mangel an intellektueller Neugierde«, den Simonet an der »Geschäfts- und Talar-snobistischen« Hauptstadtgesellschaft kritisiert. Ihr würde das Gros der Ausländer wahrscheinlich durchaus adäquat sein.

Und Ursache sind wohl auch nicht die vielen Widrigkeiten bei der Lebensbewältigung, bedingt durch den grandiosen Verwaltungswirrwarr der 19 Brüssel-Gemeinden, die sehr genau darauf achten, daß ihre Autonomie innerhalb der Großstadt spürbar bleibt. Eigene Bürokratien setzen unterschiedliche Steuern fest, verteilen Arbeitslosenunterstützung, unterhalten eigene Müllabfuhren und eigene Polizeistreitkräfte.

Vor allem die unterschiedlich ausgerüstete Polizei sorgt dafür, daß bei den Einwohnern der Gemeinden Brüssel, Etterbeek, Anderlecht oder Uccle kein Hauptstadtgefühl aufkommt, zumal der Ordnungshüter oft eher als Bedrohung denn als Schutz erscheint.

Wegen ihrer leeren Kassen rekrutieren die Gemeinde-Bürgermeister Leute für ihre Polizei nach niedrigsten Maßstäben. Wer lesen und schreiben kann und nicht unter 1,70 Meter mißt, erhält eine Uniform, die etwa in Molenbeek an die Ausstattung amerikanischer Rocker erinnert, in Woluwe mehr ins Sturmtruppen-Schwarz geht.

Mit der Uniform werden den Männern Pistolen und Revolver schwerster Kaliber ausgehändigt. Auf eine psychologische Eignungsprüfung wird verzichtet -- vielleicht aus Geldmangel, vielleicht auch aus Angst vor den Ergebnissen.

Uniformierte der Gemeinde Molenbeek, die die automatische Pistole FN 7,65 Millimeter tragen eine Waffe mit sensiblem Druckpunkt und nur beidhändig abzufeuern -, werden überhaupt nicht ausgebildet. Polizisten aus Uccle oder Ganshoren müssen immerhin einen viermonatigen Kurs in einer Polizeischule absolvieren. Das reicht dann für die gesamte Dienstzeit.

Ein Beamter der Brüsseler Gemeindepolizei erinnert sich, er habe erst zwei Jahre nach Beginn seines Dienstes gelernt, wie er seine Pistole laden müsse. Kein Wunder, daß die nervösen und unausgebildeten Beamten im entscheidenden Augenblick oft hilflos wirken: Über dreißig Polizisten sind in den letzten fünf Jahren umgekommen, einen bewaffneten Gangster haben sie allerdings noch nicht gestellt.

Gutmotorisierten Verbrechern müßte Brüssel wie ein Paradies erscheinen. Denn die Gemeindepolizisten dürfen die Grenzen ihrer wenige Quadratkilometer großen Gemeinden nicht überschreiten. Ein gemeinsamer Polizeifunk für die Agglomeration soll erst Ende dieses Jahres eingerichtet werden.

Ob die gemeinsame Funkfrequenz die Erfolgsstatistik der einzelnen Gemeindetruppen verbessern wird, ist der Mehrheit der Bürger in der Agglomeration aber ohnehin egal. Denn niemand hat sich in Brüssel verhaßter gemacht als die kommunale Polizei. Unfähigkeit, Unfreundlichkeit und sichtbare Trunkenheit im Dienst lassen das Eingreifen dieser Uniformierten für den hilfesuchenden Bürger oft zu einem russischen Roulette werden.

So endete das Erscheinen der Ortspolizei von Etterbeek für den Lastwagenfahrer Alain Ruckineer, 25, tödlich. Er hatte, nachdem sein Bruder von betrunkenen Polizisten niedergeschlagen worden war, amtliche Hilfe holen wollen. Obwohl er beide Hände über den Kopf hielt, erschoß ihn ein Polizist ohne Folgen für den Todesschützen. Entsetzt stellen die Hauptstadtzeitungen »eine Inflation von Überfällen« seit 1975 fest. Allein 1976 erleichterten schnell operierende Verbrecher bei 86 Überfällen im Brüsseler Raum Banken, Sparkassen und Postämter um rund sechs Millionen Mark.

Weit schwieriger als die eigenartige Brüsseler Gemeinde-Polizei ist für die Fremden in der Europa-Hauptstadt das »Drama der Dualität« (Simonet) zu verstehen: der vergebliche Versuch der Brüsseler, eine Synthese von Wallonischem und Flämischem zu verwirklichen. Dieser Identitätskonflikt, das schizophrene Nicht-wissen-wer-maneigentlich-Ist, läßt die Brüsseler fast instinktiv vor jedem engeren Kontakt mit Menschen aus einem homogenen Land zurückschrecken.

»Brüssel nimmt jeden auf, integriert aber niemanden«, klagt denn auch Simonet. Das Gefühl der Isolation iii einer großen Stadt beherrscht die Fremden, bei denen die Brüsseler wiederum erhebliche Geringschätzung ihnen gegenüber zu spuren meinen. So bleibt die Brüsseler Gesellschaft, jene, der es nach Ansicht des Führers der Flamenpartei »Volksunie«, Hugo Schiltz, an »nationaler Eigenwürde fehlt«, lieber unter sich, in einer Gesellschaft, die weithin noch den Tabus von früher gehorcht.

»Ich lebe in einer Stadt ohne Fluß«, klagt der zeitgenössische belgische Chansonnier Andre Bialek in einem Lied über die Einsamkeit in Brüssel.

Doch neuerliche Nostalgie für eine heile Welt um die zugebaute Senne schafft auch kein Air für ein modernes Europa-Brüssel.

Nur noch zynisch war das Bedauern des französischen Dichters Gérard de Nerval über den Verlust der Senne: »Die Stadt hat keinen Fluß, in dem man sie ertränken könnte.«

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