Zur Ausgabe
Artikel 60 / 77

POLEN Kluge Zwerge

Elektronische Taschenrechner aus dem Westen sind im Ostblock begehrte Handelsware.
aus DER SPIEGEL 23/1975

Ein Pole, der in den Westen fahren darf, bekommt von seinem Staat nur 130 Dollar oder 300 Deutsche Mark für Zloty umgetauscht. Davon kaufen sich erfahrene Touristen (sie leben von mitgebrachter Dauerwurst) einen elektronischen Kleinrechner oder zehn, für je 26,95 Mark, mit Batterie.

Am besten gehen Geräte zu 75 Mark: In der polnischen Heimat bringen die klugen Zwerge in der Hosentasche 20 000 Zloty (etwa 1700 Mark), das sind rund sieben durchschnittliche polnische Monatslöhne.

Käufer für Taschenrechner findet man in Polen überall. Ungünstiger als der Schwarze Markt, aber ungefährlicher sind staatliche Kommissionsläden. die 15 Prozent Provision verlangen, dazu 500 Zloty für den Kommissionsagenten und weitere 500 Zloty für einen »Experten«, der den Wert des importierten Geräts einschätzt.

Mitunter muß dem Zollbeamten noch ein Anteil überlassen werden. Mit 1000 Zloty ist der Fiskus an dem Reibach beteiligt. Der Aufwand von insgesamt bis zu 5000 Zloty läßt sich mit einer Zeitungs-Annonce sparen: Interessenten sind gern bereit, Zoll- und Liegegebühren selbst zu übernehmen. Sogar wissenschaftliche Institute beteiligen sich am Wettrennen nach den westlichen Taschencomputern, wenn die Ware nicht geschmuggelt, sondern ordnungsgemäß verzollt ist.

Polens Zoll achtet streng darauf, daß kein Reisender Freßpakete im Gewicht von mehr als zwei Kilo mit ins Ausland nimmt; Bücher, Zeitschriften und Landkarten werden beim Grenzwechsel ersatzlos beschlagnahmt, sobald das Gedruckte »den Interessen des Staates widerspricht«. Bei Minicomputern zeigen die Beamten sich jedoch großzügig, denn die Geräte sind in ganz Osteuropa heißbegehrte Mangelware.

Zu spät erkannten die Kommunisten, daß die Kybernetik, ein »kapitalistisches Werkzeug zur Ausbeutung der Arbeiterklasse« (Sowjet-Enzyklopädie 1955), auch der Ostwirtschaft aufhilft. Das Problem war: Was wird aus der Ideologie, wenn ein Computer zu anderen Denkergebnissen kommt als die Partei? Noch vor vier Jahren grenzte sich SED-Ideologe Kurt Hager von der »kritischen Übernahme« der Aussagen entwickelter Computersysteme ab. sonst werde nämlich »die marxistischleninistische Philosophie ihres Weltanschauungs-Charakters beraubt und gewissermaßen entideologisiert«. Als die UdSSR die Unersetzlichkeit der Computer für die Militär- und Weltraumtechnik erkannt hatte, wollte sie anfangs alles allein machen: Die anderen osteuropäischen Staaten sollten nur als Zulieferer auftreten. So wurde auch ein Prager Vorschlag. einen auf mysteriöse Weise in die Tschechoslowakei gelangten Spectra-Computer aus Amerika einfach nachzubauen, brüsk abgelehnt.

Erst fünf Jahre nach dem Bau der dritten Computer-Generation in den USA schaffte das auch die UdSSR -- doch der Sowjet-Typ rechnete zehnmal langsamer als seine US-Kollegen. Ein unabhängig von den Sowjets entwickelter DDR-Typ der Mittelklasse. der 1967 die Leipziger Frühjahrsmesse krönen sollte, ging rasch wieder zurück ins Radeberger Entwicklungsbüro: Er rechnete gar nicht.

Eine Wurstverkäuferin im westlichen Supermarkt kann heute schon ohne Mühe den Preis einer Ware mit Computerwaagen berechnen; in Rußland aber bedienen sich flinke Verkäuferinnen immer noch hölzerner Kugeln auf einem Rechenbrett zum selben Zweck, und selbst das Resultat gewöhnlicher Registrierkassen wird in der Wissenschaftlerstadt Akademgorodok per Hand noch einmal nachgerechnet.

Anfang der siebziger Jahre arbeiteten 75 000 Computeranlagen in den USA, 6000 (unterlegene) in der Sowjet-Union; mit rund 7500 Anlagen besaß die Bundesrepublik allein mehr Computer als der ganze Ostblock zusammen. Die Polen hatten nur 200 und boten im Austausch für westliche Computer lebende Schafe an.

Andrzej Targowski vom polnischen Nationalen Datenbüro warnte 1973 vor der »unerwartet schnellen Entwicklung im Westen«. Schon die Zahl der Ladenhüter und unverkäuflichen Warenhalden in den sozialistischen Ländern habe etwas mit der geringen Zahl der Ost-Computer zu tun. Targowski: »Wir schenken dem Einfluß, den 130 000 Computer auf die kapitalistische Wirtschaft ausüben. zu wenig Beachtung.«

Zwar gibt Polen heute jährlich zehn Milliarden Zloty für die Computertechnik aus; mit EDV wird in Posen eine mathematische Linguistik entwickelt und in Breslau die Reinhaltung von Flüssen geplant. Doch ein Computer errechnete, Polen brauche im Jahr 2000 mindestens 40 000 Computer. Er rechnete weiter: Voraussichtlich werden dann nur 10 000 vorhanden sein.

Während die UdSSR hochwertige amerikanische Technologie, darunter Control-Data-Computer für die Atomforschung, mit Hilfe von Ölgeldern einkaufen kann, bleibt den Polen nur, wenigstens bei Minirechnern gleichzuziehen: Die Einfuhrzölle für Minirechner, in der DDR verdoppelt, wurden um zwei Drittel herabgesetzt.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 60 / 77
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren