KNECHT DES RATES ODER HERR DER VERWALTUNG?
SPIEGEL: Herr Dr. Adenauer, 43 Jahre lang saß hier im Kölner Rathaus ein Dr. Adenauer. 27 Jahre lang war es Ihr Herr Vater, zunächst von 1906 bis 1917 als Beigeordneter, dann von 1917 bis 1933 als Oberbürgermeister. Seit 1948 sind Sie es, fünf Jahre lang als Beigeordneter, seit elf Jahren als Oberstadtdirektor. Nun wollen Sie diese Stadt- und Familientradition beenden und aus Ihrem Amt ausscheiden. Warum?
ADENAUER: Als ich vor etwa elf Jahren auf Vorschlag der CDU zum Oberstadtdirektor gewählt wurde, wurde ich vom Vertrauen fast des gesamten Rates getragen. Wenn ich mich recht erinnere, wurde ich bei fünf Enthaltungen, im übrigen einstimmig gewählt.
SPIEGEL: So etwa würde das Ergebnis im nächsten Jahr wieder gewesen sein, wenn Sie nicht auf die Wiederwahl verzichtet hätten. Ihre Partei, die CDU, hätte Sie sowieso wiedergewählt, und der Kölner Oberbürgermeister Theo Burauen von der SPD hat während des Wahlkampfes im Gürzenich erklärt, auch seine Partei werde für Sie stimmen.
ADENAUER: Sicher, ich konnte davon ausgehen, daß ich einmütig, sogar einstimmig wiedergewählt werden würde. Aber die Kommunalwahl im September dieses Jahres hat ja in Köln eine völlige Verschiebung innerhalb des Rates gebracht. Die FDP ist ausgeschieden, die CDU hat noch 27, die SPD hat jetzt 40 Sitze.
SPIEGEL: Bis dahin hatte die SPD im Kölner Stadtparlament auch schon die relative, nun hat sie die absolute Mehrheit. Aber ist das der einzige Grund für Ihre Entscheidung? Vielleicht liegt es auch an der Gemeindeordnung in Nordrhein-Westfalen, die ja ...
ADENAUER: ... sicher wesentliche Mängel hat. Ähnlich wie in Niedersachsen gibt es die Zweiteilung zwischen dem Bürgermeister als dem Vorsitzenden des Rates einerseits und dem Gemeinde- oder Stadtdirektor als dem Chef der Verwaltung andererseits. Und hier auf meine jetzige Situation in Köln bezogen möchte ich sagen: Die Rechte des Oberstadtdirektors sind in der Gemeindeordnung so eng begrenzt, daß ich als Mitglied der CDU ernste Schwierigkeiten bei einer absoluten Mehrheit der SPD im Rat befürchten muß.
SPIEGEL: Aber sind das »wichtige Gründe« im Sinne von Paragraph 49 Absatz 2 der Gemeindeordnung?
ADENAUER: Sie meinen ...
SPIEGEL: Müssen Sie nicht um Ihre Pension fürchten? In diesem Paragraphen heißt es. »Hauptamtliche Gemeindedirektoren und Beigeordnete sind verpflichtet, eine erste Wiederwahl anzunehmen.« Und: »Lehnt ein hauptamtlicher Gemeindedirektor oder Beigeordneter die Weiterführung des Amtes nach Ablauf der ersten Amtszeit ohne wichtigen Grund ab, so verliert er den Anspruch auf sein Ruhegehalt.«
ADENAUER: Ich hätte diesen Punkt von mir aus nicht angeschnitten, aber
wir können ja darüber sprechen. Ich habe nicht »abgelehnt«, sondern ich habe gebeten, man möge von einer Wiederwahl absehen. Sie verstehen den Unterschied?
SPIEGEL: Sie wollen darauf hinaus, daß Sie das Amt erst ablehnen könnten, wenn der Rat Sie wiedergewählt hat?
ADENAUER: Ja. Dann erst würde die Gretchen-Frage an mich gestellt, würde 49,2 zum Zuge kommen.
SPIEGEL: Mit Ihrer Empfehlung, Sie nicht wiederzuwählen, haben Sie die Sache entschieden. Die SPD wählt Sie, den CDU-Mann, doch gewiß nicht gegen Ihren eigenen Willen.
ADENAUER: Sicher, so ist es. Aber das ist eine rein politische, keine juristische Frage. Es ist doch Sache der SPD, ob sie meinem Rat folgt oder nicht.
SPIEGEL: Ihr einsamer Entschluß ...
ADENAUER: Es klingt sehr schön, von einsamen Entschlüssen zu sprechen.
SPIEGEL: Wir meinen es in dem Sinne, daß Sie als einzelner gegen alle Parteien entschieden haben. Die »Zeit« schrieb, als sie über Ihre Entscheidung berichtete: »Die einsamen Entschlüsse mögen von Adenauer-Art sein.«
ADENAUER. Sicher faßt mein Vater auch einsame Entschlüsse, heute faßt fast jeder einsame Entschlüsse, wenn Sie so vollen. Das liegt in der Natur eines Entschlusses.
SPIEGEL: Einige Zeitungen philosophierten darüber, ob Sie vielleicht nicht einmal Ihren Herrn Vater um Rat gefragt haben.
ADENAUER: Ich kann Ihnen ruhig sagen, daß mein Vater davon vorher gewußt hat. Ich habe ihn gefragt: Was hältst du davon? Ich sehe die Situation so, wie siehst du sie? Und er hat gesagt: Natürlich ist deine Auffassung die einzig richtige.
SPIEGEL: Aber die Kölner CDU ist wohl anderer Meinung als der CDUBundesvorsitzende? Sie verliert doch eine ,Bastion« im Rathaus.
ADENAUER: Natürlich bin ich von Freunden in der Kölner CDU gebeten worden, mir meinen Schritt zu überlegen und im Amt zu bleiben.
SPIEGEL: Ihre Parteifreunde waren zum großen Teil gegen Ihren Verzicht. Und was sagte die SPD?
ADENAUER: Ich habe dem SPD -Fraktionsvorsitzenden van Nes Ziegler erklärt, daß ich nun wohl in einem solchen Maße von anderen Mitarbeitern umgeben würde, daß ich in meiner Arbeit an Händen und Füßen gefesselt würde. Daraufhin hat er mir bestätigt: »Wir werden Sie einmauern.«
SPIEGEL: Ein böses Wort?
ADENAUER: Es war für mich eine Bestätigung dafür, daß ich mich richtig entschieden habe. Es ist bekannt, daß die SPD nach der Wahl erhebliche Ansprüche geltend machte und eine Reihe wichtiger Ämter mit ihren Leuten besetzen will. Das meinte van Nes Ziegler auch mit seinem Wort.
SPIEGEL: Stadtdirektor, Stadtkämmerer und Dezernent für Personal und
allgemeine Verwaltung sollen SPDLeute werden. Bislang waren es mit Ausnahme des Stadtdirektors CDUMitglieder oder Parteilose, die Ihrer Partei nahestehen.
ADENAUER: Und man hat darüber hinaus auch erklärt, daß es etwas kosten werde, wenn ich Oberstadtdirektor bliebe. Was damit gemeint war, weiß ich nicht genau, aber ich könnte mir vorstellen, daß nach meiner Wiederwahl dann auch der Schuldezernent ein Mann der SPD geworden wäre.
SPIEGEL: Dieser große Schub ist der Gegenzug für das, was die CDU vor zwölf Jahren getan hat. Damals hatte sie noch die Mehrheit und brachte ihre Leute ins Rathaus.
ADENAUER: Es ist einfach ein Faktum, daß heute die Parteien auch in Kommunalparlamenten danach trachten, die Schlüsselpositionen in der Kommunalverwaltung mit ihren Leuten zu besetzen. Das gilt für die SPD wie für die CDU wie für die FDP.
SPIEGEL: Angenommen, die SPD hätte diese »Mauer« gebaut. Kann man denn in der Kommune nicht mit vernünftigen SPD-Leuten zusammenarbeiten? Das haben Sie doch elf Jahre lang gekonnt.
ADENAUER: Bitte stellen Sie sich die Arbeit praktisch vor. Der Dezernent für die allgemeine Verwaltung ist in Zukunft ein Mann, der nicht von mir vorgeschlagen ist oder, sagen wir, der nicht im Einvernehmen mit mir auf seine Position gesetzt wird. Und der Kämmerer ist auch ein Mann, der nicht aus meiner Richtung kommt. Wenn ich nun Entscheidungen zu treffen habe, selbst nur im Rahmen der Verwaltung, dann können es doch diese neuen Mitarbeiter, die mich umgeben, durch Hinweise in ihrer SPD-Fraktion sofort erreichen, daß jede Entscheidung, die ich treffe, von dort her im Wege eines Antrages und eines nachfolgenden Beschlusses durch einen Ausschuß oder vom Rat korrigiert wird. Es wären also faktisch diese Herren gewesen, die ich als Mitarbeiter bekommen hätte, die mit dieser großen Mehrheit ihrer Partei im Hintergrund die Entscheidungen getroffen hätten.
SPIEGEL: Ihre Befürchtungen könnte man verstehen, wenn es schon in der Vergangenheit solche Arbeit im »Hintergrund« gegeben hätte. Aber bis vor wenigen Wochen galt Köln als das gute Beispiel einer Stadt, in der SPDOberbürgermeister und SPD-Mehrheit im Parlament mit einem CDU-Oberstadtdirektor gut auskommen.
ADENAUER: Zunächst möchte ich betonen, daß die Zusammenarbeit zwischen Herrn Oberbürgermeister Burauen und mir absolut einwandfrei ist. Aber auch Herr Burauen ist nur ein Mitglied seiner Fraktion unter vielen. Sie müssen immer davon ausgehen, daß wir a) eine SPD-Fraktion haben, die mit Abstand die absolute Mehrheit im Rat hat und daß wir b) eine Gemeindeordnung haben, die dem Rat die sogenannte Allzuständigkeit gibt. Hätten wir eine Gemeindeordnung wie die frühere, die dem Verwaltungschef einen
gewissen Bereich gab, in dem er zuständig blieb, so wäre die Situation völlig anders.
SPIEGEL: Wirklich?
ADENAUER: Jetzt besteht die Gefahr, daß sich in der Verwaltung sehr schnell herumspricht, daß ich nichts mehr zu sagen habe und daß man sich vielleicht zweckmäßigerweise gleich mit dem Stadtdirektor, der der SPD angehören würde, mit meinem Vertreter also, in Verbindung setzt.
SPIEGEL: Welche Rechte müßten Sie haben?
ADENAUER: Wenn ich die Verantwortung tragen muß, muß ich mir auch die besten Leute aussuchen dürfen. Dann kann man von mir nicht erwarten, daß ich die Verantwortung trage, wenn ich mir die Leute nicht aussuchen kann.
SPIEGEL: Für einen
Oberstadtdirektor, der diese Rechte haben will, ist in der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung kein Platz - auch nicht, wenn die Mehrheit seiner eigenen Partei regiert.
ADENAUER: Ich will ja die Leute nicht einfach einsetzen. Ich will nur auf die Entscheidung, die der Rat trifft, insofern Einfluß nehmen, daß ich mich darüber äußern darf und daß meine Meinung beachtet wird.
SPIEGEL: So soll es sein, aber Sie können es nicht unter Berufung auf die Gemeindeordnung fordern, Wenn der Rat, das Stadtparlament, seine Kompetenz bis zum letzten Buchstaben der Gemeindeordnung ausnutzt, dann bleibt dem Stadtdirektor nicht viel mehr als ein Nichts.
ADENAUER: Dann kann man ihn zwingen, zum Beispiel einen Baum zu fällen oder ihn nicht zu fällen.
SPIEGEL: Aber so unvernünftig wird doch kein Parlament einer deutschen Großstadt sein.
ADENAUER: Es besteht aber immer die Gefahr, daß eine Fraktion, wenn sie die absolute Mehrheit gewonnen hat, eben diese Macht voll ausnutzt.
SPIEGEL: Offenbar halten Sie es nicht nur in Köln, sondern überhaupt für ausgeschlossen, daß der Verwaltungschef einer Großstadt einer anderen Partei angehört als die absolute Mehrheit des Stadtparlaments?
ADENAUER: Das hängt von der jeweiligen Gemeindeordnung ab. Für Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen halte ich es eigentlich, von Einzelfällen abgesehen, nicht für möglich. Das wäre nur denkbar, wenn sich jemand als Stadt- oder Gemeindedirektor lediglich als Beauftragter fühlt. Dann kann er mit jedem arbeiten. Aber können wir unsere Stellung so auffassen? Jeder hat eine Meinung, Sie haben eine, ich habe eine. Kann man tatsächlich auf die Dauer gesehen nur Beauftragter sein und vielleicht Dinge ausführen, mit denen man nicht einverstanden ist?
SPIEGEL: Kann es wirklich auf kommunaler Ebene zu solchen Konflikten kommen? Meinen Sie nicht auch, daß man hier 90 bis 95 Prozent der Probleme unabhängig vom Parteibuch allein nach objektiven Gesichtspunkten entscheiden könnte und müßte?
ADENAUER: Aber selbst dann bliebe noch ein Rest von fünf oder zehn Prozent, nicht wahr?
SPIEGEL: Dazu gehört, wie wir gesehen haben, die Personalpolitik. Das kann man bedauern, ändern kann man es offenbar nicht. Was gehört noch dazu?
ADENAUER: Ich möchte nicht von Köln im speziellen sprechen ...
SPIEGEL: Schade.
ADENAUER: ... weil ich wegen der nur relativen Mehrheit einer Partei, wie wir es bislang hatten, Beispiele dieser Art für uns kaum anführen kann. Ich möchte es ganz allgemein sagen. In vielen Städten ist zum Beispiel die Frage von Bedeutung, ob soziale Maßnahmen nach dem Prinzip der Subsidiarität durchgeführt werden sollen oder ob alles in die kommunale Hand übernommen werden soll.
SPIEGEL: Wir sehen es etwas anders. Das Subsidiaritäts-Prinzip besagt, daß die größere Gemeinschaft, also das Land, der Bund zum Beispiel, nicht Aufgaben übernehmen soll, die die kleinere Gemeinschaft, etwa die Stadt, erledigen kann. Auch städtische Kindergärten, Alters- und Jugendheime sind also eine Verwirklichung dieses Prinzips.
ADENAUER: Schon, aber in der Praxis ...
SPIEGEL: . . . geht es darum, ob Kindergärten und Jugendheime von den Städten oder aber von der Caritas, der Inneren Mission und der Arbeiterwohlfahrt eingerichtet werden sollen.
ADENAUER: Das ist eine wichtige Frage, und da gehen die Meinungen zwischen CDU und SPD doch weit auseinander. Und ich bin der Meinung, man sollte privaten Organisationen wie denen, die Sie nannten, die Aufgaben soweit wie möglich übertragen.
SPIEGEL: Das ist nicht nur Ihre Ansicht, das ist geltendes Recht. Der Bundestag - genauer: die damals noch absolute Mehrheit der CDU/CSU gegen die Stimmen der SPD und der FDP hat das Jugendwohlfahrts- und das Sozialhilfe-Gesetz beschlossen. Es sind Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht anhängig, aber es sind Gesetze, ob man sie für gut oder schlecht hält, Ist nebensächlich. Auch die absolute SPDMehrheit im Kölner Stadtparlament muß sie einhalten. Wie können sich da noch Gegensätze entwickeln?
ADENAUER. Rein praktisch läßt sich das über den Haushaltsplan steuern. Wenn beschlossen wird, die soundsoviel Millionen, die für Kindergärten, Altersheime und so weiter zur Verfügung stehen, werden in städtische Einrichtungen investiert, dann ist dagegen kaum etwas zu machen. Dann bleibt eben nichts übrig für die privaten Organisationen.
SPIEGEL: Nehmen wir an, die Stadt und die Caritas vollen je zehn Kindergärten bauen ...
ADENAUER: ... und der Rat beschließt, es werden nur zehn städtische Kindergärten gebaut, dann muß dieser Beschluß durchgeführt werden, ob es dem Gemeinde- oder Stadtdirektor gefällt oder nicht.
SPIEGEL: Nein, dann muß der Gemeinde- oder Stadtdirektor, gleichgültig, welcher Partei er angehort, widersprechen: Paragraph 39 Absatz 2 der Gemeindeordnung: Verletzt ein Beschluß des Rates das geltende Recht, so hat der Gemeindedirektor den Beschluß zu beanstanden.«
ADENAUER: Wie wird das praktisch verlaufen? Die Sache geht an den Regierungspräsidenten, er bestätigt den Beschluß des Rates oder er hebt ihn auf, und der Vorgang geht dann meistens in das Verwaltungs-Streitverfahren. Das wäre ja gerade der Zustand, bei dem man nicht arbeiten könnte: Prozesse, Prozesse.
SPIEGEL: In Köln hat es doch aber in dieser Frage auch, in der Vergangenheit keine Gegensätze und erst recht keine Prozesse gegeben. Warum soll das in Zukunft anders sein?
ADENAUER: Bislang hatte die SPD nicht die absolute Mehrheit, jetzt haben wir eine andere Situation. Ich habe aufgrund der gegenwärtigen Verhältnisse im Augenblick keinen Anlaß, zu vermuten, daß sie es anders handhaben will als in der Vergangenheit. Aber sollte ich bei meiner Entscheidung nicht doch davon ausgehen, daß es immerhin denkbar wäre, daß eine andere Entwicklung eintritt?
SPIEGEL: Herr Dr. Adenauer, nun sind Sie ja nicht nur mit der Zusammensetzung Ihres Stadtparlaments unzufrieden, sondern auch mit den Rechten und Pflichten, die Sie als Oberstadtdirektor laut Gemeindeordnung haben.
ADENAUER: So ist es. Da besteht ein enger Zusammenhang.
SPIEGEL: Das Amt des Gemeinde- oder Stadtdirektors ist schon so lange umstritten, wie es in Deutschland besteht.
ADENAUER: Es hat in Deutschland keine Tradition, wenn man davon absieht, daß es im Mittelalter die sogenannten Ersten Stadtschreiber gab, die nur auszuführen hatten, was die Räte beschlossen.
SPIEGEL: Als was fühlen Sie sich nun in Ihrem Amt? Wir haben Ihnen zwei Definitionen anzubieten: als »Herr in der Verwaltung«, das sollen Sie laut Instruktion Nr. 100 der britischen Militärregierung vom 29. Juli 1946 sein, die ja die Schaffung dieses Amtes befahl, oder als »Knecht des Rates«, wie Ihr Düsseldorfer Kollege Hensel die Funktion des Stadtdirektors definierte.
ADENAUER: Ich fühle mich auf der einen Seite als Herr der Verwaltung und auf der anderen Seite als Beauftragter des Rates.
SPIEGEL: Nicht als Knecht?
ADENAUER: Aus der Zeit der Knechtschaft sind wir heraus. Aber das hat der Herr Hensel wohl auch mehr ironisch gemeint.
SPIEGEL: Professor Werner Weber, der Göttinger Staatsrechtler, hat über das Amt des Gemeinde- und Stadtdirektors geschrieben: »Die Gemeindeordnungen von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen legen ... alles darauf an, den Verwaltungsleiter zu deklassieren und sich die Gewinnung und Erhaltung der Besten zu verscherzen.« Und: »Keine ihres Ranges und Wertes bewußte Persönlichkeit kann sich auf die Dauer in einer solchen zwiespältigen Lage entfalten.« Ist Ihr Ausscheiden ein Beweis für diese These?
ADENAUER: So zugespitzt würde ich es nicht formulieren. Das kann man in den recht zahlreichen Fällen sagen, in denen es zu Gegensätzen gekommen ist und der Gemeindedirektor in völlige Abhängigkeit geraten ist.
SPIEGEL: Aber grundsätzlich wären Sie für eine andere Gemeindeordnung, also vor allem für die Beseitigung des Gespanns Bürgermeister-Stadtdirektor und für einen Bürgermeister, der zugleich Verwaltungs-Chef ist?
ADENAUER: Ja. Die heutige Zweiteilung ist die Ursache vieler Schwierigkeiten.
SPIEGEL: Ein Oberstadtdirektor hat es mal so formuliert: Der Oberbürgermeister trägt die Würde, der Oberstadtdirektor die Bürde.
ADENAUER: Das ist eine falsche Formulierung. Man muß wirklich sagen, daß die Oberbürgermeister unserer Städte, und das gilt speziell für Köln, sich für die Stadt ganz besonders stark aufreiben. Beide haben eine Bürde zu tragen.
SPIEGEL: Aber nur einer trägt die Würde?
ADENAUER: Das ist schon eher richtig. Ich will Ihnen mal sagen, worin ich das Mißliche in der
Gemeindeordnung sehe.
SPIEGEL: Bitte. ADENAUER: Erstens ist es die ständige Verwechslung der Aufgaben und
der Zuständigkeiten in der Öffentlichkeit. Dinge, die rein verwaltungsmäßig schnell zu erledigen wären, werden oft an den Bürgermeister herangebracht, obgleich er nicht zuständig ist. Das kann oft zu einer wochenlangen Verzögerung führen. Es führt zu unnötiger Doppelarbeit, wenn der angeschriebene Bürgermeister von einer dem Stadtdirektor nachgeordneten Verwaltungsstelle erfahren will, wie es mit dieser -
oft nebensächlichen - Angelegenheit steht. Er läßt sich entgegen der Gemeindeordnung unmittelbar von dieser Verwaltungsstelle berichten, und der Stadtdirektor erfährt oft gar nichts davon.
SPIEGEL: Aber in Köln wird doch jeder wissen, daß im Rathaus ein Mann mit einem der traditionsreichsten Namen der Stadt - Adenauer - sitzt.
ADENAUER: Auch hier kommt so etwas vor.
SPIEGEL: Wenn nun ...
ADENAUER: Der Oberbürgermeister tritt bei jedem Anlaß auf, und deshalb hält die Bevölkerung ihn eben für den maßgeblichen Mann, dem auch die Verwaltung untersteht. SPIEGEL: In Köln ...
ADENAUER: Wir können den Wert einer Gemeindeordnung nicht danach beurteilen, ob sie gerade hier in Köln funktioniert. Fragen Sie mal meine Kollegen in anderen Städten. Ich spreche
für die Kollegen mit. Ich spreche über die Gemeindeordnung insgesamt.
SPIEGEL: Jawohl.
ADENAUER: Als weiteren Nachteil empfinde ich, daß das Ansehen weder des Oberbürgermeisters noch des Oberstadtdirektors in *Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen dem Ansehen gleicht, das der Oberbürgermeister in Frankfurt oder Stuttgart oder München genießt.
SPIEGEL: Sie müssen sich hier in das Ansehen teilen.
ADENAUER: Wir teilen uns hier. Der Oberbürgermeister von München sagt, ich bin der Verwaltungschef und der Vorsitzende im Rat und der Repräsentant. Und er fragt, was ist denn schon der Oberbürgermeister in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, der ist nur Repräsentant und Ratsvorsitzender. Und was ist schon der Oberstadtdirektor, der darf ja noch nicht einmal reden, wenn ein Museum oder eine Ausstellung eröffnet oder ein Richtfest gefeiert wird. Das ist ein entscheidender Nachteil für Nordrhein-Westfalen und für Niedersachsen.
SPIEGEL: Der Oberstadtdirektor von Lüneburg, Bockelmann, ist ja wohl wegen solcher und anderer Nachteile den Niedersachsen untreu und erst in Ludwigshafen, dann in Frankfurt Oberbürgermeister geworden.
ADENAUER: Das ist der dritte Gesichtspunkt: Es ist zum Beispiel für den Oberbürgermeister von Nürnberg nicht interessant, nach Düsseldorf oder Köln zu gehen, aber umgekehrt ist es anders. Ist es wirklich richtig, daß man als Oberstadtdirektor überhaupt nicht in einem gewissen Umfange repräsentieren darf? Wenn Sie in irgendeinem Bereich tätig sind und eine Arbeit zu Ende fuhren, dann wollen Sie doch auch mit der Arbeit an die Öffentlichkeit treten und nicht ins letzte Glied zurücktreten.
SPIEGEL: Das könnte man ungerecht nennen - von der Arbeit her gesehen.
ADENAUER: Eben, das meine ich. Es läßt sich doch nicht leugnen, daß jeder ein wenig Ehrgeiz und etwas Geltungsbedürfnis hat, um dann auch nach außen zu sagen: Bitte schön, das ist nach meinen Vorstellungen entstanden. Das ist ein Recht, das ich selbstverständlich auch jedem Kollegen einräumen würde.
SPIEGEL: Denken die Bürgermeister darüber anders?
ADENAUER: Unsere Bürgermeister neigen ein wenig dazu, gewissermaßen das Wesen unserer Gemeindeordnung nach außen hin nicht recht in Erscheinung treten zu lassen und so zu tun, als seien sie auch die Chefs der Verwaltung.
SPIEGEL: Eine Art »Amtsanmaßung«?
ADENAUER: Nein, Anmaßung nicht, es ist menschliche Schwäche. Aber ein System, das menschliche Schwächen fördert, ist nicht ganz in Ordnung
SPIEGEL: Das sind Ihre wichtigsten Argumente?
ADENAUER: Das sind eigentlich die Argumente, die ich anzuführen hätte. Aber natürlich könnten Sie sagen, daß es von den Menschen abhängt, ob sich ein System bewährt. Dann kann es trotzdem funktionieren. Aber leider funktioniert es eben in vielen Gemeinden nicht, und das führt dann oft dazu, daß manche gute Arbeit gehemmt wird.
SPIEGEL: Würde man die Gemeinde- und Stadtdirektoren fragen, so würden sie wohl einstimmig für eine Abschaffung der Zweigleisigkeit plädieren.
ADENAUER: Davon bin ich auch überzeugt. Das kann man ruhig so sagen.
SPIEGEL: Und wenn das Volk befragt würde?
ADENAUER: Das würde sich, wohl zumindest im Rheinland, für eine Änderung in dem Sinne, daß ein Mann an der Spitze steht, entscheiden.
SPIEGEL: Und trotzdem gibt es keine Diskussion in den Parlamenten.
ADENAUER: Nein, die kann es auch nicht geben, und, meine Herren, ich kann Ihnen auch sagen, warum es die nicht geben kann. SPIEGEL: Ja?
ADENAUER: Weil eben die Landräte und Bürgermeister vielfach im Landtag sitzen und eine Änderung verhindern.
SPIEGEL: Die »Fraktion der Landräte und Oberbürgermeister«, wie Professor Weber es nennt. Im nordrhein-westfälischen Landtag ist es ein Viertel der Abgeordneten. Aber was schwebt Ihnen als Ideal vor? Die Rückkehr zu einer Ordnung wie in der Zeit, in der Ihr Herr Vater Oberbürgermeister war?
ADENAUER: Ich bin der Auffassung, daß es gut war, daß auch die Gemeinden stärker demokratisiert worden sind, daß beispielsweise die Räte - auch gegenüber den Bürgermeistern - mehr an Zuständigkeiten erhalten haben, als es früher der Fall war.
SPIEGEL: Das wird der frühere Oberbürgermeister von Köln ...
ADENAUER: Mein Vater würde das sicherlich anders sehen. Andererseits bin ich davon überzeugt, daß mein Vater bei der heutigen Gemeindeordnung sicherlich nie Oberstadtdirektor oder Oberbürgermeister geworden wäre ...
SPIEGEL: ... oder zumindest wohl nicht lange geblieben wäre. Der Rat soll auch, wie es jetzt in allen Gemeindeordnungen steht, den Verwaltungschef - der dann zugleich Bürgermeister wäre - mit Zweidrittel-Mehrheit jederzeit abberufen können?
ADENAUER: Ja, es kann immer Gründe geben, die eine Zusammenarbeit zwischen Rat und Bürgermeister unmöglich machen - zum Nachteil der Gemeinde.
SPIEGEL: Und soll der Bürgermeister, wie das Parlament, auf vier oder fünf Jahre oder aber für einen längeren Zeitraum gewählt werden?
ADENAUER: Man sollte bedenken, daß vor Neuwahlen doch die Arbeit lange Zeit im voraus lahmgelegt ist. Deshalb sollte der Bürgermeister, wie ich meine, auf zwölf Jahre gewählt werden, wie es früher in der rheinischen Städteordnung war.
SPIEGEL: Und wer soll ihn wählen, alle Einwohner oder das Stadtparlament?
ADENAUER: Das ist keine Frage, bei der man sich unbedingt für das eine oder andere entscheiden müßte. Ich finde, die Volkswahl hätte sehr viel für sich. Sie würde auch dazu beitragen, daß der Bürgermeister sich unmittelbar der öffentlichen Meinung stellen muß.
SPIEGEL: Und der Bürgermeister soll Sitz und Stimme im Parlament haben?
ADENAUER: Ja, denn das ermöglicht ihm, mit Stimmrecht an der Arbeit der Ausschüsse und der Fraktion teilzunehmen.
SPIEGEL: Ein Problem würde aber durch eine solche Reform nicht gelöst. Auch dann noch könnte genau das geschehen, was Sie jetzt Ihres Amtes überdrüssig macht. Nach vier oder nach acht Jahren sieht sich ein auf zwölf Jahre gewählter Bürgermeister der Mehrheit einer anderen Partei im Stadtparlament gegenüber.
ADENAUER: Natürlich müßte der Oberbürgermeister in eigener Zuständigkeit einen gewissen Aufgabenbereich laben. Über die Geschäfte der laufenden Verwaltung hätte der Oberbürgermeister zu entscheiden. Und vor allem wäre er aber auch Politiker. Er könnte ja draußen in der Bürgerschaft Versammlungen abhalten und zu einem Mehrheits-Beschluß des Rates Stellung nehmen. Das kann nach meinem Dafürhalten der »unpolitische« Oberstadtdirektor nicht, weil er praktisch ja eben ein Beauftragter ist.
SPIEGEL: Er kann es nicht, aber könnte es der Bürgermeister? Selbst wenn er an die Bürger gegen den Rat appelliert ...
ADENAUER: Damit wir dieselbe Sprache sprechen: Nicht appelliert in dem Sinne, daß er irgendwie eine Art Volksentscheid herbeiführt.
SPIEGEL: Nein, aber eine Art Gegenstimmung schafft. Hülfe ihm das?
ADENAUER:, Nein, es kann nichts verhindert werden, vas einmal beschlossen ist, aber immerhin kann die Bürgerschaft sehen, welche Auffassung ihr Oberbürgermeister hat.
SPIEGEL: Günstigstenfalls würde es sich so auswirken, daß bei der nächsten Wahl die Mehrheit wechselt.
ADENAUER: Das ware eine Möglichkeit. Es wurde aber vor allem dazu beitragen, daß die Bürgerschaft stärker Anteil nimmt am kommunalen Leben. Und außerdem würden stärkere Persönlichkeiten ausgeprägt.
SPIEGEL: Wenn nun die Gemeindeordnung revidiert würde - viele vernünftige Menschen wünschen es -, wäre dann das Amt des Oberbürgermeisters von Köln für Sie ein erstrebenswertes Ziel?
ADENAUER: Ich möchte sagen, daß das Amt des Oberbürgermeisters einer großen Stadt immer reizvoll ist und natürlich vor allem, wenn es die Funktionen hätte, die wir eben skizziert haben. Die Arbeit auf kommunaler Ebene ist so reizvoll, daß ich mir kaum eine interessantere Arbeit vorstellen könnte. Sie ist vielseitiger als irgendeine Arbeit in der Regierung, sei es in den Ländern oder auf Bundesebene, weil Sie hier mit allen Gebieten, mit allen Wünschen und Nöten der Bevölkerung in Berührung kommen. Sie stehen hier unmittelbar an der Front.
SPIEGEL: Es ist also denkbar, daß Sie an die Front zurückkehren, daß die Ära Adenauer im Kölner Rathaus nur unterbrochen, nicht beendet ist?
ADENAUER: Das hängt natürlich von sehr vielen Faktoren ab, aber denkbar, ist es durchaus.
SPIEGEL: Herr Dr. Adenauer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Adenauer (M.) beim SPIEGEL-Gespräch im Kölner Rathaus*
»Bleibt nicht bei unserer Stange . . .«
»Mein vielfältig Vaterland ...!«
Zweisamer Entschluß
Vater, Sohn Adenauer
Rote Mauer im Rathaus
Vater und Sohn
Nur ein Platz an der Sonne
Kölner Oberbürgermeister Adenauer (r.) 1926; Rückkehr zur alten Ordnung?
Mit Charles de Gaulle
Mit John F. Kennedy
Mit Ludwig Erhard
Mit Joseph Kardinal Frings
Mit Andrej Smirnow
Oberstadtdirektor Adenauer, Prominente
»Jeder hat ein wenig Geltungsbedürfnis«
* Mit SPIEGEL-Redakteuren Werner Harenberg (l.) und Heinz Verfürth.
* Mit Reichspräsident von Hindenburg und dem Kölner Erzbischof Kardinal Schulte.