BERLIN / POLIZEI Knüppel frei
Der Sanitätswagen stoppte. Krankenträger hasteten mit einer Bahre in die Rettungsstation des Städtischen Krankenhauses Moabit. Der Patient blutete aus Mund, Nase, Ohren und aus einer Wunde am rechten Hinterkopf.
Vergebens versuchte der Aufnahmearzt, die Wundblutung zu stillen. Vergebens bemühten sich wenige Minuten später die Chirurgen, den Verletzten zu retten. Während sie aus der Schädeldecke ein Knochenstück in der Größe von sechs mal sieben Zentimetern entfernten, setzte der bereits schwache und unregelmäßige Herzschlag aus.
So starb am Freitag, dem 2. Juni, kurz nach 21 Uhr, Benno Ohnesorg, 26, Student der Germanistik und Romanistik an der Freien Universität Berlin (FU). Schädelbruch - lautete die erste Todes-Version, die in der Nacht zum Sonnabend vorletzter Woche verbreitet wurde. Tod durch Schußverletzung - das war die wahre Ursache, wie die Obduktion später ergab.
Ohnesorg, verheiratet, aktives Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde, »kein Fanatiker« nach dem Urteil des evangelischen Bischofs von Berlin-Brandenburg, Kurt Scharf, und schon gar kein Rädelsführer aufsässiger Studenten von Berlin, starb mit einer Kugel im Kopf: Opfer einer in West-Berlin beispiellosen Polizeiaktion mit Knüppel und Pistole gegen demonstrierende Studenten vor der Oper.
Die Todesnachricht, blutiges Zeugnis der Konfrontation Berliner FU-Studenten und der Halbstadt-Obrigkeit (SPIEGEL 24/1967), rührte in West-Berlin Emotionen auf wie kein Ereignis seit dem Bau der Mauer. Sie machte die Studenten »fassungslos« (AStA-Verlautbarung) und die studentenfeindliche Springer-Presse mitleidlos ("BZ": »Wer Terror produziert, muß Härte in Kauf nehmen"). Sie löste Erbitterung und Genugtuung aus, Beschuldigungen und Ausflüchte,
West-Berlin geriet über Nacht »an den Rand des Chaos«, wie die »Zeit« in Hamburg schrieb, Die blutige Aktion vor der Oper
▷ brachte die Polizei von West-Berlin in Verruf, deren Chef Erich Duensing, 61, sich die Auflösung vor Demonstrationen so vorstellt: »Leberwurst-Prinzip - in der Mitte hineinstechen und nach beiden Seiten ausdrücken«;
▷ lädierte das Ansehen der politischen Führung von West-Berlin unter dem Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD), dessen erste Erklärungen nach der Polizei-Aktion der »Frankfurter Rundschau« letzte Woche »so zynisch« schienen, daß »man ernstlich daran zweifeln mußte, ob dieser Mann wirklich evangelischer Geistlicher gewesen ist«;
▷ trug den Studenten von Berlin aus nahezu allen westdeutschen Universitätsstädten Sympathie- und Solidaritätsbekundungen von Kommilitonen und Professoren ein, die - nicht immer angetan von den wilden Demonstrationsbräuchen mancher FU-Studenten - gegen die »Terrormaßnahmen der West-Berliner Polizei« (so bayrische Studentenverbände) und vielerorts auch gegen die Springer-Presse (Studenten-Spruchband in Mainz: »Bild' hat mitgeschossen") protestierten.
Dieser Freitag, an dem das ummauerte Monument westlicher Freiheit die Konturen eines Polizeistaates annahm, hatte ein Festtag werden sollen. Denn West-Berlin erwartete das iranische Kaiserpaar zum Staatsbesuch.
Eine flugs gegründete deutsch-iranische Gesellschaft ließ grün-weiß-rote Papierfähnchen verteilen. Das Senats-Protokoll veröffentlichte die Fahrtroute der Wagenkolonne »Ihrer Kaiserlichen Majestäten«, um das Volk von Berlin auf die Beine zu bringen. Die Halbstadtpresse übte sich im journalistischen Hofknicks. » Farah Diba lächelt für Persien«, schwärmte die »BZ«. »Glanz und Jubel« wünschte sich die »Bild-Zeitung«.
Doch schon als Schah Resa Pahlevi und seine Schahbanu im Miet-Mercedes 600, von Polizei-Rudeln eskortiert, am Mittag um 12.17 Uhr vor dem Schöneberger Rathaus zur Visite beim Regierenden Bürgermeister erschienen, mischten sich Mißtöne in den »Farah Farah«-Jubel reifer Damen und einer 80 Mann starken persischen Claque, die von der iranischen Mission in West-Berlin vorsorglich angeheuert worden war.
Deutsche und persische Schah-Gegner, unter ihnen zahlreiche Studenten, schwenkten Transparente mit Aufschriften wie »Freiheit für Persien« und skandierten im Sprechchor »Schah, Schah, Scharlatan«. Sie standen hinter Sperrgeländern ("Hamburger Gerät"); davor durften sich die Claqueure - darunter Agenten des persischen Geheimdienstes - tummeln, die so harmlos freilich nicht waren.
Denn kaum hatte das photogene Kaiserpaar der Szene den Rücken gekehrt, um im Rathaus Heinrich Albertz einen Teppich im Wert von 80 000 Mark vorzulegen, machten draußen auf der Freitreppe die Hurra-Perser mobil. Sie zogen Totschläger aus den Ärmeln, schwangen die Latten ihrer Begrüßungsplakate und stürmten mit kehligem Gebrüll auf die Absperrungsbarriere zu, die das übrige Publikum auf Distanz hielt.
Wütend hieben sie auf Zuschauer wie auf Anti-Schah-Demonstranten ein, um den Berlinern Respekt vor dem Herrscher aus dem Morgenland einzubleuen. Gelassen schauten Berlins Polizisten zu. Erst nach etwa zehn Minuten griffen sie ein. Schutzpolizei-Kommandeur Hans-Ulrich Werner zu seiner Reiterstaffel »Reitet da mal ein bißchen 'rein.«
Die Beamten nahmen zwei Anti-Schah-Demonstranten fest und die Personalien einiger Studenten auf. Um die Prügel-Perser hingegen kümmerten sie sich nicht. Erbittert zogen die Demonstranten ab und gaben die Parole aus: »Heute abend vor der Oper.«
Senatsprotokollchef Dr. Ruprecht Rauch nahm im Rathaus Polizeipräsident Erich Duensing beiseite. Um die Gäste, aber auch die Demonstranten vor weiteren Zwischenfällen zu bewahren, regte er an, alle Zuschauer von der abendlichen Auffahrt der Prominenz zur Gala-Aufführung der »Zauberflöte« fernzuhalten und die Bismarckstraße vor der Deutschen Oper abzuriegeln.
Doch Duensing hielt das nicht für notwendig. Er wollte sich auf seine zum Schah-Schutz aufgebotene Streitmacht von insgesamt 5000 Mann verlassen. Das konnte er auch, wie sich bald herausstellte.
Der Opern-Distrikt wurde nicht gesperrt, und so waren am Abend alle Akteure wieder in der Bismarckstraße beisammen - die Hurra-Perser, die sich vor der Absperrung postieren durften; rund 800 Demonstranten, die Transparente trugen oder sich Papiertüten mit aufgemalten Karikaturen des· Potentaten-Paares über den Kopf gestülpt hatten und auf der anderen Straßenseite hinter der Barriere harrten; dazwischen die Polizei.
Wieder bekundeten die Studenten ihren Protest mit Pfiffen, Buhrufen und rhythmischen Sprechchören wie »Mo, Mo, Mossadegh«. Wieder wurden die schahfreundlichen Perser wild - was einige Studenten nun provozierte, ihrerseits die eigens mitgebrachten Tomaten, Eier, Milchtüten und Mini-Rauchkerzen auf die Straße zu werfen. Das Bombardement hielt auch während der Auffahrt der Prominenz an. Nur knapp verfehlte eine der Früchte Wilhelmine Lübke, die mit ihrem Gatten dem Opernportal zustrebte.
Um 19.57 Uhr schlossen sich die Pforten der Oper hinter dem letzten Ehrengast. Während drinnen Generalmusikdirektor Heinrich Hollreiser den Einsatz für die persische Nationalhymne gab, kam draußen bei Demonstranten und Schaulustigen Aufbruchstimmung wie unter Fußballzuschauern kurz vor dem Abpfiff auf. Einige teilten die Parole aus: »Zehn Uhr wieder hier.« Man »überlegte gerade, ob wir irgendwo ein Bier trinken sollten«.
Aber da, um 20.07 Uhr, stach Polizeipräsident Erich Duensing von seiner Truppe kameradschaftlich »Knüppel-Erich« genannt - in das, was er hinterher als »Leberwurst« beschrieb. Es erscholl das Einsatzkommando »Knüppel frei! Räumen!« Und rund 800 Berliner Polizisten rückten gegen die Demonstranten vor - ohne zwingend vorgeschriebene Vorwarnung durch Polizeilautsprecher und, da Ruhe herrschte, grundlos.
Vom Mittelstreifen der Bismarckstraße aus, dem Opernportal gegenüber, setzte sich der uniformierte Stoßtrupp in Bewegung. Ziel - nach Duensings Leberwurst-Strategie war es, in die Mitte des gut hundert Meter langen und drei Meter breiten Zuschauerstreifens zwischen Krummer und Sesenheimer Straße, der vorn durch Sperrgeländer, hinten durch einen Bauzaun begrenzt wurde, einen Keil zu treiben.
Die Schlacht fing an. Wahllos begannen Polizisten auf Demonstranten und Schaulustige, Studenten und Bürger, Mädchen wie Männer einzudreschen. Das Gros der Studiker und Zuschauer wich ängstlich zurück. Konsterniert, hilflos und wütend zugleich, verschossen einige Demonstranten die Reste ihrer Tomaten-Munition und warfen die übriggebliebenen Rauchkerzen. Andere, an den Bauzaun gedrängt und schutzlos gegen Schläge, schleuderten Steine gegen die Angreifer. Ein Polizist, mit einer Platzwunde an der Stirn, wurde vom Kampffeld geschafft.
Um 20.09 Uhr (Polizei-Protokoll: »Verletzte unter Störern und Schaulustigen") war Duensings Keil in die Menge geschlagen. Frauen schrien, Männer flüchteten, Blut floß. Aber es gab kein Entkommen für die Demonstranten. Wer über den Bauzaun flüchten wollte, geriet auf der Rückseite, wo Pflastersteine lagerten, sofort wieder unter die Gummiknüppel der dort postierten Beamten. Augenzeugenberichte:
▷ Reporter Walter Barthel: »Ich sah, wie ein Polizist einen wehrlos am Boden liegenden Mann mit den Stiefeln gegen den Kopf trat. Auf meine Beschwerde antwortete mir ein Beamter in Zivil: »Das ist doch die einzige Strafe, die dieser Strolch da zu erwarten hat. Die Justiz zieht doch sowieso nicht mit.«
▷ Buchhändlerin Karin Röhrbein: »Ein Mann neben mir, den die Polizisten wegdrängen wollten, rief den Beamten zu: 'Schlagen Sie doch nicht. Ich gehe ja schon.' Trotzdem haben sie ihn mit ihren Knüppeln zusammengeschlagen.«
▷ Student Hans-Ulrich Knies: »Ich sah, daß eine Kommilitonin einen Schlag mit dem Knüppel auf den Hinterkopf bekam. Sie hatte eine etwa fünf Zentimeter lange Platzwunde. Ich versuchte, sie in einen Hauseingang zu ziehen, aber derselbe Polizist trieb uns hinaus.«
»Die hatten verzerrte, entfesselte Gesichter«, berichtete die Philosophiestudentin Ulrike Krüger einem »Zeit«-Reporter, der sie auffand, als sie sich in Krämpfen wand, »ihr Gesicht blutüberströmt«. Im Westend-Krankenhaus wurde eine Nierenprellung diagnostiziert. Dort fallen auch Äußerungen wie diese: »Die dreckigen Studentinnen. Denen braucht man nur unter die Röcke zu sehen.« Und als die Studentin später den ärztlichen Notfalldienst bemühte, weigerte sich der Bereitschaftsarzt: »Wenn das mit der Prügelei zu tun hat, kann ich aus juristischen Gründen nicht kommen.
Drei, vier, fünf Polizisten prügelten, traten mitunter auf einzelne Demonstranten ein - insbesondere dann, wenn Mädchen in grellen Kleidern und Studenten mit Bärten dem Widerwillen der deutschen Beamten endlich dankbares Ziel boten. In diesen Minuten entlud sich der seit Jahren angestaute Zorn der Berliner Polizei über die unbequemen Brillenträger von Dahlem.
Zeugen dieses Trauerspiels vor der Deutschen Oper hörten Polizistensprüche wie »Hau ihm doch mal einen 'rüber« oder »Kommunistenschwein«. Demonstranten, die anfangs noch wutentbrannt die Polizisten beschimpft hatten, verstummten bald; manche weinten, flehten um Gnade. Karin Röhrbein: »Wir hatten panische Angst.«
Der SPD-Abgeordnete Gerd Löffler, Zeuge des Gemetzels, stürmte in das Foyer der Oper und wandte sich hilfesuchend an einen Polizisten: »Holen Sie sofort den Innensenator. Er soll sich ansehen, was seine Polizei anrichtet.« Doch Innensenator Wolfgang Büsch war angeblich unauffindbar.
Um 20.16 Uhr erst - auf dem Mittelstreifen der Bismarckstraße waren 14 Krankenwagen aufgefahren, um die Verletzten abzutransportieren - wurden die Demonstranten über Lautsprecher der Polizei aufgefordert, das Einsatzgebiet zu räumen. Am Beginn der Krummen Straße, wohin sich die meisten geflüchtet hatten, trat ein Wasserwerfer in Aktion, und den Fliehenden setzten Polizisten mit Hunden und sogenannte Greif-Kommandos - Kriminalbeamte und Schupos in Zivil - nach.
Sie verfolgten Demonstranten bis zum Kurfürstendamm. Eine junge Frau flüchtete vor den Schlägen unter die Tische des Terrassen-Cafés »Kempinski": »Ich schrie die anderen an: 'Duckt euch, die prügeln uns kaputt.'«
Vergebens mühten sich besonnene ältere Polizisten, prügelwütige Schupo-Junioren zurückzuhalten. Die - falsche - Lautsprecherdurchsage eines Einsatzleiters, ein Polizist sei erstochen worden, trieb die Schläger vorwärts.
Der Student Benno Ohnesorg geriet, wie andere, in die Krumme Straße und suchte dort gegen 20.20 Uhr Zuflucht im Arkadenhof des Hauses Nr. 68 (siehe Graphik). Was sich in den dunklen Ecken, wo Demonstranten und Polizisten aneinandergerieten, im einzelnen abspielte, war bis Ende letzter Woche nicht eindeutig geklärt. Fest steht, daß es zweimal knallte.
Für viele klang es wie die Detonation von Feuerwerkskörpern. Und Ohnesorg, der in diesem Augenblick bewußtlos und blutend zu Boden sank, schien das Opfer eines heftigen Knüppelhiebs zu sein. Ein Mädchen leistete Erste Hilfe, ein Krankenwagen brachte den Verwundeten ins Städtische Krankenhaus Moabit.
Gegen 21.30 Uhr erst, nachdem die Schlacht geschlagen war, wollen Innensenator Wolfgang Büsch und Regierender Bürgermeister Heinrich Albertz während der großen Pause in der Oper aus dem Munde ihres Chefpolizisten Duensing vom Knüppeleinsatz erfahren haben.
Um Mitternacht präsentierte die Polizei eine Verlustliste: ein Toter, 24 zum Teil schwer verletzte Demonstranten und 20 verletzte Polizisten - was zunächst den Eindruck erweckte, als seien die Beamten Opfer blutrünstiger Aufrührer geworden. Freilich: Alle Polizisten, bis auf einen, konnten nach ambulanter Behandlung aus den Krankenhäusern entlassen werden.
Noch in der Nacht gab Albertz eine Stellungnahme zu den Zwischenfällen vor der Oper ab: »Die Geduld der Stadt ist am Ende ... Ich sage ausdrücklich und mit Nachdruck, daß ich das Verhalten der Polizei billige.«
Die meisten Berliner Morgenblätter machten sich diese Deutung zu eigen. »Bild«-Berlin: »Gestern haben bösartige und dumme Wirrköpfe zum erstenmal versucht, den Terror in den freien Teil der Stadt zu tragen.«
Innensenator Wolfgang Büsch ordnete ohne Arg und wie in solchen Fällen üblich die Obduktion des Leichnams an. Doch was die Leichenöffnung am Sonnabend-Vormittag ergab, erschütterte die demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit von Polizei und Senat: Nicht ein Knüppelhieb auf die Schädeldecke, sondern eine Polizistenkugel, Kaliber 7,65 Millimeter, in den Hinterkopf hatte den Tod herbeigeführt.
Nun erst, am Sonnabend-Mittag, gab die Polizei zu, daß »ein Kriminalbeamter« in der Krummen Straße »in Notwehr von seiner Schußwaffe Gebrauch gemacht« habe. Es war der Kripo-Meister Karl-Heinz Kurras, 40, von der politischen Polizei.
Das war die erste Version vom Tathergang. Wenig später erklärte Senatssprecher Hanns-Peter Herz aufgrund einer Polizei-Information, der Beamte habe einen Warnschuß abgegeben, der als Querschläger Ohnesorg getroffen haben müsse - Version Nummer zwei.
Abends gab die Polizeiführung die dritte Version: Der von messerschwingenden Demonstranten bedrohte Kriminalbeamte habe, auf dem Boden liegend, seine Dienstpistole gezogen und geschossen. Kurras selber ließ mitteilen, er habe nicht nur einen, sondern zwei ungezielte Warnschüsse abgefeuert.
Und am Dienstag letzter Woche schließlich lieferte der Beamte in einem »BZ«-Interview die vierte Lesart: Während des Handgemenges »wurde meine Hand, in der sich die Waffe befand, hin und her gerissen, und der Schuß löste sich«.
Dieser verschiedenen Darstellungen hätte es freilich nicht bedurft, um Zweifel an den Mitteilungen der Polizei zu wecken. Am Wochenende nach der Massenprügelei meldeten sich bei dem Anwalt der Witwe Ohnesorgs, Horst Mahler, 15 Zeugen, darunter Demonstranten wie Unbeteiligte, die sich zur Tatzeit im und am Arkadenhof der Krummen Straße 68 aufgehalten hatten.
Sie widersprachen allesamt den offiziellen Angaben über den Tathergang: Weitgehend übereinstimmend bekundeten sie, daß Kurras zur Zeit der Schüsse von niemandem mehr bedroht, Ohnesorg hingegen von mehreren Polizisten umringt gewesen sei. Außerdem wollten sie einen Notruf ("Bitte, bitte, nicht schießen") und Proteste von Schupos gehört haben: »Bist du verrückt, du hättest einen von uns treffen können.«
Der Musikstudent Frank Krüger berichtete: »Ich stand an dieser Stelle, als der Schuß fiel. Ich habe gesehen, wie eine Schar von sechs bis acht Polizisten auf den Studenten eindrang, wie er mit Knüppeln bearbeitet wurde, wie er wehrlos und passiv in dieser Traube von Polizisten hing, und dann habe ich das Mündungsfeuer der Pistole gesehen, das Mündungsfeuer war ungefähr in Kopfhöhe. Im nächsten Moment lag der Student am Boden und rührte sich nicht.«
Und schließlich sickerte durch, mehrere Schutzpolizisten hätten nach dem Einsatz im Arkadenhof der Krummen Straße 68 bekundet, daß Kriminalmeister Kurras keinesfalls in Notwehr geschossen haben könne. Sie jedenfalls, so die Schupos, hätten den Kriminal-Kollegen zum Zeitpunkt der Schüsse nicht mehr in Bedrängnis gesehen.
Während die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleitete, gab der Berliner Senat alle Schuld an den Ausschreitungen allein den Studenten und verfügte in Übereinstimmung mit den SPD-Führungsgremien ein generelles - und damit verfassungswidriges - Demonstrationsverbot.
Doch Berlins Studenten hielten zusammen wie nie zuvor. Selbst die politisch zurückhaltenden Kommilitonen von der Technischen Universität (TU) machten keine Ausnahme. TU-Studenten-Sprecher Rolf Viethen: »Ich schäme mich, in einem Staat zu leben, in dem die Polizei einen Demonstranten niederschießen konnte.« Sogar der Ring Christlich-Demokratischer Studenten, der mit den FU-Protestanten auf Kollisionskurs liegt, forderte, »daß man in Berlin damit aufhört, mit unverantwortlicher Leichtfertigkeit unangemessene Polizeiaktionen gegen Demonstranten freizugeben«.
So klang es bald aus fast allen westdeutschen Universitätsstädten. Schweigend zogen Studenten durch die Straßen von Aachen, Bochum, Düsseldorf, Gießen, Köln, Bonn, Heidelberg, München und Stuttgart.
Flugblatt des Mainzer AStA: »In Berlin werden jetzt nicht nur an der Mauer Menschen erschossen. In Ost-Berlin herrscht Demonstrationsverbot ... In West-Berlin herrscht Demonstrationsverbot ... In Ost-Berlin wird unterdrückt, was dem Magistrat nicht paßt. In West-Berlin wird unterdrückt, was dem Senat nicht paßt ... Berlin bleibt Berlin.«
Am Donnerstag letzter Woche, als der Sarg Benno Ohnesorgs von einem Studenten-Konvoi mit 150 Wagen durch die DDR nach Hannover geleitet wurde, beschloß das Berliner Abgeordnetenhaus die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Am selben Tag bat Polizeipräsident Duensing um Beurlaubung. Der Senat gewährte die Bitte.