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SICHERHEIT Knüppel gegen die Freiheit

Prügelorgien in Italien, Ausreiseverbote in Deutschland - der Gipfel von Genua belebt eine schon vergessen geglaubte Diskussion um die Grundrechte. Wie viel Staatsgewalt ist erlaubt, um den Rechtsstaat zu schützen?
Von Alexander Bürgin, Ulrich Deupmann, Georg Mascolo, Sven Röbel, Hans-Jürgen Schlamp und Holger Stark
aus DER SPIEGEL 31/2001

Innenminister Otto Schily ist ein bekennender Freund italienischer Lebensart. Seit Jahren besitzt er einen Landsitz in der Toskana, in den Feinschmeckerlokalen um Siena ist er gern bewirteter Gast, die Landessprache spricht er fließend - und seit wenigen Wochen ist er auch stolzer Träger des »Grande Ufficiale OMRI«-Ordens, den ihm sein damaliger italienischer Kollege Enzo Bianco verlieh.

Jetzt urlaubt der Minister wieder in Italien, rund 200 Kilometer von Genua entfernt, der Stadt des Weltwirtschaftsgipfels - und der brutalsten Polizeiaktion gegen politische Demonstranten und autonome Chaoten, die das westliche Europa im letzten Jahrzehnt erlebt hat.

Doch weder die räumliche Nähe noch seine Kenntnisse von Sprache und Mentalität und die »vielfältigen Bezüge zu Italien«, deren Schily sich rühmt, helfen ihm zu verstehen, was am vorvergangenen Wochenende in Genua geschah. Immer wieder ruft der Innenminister in Deutschland an, bei Politikern und Mitarbeitern, um sich erklären zu lassen, was an den Bilanzen der Krawalle Tatsachen und was Propaganda ist.

Bis zur Wochenmitte ging es dabei nur um die Vorgänge in Italien. Seit ein paar Tagen aber weiß Schily, dass es auch in der Heimat Probleme mit überzogener Lawand-Order-Politik gibt: Auf die unterschiedlichste Weise wurden über 100 Demonstranten an der Fahrt nach Genua gehindert. In der Mehrzahl sicher als gewaltbereit einzustufende Polit-Hooligans - aber eben auch friedliche Protestierer. Nun wird auch in Deutschland darüber diskutiert, was der Staatsgewalt in einer europäischen Demokratie erlaubt ist, um den Rechtsstaat zu schützen.

Natürlich liegen Welten zwischen der italienischen und der deutschen Art, mit Globalisierungsgegnern umzugehen. Er habe sich an »südamerikanische Verhältnisse« erinnert gefühlt, sagte der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele, nachdem ihm in der vergangenen Woche die inhaftierten Deutschen von ihren Erlebnissen in Genua berichtet hatten. Prügelorgien wie in Italien sind in Deutschland Vergangenheit - die Erfahrungen aus Brokdorf, Frankfurt oder Berlin wirken auch Jahrzehnte später noch nach.

Hier zu Lande geht es eher um subtile Schikanen. Sie treffen Leute wie Max Westenthanner, 21, aus Jena. »Für Sie ist die Reise hier zu Ende«, teilte ein BGS-Beamter dem verdutzten Biotechnologiestudenten am vorvergangenen Donnerstag am deutsch-schweizerischen Grenzübergang Weil am Rhein mit.

Wie ein Krawalltourist sah der blonde Lockenkopf in unauffälliger Hose und T-Shirt nicht aus. Vergangenen Herbst hatte er gegen eine NPD-Kundgebung auf dem Marienplatz in München demonstriert. Obwohl das Ermittlungsverfahren - Vorwurf: Verstoß gegen das Versammlungsgesetz - gegen Zahlung von 300 Mark umgehend eingestellt wurde, geriet er in die Datei potenzieller linker Gewalttäter, die deutsche Sicherheitsbehörden von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt seit Anfang des Jahres aufbauen. Auf Jahre hinaus gilt er deutschen Sicherheitsbehörden damit als gewaltbereiter Polit-Hooligan.

In der bundesweiten Datei »Politisch motivierte Straftäter Links«, im Polizeijargon kurz »Limo« genannt, sind offiziell erst wenige Namen gespeichert. Doch für Genua wurden auch Namen berücksichtigt, die in der alten Datei »Landfriedensbruch« stehen. Dazu kommen noch jene Limo-Personalien, die in einigen Ländern schon gesammelt worden sind.

Seit November vergangenen Jahres erfasste Bayern rund 300 Namen, etwa 100 will Niedersachsen beisteuern. Berlin rechnet mit rund 700 Personen aus der Hauptstadt, die gespeichert werden. Insgesamt, schätzen Sicherheitsexperten, kommen so einige tausend Namen zusammen - weit mehr als die knapp 2000, die bislang in der alten Datei »Landfriedensbruch« festgehalten sind.

Anders als die Bezeichnung suggeriert, können nicht nur verurteilte Gewalttäter, sondern auch Bürger, gegen die ein Ermittlungsverfahren wegen Taten mit politischem Hintergrund eingeleitet worden ist, erfasst werden. Personen, gegen die lediglich Personalienfeststellungen, Platzverweise oder Ingewahrsamnahmen angeordnet wurden, dürfen ebenso gespeichert werden wie Beschuldigte, deren Unschuld sich später herausstellen könnte.

Den Geist der neuen Datei zeigt die dazugehörige »Errichtungsanordnung«. Danach sollen schon »Verdächtige« gespeichert werden, bei denen »die Persönlichkeit oder sonstige Erkenntnisse Grund zu der Annahme geben, dass Strafverfahren gegen sie zu führen sind«.

Plötzlich wird die Änderung des Passgesetzes aus dem Frühjahr 2000 auch für ganz andere Zwecke missbraucht. Eine Formulierung, geschneidert vor der Europameisterschaft speziell gegen Fußball-Hooligans, wird damit zur Polizeikeule gegen politisch ambitionierte Protestler.

Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) erläuterte zwar formaljuristisch korrekt (siehe Kasten) die Rechtslage: »Es gibt kein Grundrecht auf Ausreise.« Doch die Innen-Experten aller Parteien des Bundestages äußern den dringenden Verdacht, dass die Innenminister und Sicherheitsbehörden bei den Verweigerungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet haben.

»Auf keinen Fall wollten wir friedliche Demonstranten einschränken, die in Italien oder Frankreich gegen Globalisierung oder Atomkraft protestieren möchten«, erklärte der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, am vergangenen Freitag.

»Es ist nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien da an den Grenzen vorgegangen wird«, schimpft auch der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Cem Özdemir.

»Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir dem Gesetz nicht zugestimmt«, erklärt der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Max Stadler. Offenbar gelte in der EU zwar »für Arbeitnehmer Freizügigkeit, nicht aber für Demonstranten«.

Alle Parteien, das wird aus den Bundestagsprotokollen deutlich, verstanden die Regelung nur als Ermächtigung für den Kampf gegen Fußball-Hooligans. SPD-Mann Rüdiger Veit überwand seine Skepsis gegenüber der neuen Passage im Gesetz nur, weil es »um einen Beitrag der Bundesregierung zur Bekämpfung des Hooligan-Unwesens durch Deutsche im Ausland« ging. Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach sprach von einem »Thema nicht nur für Fußballfans, sondern auch für die Zukunft des Sports insgesamt und das Ansehen unseres Landes in der Welt«. Der Grüne Özdemir stimmte letztlich zu, »damit deutsche Fußballrowdys im Ausland weniger Schaden anrichten«. Ex-Außenminister Klaus Kinkel (FDP) leistete Widerstand: »Schilys Gesetz ist ein Schnellschuss mit der Schrotflinte.«

Der Liberale sollte Recht behalten. Deutschland werde alle zur Verfügung stehenden Sanktionsmittel nutzen, kündigte Schily im Vorfeld des G-8-Gipfels von Genua an, »damit sich deutsche Gewalttäter nicht an diesen Ort begeben«.

Das geschah mit deutscher Gründlichkeit. Busse, die Richtung Italien fuhren, wurden von Staatsschutzkommandos schon bei der Abreise observiert. Fein säuberlich notierten die Beamten im Rahmen der »Abfahrtüberwachung« die Kennzeichen und weitere hilfreiche Details für ihre Kollegen an der Grenze: »Geschätzter 40-Sitzer, Farbe Türkis, Aufschrift: Wir verbinden Europa«. Bisweilen hatten die Fahnder sogar die Handynummern der Busfahrer und die Reiseroute in Erfahrung gebracht.

5 von 350 Genua-Reisenden in einem Konvoi aus sechs Bussen mussten an der Grenze in Weil am Rhein nach vierstündiger Kontrolle in Deutschland bleiben. Der empörte Mitorganisator der Tour, Sascha Kimpel aus Berlin, ließ ein Transparent mit dem Konterfei von DDR-Staatschef Erich Honecker ausrollen. Darunter stand: »Reisefreiheit« - Ausrufezeichen, Fragezeichen.

Die Strecke des Schnellzugs D 201 Dortmund-Mailand, mit dem Demonstranten am vorvergangenen Donnerstag reisen wollten, wurde ähnlich massiv gesichert wie ein Castoren-Transport.

Mehrere Hundertschaften des Bundesgrenzschutzes (BGS) riegelten die Bahnhöfe ab, verweigerten »potenziellen Störern mit linkem Aussehen« (BGS-Jargon) kategorisch Zutritt zu den Bahnsteigen. Einzelne Stationen waren gar militärisch gesichert: In Bonn-Bad Godesberg etwa sperrte ein Grenzschutzkommando beide Seiten des Gleisbetts über mehrere hundert Meter mit Nato-Draht, so genannten S-Rollen, ab. Im Buschwerk unterm Bahndamm hockten derweil Beamte in Kampfmontur, teilweise mit Maschinenpistolen bewaffnet.

An Bord des Nachtexpresses waren zwei BGS-Einsatzgruppen mit 20 Beamten in Uniform; 46 Beamte in Zivil klärten auf. Dem Zug voraus flog ein Hubschrauber mit Nachtsichtgerät. Das Resultat der Staatsaktion: »Acht Zielpersonen wurden festgestellt.«

Obwohl die Polizei vor der Abreise 79 Verdächtige zu Hause besuchte und eindringlich davor warnte, sich an den Gipfelkrawallen zu beteiligen, außerdem weiteren 81 kurzerhand eine tägliche Meldepflicht auferlegte und die Ausreise verbot, sind die Behörden mit dem Ergebnis alles andere als glücklich: »Trotz aller präventiven Bemühungen seitens der deutschen Sicherheitsbehörden«, tickerte das Bundeskriminalamt ans Kanzleramt, »konnte die Beteiligung deutscher Staatsangehöriger an den Unruhen nicht vollständig verhindert werden.«

Mittlerweile fürchtet das BKA, dass die Krawalle um den Gipfel weitergehen. Vor italienischen Firmen, Konsulaten und der Botschaft in Berlin ist Polizei aufgefahren. Das BKA warnt vor »Resonanzaktionen in Deutschland, die von Demonstrationen über Sachbeschädigungen bis zu Anschlägen reichen können«.

Die Furcht ist nicht unbegründet. Bei der Suche nach den Krawallbrüdern griffen sich die Behörden eben auch gewaltlose Demonstranten. Angesichts dieses undifferenzierten Vorgehens scheint die Debatte, wie weit der Staat in die Grundrechte seiner Bürger eingreifen darf, bei Politikern, Polizei und Justiz unausweichlich.

Die extensiven Kriterien für die Gewalttäterdatei gehen selbst einigen Polizeichefs zu weit. Er werde »sicherstellen, dass wir auch wirklich nur Straftäter einspeichern«, sagt der Chef des Landeskriminalamts in der Hauptstadt, Hans-Ulrich Voß. Ingewahrsamnahme und Personalienfeststellungen dürften »kein Kriterium« sein, um in die Datei zu kommen.

»Mit den Ausreiseverboten bewegt sich der Staat in einer juristischen Grauzone«, stellt Rechtsanwalt Klaus-Peter Stiegeler aus Freiburg fest. Im Auftrag von Attac, einer Organisation von Globalisierungskritikern, strebt er einen Musterprozess an - notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht.

Zwar könne nach Paragraf 10 des Passgesetzes ein Ausreiseverbot ergehen, wenn Tatsachen die Annahme begründen, dass »erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet« sind, erläutert Stiegeler. Doch eine Sitzblockade wie im Fall seines Mandanten Westenthanner könne als Grund für eine Ausreiseverweigerung keinesfalls herhalten.

Vor dem Verwaltungsgericht Freiburg holte sich Stiegeler in einer Eilentscheidung aber erst einmal eine Abfuhr. Das Gericht befand, »dass angesichts der aufgeheizten Atmosphäre an die Anhaltspunkte dafür, dass sich der Antragsteller an Ausschreitungen beteiligt, keine hohen Anforderungen gestellt werden dürfen«.

Der bayerische Richter und FDP-Innenpolitiker Stadler hätte anders geurteilt. Bürger auf Grund von eingeleiteten oder eingestellten Ermittlungsverfahren an der Ausreise zu hindern »kann einfach nicht richtig sein«. Nach der Sommerpause, kündigt Stadler an, »muss man die Sache im Bundestag grundsätzlich anpacken: Hier sind die Meinungs- und die Demonstrationsfreiheit tangiert«.

Das erkennen plötzlich auch Abgeordnete von SPD und Grünen. Erst auf Druck von Anwälten und Betroffenen protestierten sie vergangene Woche im Bundesinnenministerium aufgeregt gegen das Vorgehen der Sicherheitsbehörden und baten um Aufklärung. Solche Dateien, so Innenexperte Wiefelspütz, seien in bestimmtem Umfang notwendig - »aber wir müssen genau hinschauen, wo die Grenzen sind«.

Nach Genua, sagt Wiefelspütz, sei der Umgang mit Demonstranten »längst keine Frage eines einzelnen Landes mehr«. Der Sozialdemokrat, der Italien für das »schönste und kultivierteste Land der Welt« hält, ist »entsetzt über die Eruption der Gewalt der Polizei« in Genua: »Das ist Krieg gegen das Volk.«

Das wird in Italien anders gesehen. Beim Kampf gegen »Objekte gewaltiger Aggression«, so Polizeichef Gianni De Gennaro, habe es der Gewalt bedurft, »um auf die Gewalt zu antworten«. Es sei allenfalls zu prüfen, ob es zu »eventuellen Irrtümern einzelner« seiner Leute gekommen sei.

Die Worte müssen vor allem die Opfer der »chilenischen Nacht« ("La Repubblica") wie Hohn empfinden. Um Mitternacht des vorvergangenen Samstags hatten Polizeieinheiten eine Schule gestürmt, in der fast ausnahmslos friedliche Demonstranten nächtigten. Sie wurden mit Stahltaschenlampen, Holzknüppeln und Fäusten aus dem Schlaf geprügelt.

»Das ging wie ein Orkan über uns hinweg«, erinnert sich Benjamin Cölle, 21, »als ob die alle unter Drogen gestanden hätten.« Die Fachärzte im Hospital Galliera diagnostizierten später bei ihm einen in fünf Teile gesplitterten Wangenknochen, eine doppelte Kieferfraktur und einen Riss in der Schläfe. Dennoch musste der Stuttgarter drei Tage in einer Art Isolationshaft verbringen.

»Mir bleibt nur Schlafen, Träumen, das Betteln um eine Zigarette, die Verzweiflung, niemanden anrufen zu können, und die verzweifelten Gedanken an das Unrecht, das mich in diese Situation gebracht hat«, kritzelt der Zivildienstler auf DIN-A5-Blätter, während er im Galliera-Krankenhaus künstlich ernährt wird. Eisenklammern um Zähne und Kiefer verhindern eine normale Nahrungsaufnahme.

Daniel A., 21, lief das Blut wie Regenwasser vom Kopf, nachdem das Sondereinsatzkommando ihn mit Knüppeln so lange geschlagen hatte, bis er der Bewusstlosigkeit nahe war. Im Krankenhaus klagte der Berliner Student kurz nach dem Überfall trotz Erster Hilfe über starke Kopfschmerzen; wenig später brach er zusammen und fiel ins Koma. Sein Überleben war eine Frage von Stunden: In einer Notoperation entfernten die Ärzte ein hühnereigroßes Hämatom unter der Schädeldecke.

Sozialarbeiter Marc Lang, 33, wurde nach der Prügelorgie von den Polizisten wie viele andere Festgenommene auch noch zum Hitler-Gruß gezwungen. Das sei »das Schlimmste gewesen«, was er je erlebt habe.

Er fühle sich an Sebastian Haffners »Geschichte eines Deutschen« erinnert, sagte der Berliner Politik-Professor Bodo Zeuner, dessen Tochter Katharina, 23, für Tage im Gefängnis verschwand, ohne dass er eine Auskunft erhielt. »So hat Haffner die Polizeiwillkür Anfang der dreißiger Jahre beschrieben.«

Dazu passt ein Verdacht, der schier unglaublich für einen demokratischen Rechtsstaat mitten in Europa ist: Rechtsradikale in linksradikaler Verkleidung, womöglich sogar Polizisten im Schwarz-Block-Look sollen mit Wissen der Staatsmacht die Gewalt zusätzlich provoziert haben.

Regisseur Davide Ferrario filmte am Samstagnachmittag, während überall heftiger Guerrillakrieg tobte, zwei Personen, im »Schwarzen Block«-Outfit maskiert, die locker-lässig auf eine Gruppe Polizisten zugingen. Einer der Maskierten hatte sich - so Ferrario - »eine Polizeimarke um den Hals gehängt«.

Benjamin Cölle ist einer von vier Deutschen, die vergangene Woche immer noch in Genua im Krankenhaus lagen. 30 Tage darf er nicht richtig sprechen - aber »schlimmer als die äußerlichen Verletzungen«, sagt der junge Mann, »sind die Bilder im Inneren«.

Die Bilder der Straßenschlachten von Genua, die von autonomen Chaoten zu einem großen Teil dominiert wurden, haben Schily in seiner Position eher bestärkt. Schon im Vorfeld des Genua-Gipfels hatte er bei einem Sondertreffen mit den EU-Innenministern seine entschiedene Position zu Gunsten von Ausreiseverboten deutlich gemacht - und war allenthalben auf Bedenken gestoßen. Der französische Amtskollege belehrte Schily, in seinem Land habe die Freizügigkeit für die Staatsbürger Verfassungsrang. Deshalb dürften Ausreiseverbote und Meldeauflagen nicht von der Polizei, sondern nur von einem Richter angeordnet werden.

So klare Verhältnisse wünschte sich hier zu Lande auch der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Joachim Jacob: »Mir bereitet Unbehagen, dass in die Freiheitsrechte in den letzten Jahren wieder stärker eingegriffen wird.«

Natürlich, so FDP-Mann Stadler, wolle niemand im Parlament Gewalttäter schützen. Doch die entscheidende Frage, die er im Innenausschuss des Bundestages vor gut einem Jahr Schily gestellt habe, gelte immer noch: »Wer ist Gewalttäter und woran erkennt man ihn?« Dieser Konflikt, meint Stadler, sei letztlich »unlösbar«.

Dafür liefert der Münchner Michel B., 21, ein Beispiel. Ihm wurde am Grenzübergang Chiasso von der italienischen Polizei - auf der Grundlage einer »lista tedesca« (deutsche Liste), so die Beamten - die Einreise Richtung Genua verweigert. Seine einzige Erklärung: Bei der Fahrt zum Weltwirtschaftsforum im Januar in Davos wurden in seinem Pkw Anti-Globalisierungstransparente und Gasmasken gefunden. Die habe er, erklärt der Geschichtsstudent, nur »zum Schutz gegen Tränengas« dabei gehabt.

Beim Berliner Heilpraktiker-Auszubildenden Thorsten F., 23, klopfte die Polizei eine Woche vor dem Gipfel an, um ihm mitzuteilen, dass er sich einmal täglich bei der Polizei zu melden habe. Vorgeworfen werden ihm Straftaten bei früheren Demonstrationen wie schwerer Landfriedensbruch. Doch alle Verfahren gegen ihn wurden eingestellt, vor einem Richter stand er noch nie. Der verhinderte Demonstrant will jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof klagen.

Der Datenschutzbeauftragte Jacob, ein eher zurückhaltender und noch zu Zeiten von Bundeskanzler Helmut Kohl bestallter Beamter, fühlt sich beim Gedanken an die neue »Gewalttäter links«-Datei schaudernd in die Vergangenheit zurückversetzt: »Mich erinnert das Ganze an die siebziger Jahre, als als Reaktion auf die Baader-Meinhof-Bande der Aufbau neuer polizeilicher Dateien begann.«

Allerdings, so Jacob, sei die damalige Computertechnik »nicht so flexibel und leistungsfähig« gewesen wie heute. »Deshalb«, warnt der Datenschützer, »sind die Risiken für die Freiheitsrechte heute größer.«

Damals war Otto Schily Anwalt von RAF-Terroristen. Sein Mandat, betonte er immer wieder, verstehe er auch als einen Kampf für den Rechtsstaat.

Heute versteht der Innenminister Schily die Aufregung um die Ausreisesperren nicht. Am vergangenen Freitag entschloss er sich an seinem Urlaubsort, die ganze Diskussion nicht sonderlich ernst zu nehmen. Und sich schon gar nicht daran zu beteiligen.

Er will bei nächster Gelegenheit bei seinen Amtskollegen einen neuen Vorstoß für ein gesamteuropäisches Konzept im Umgang mit den gewalttätigen Gipfel-Gegnern machen. »National«, sagt Schily, »ist dieses Problem nicht mehr zu lösen.«

ALEXANDER BÜRGIN, ULRICH DEUPMANN, GEORG MASCOLO, SVEN RÖBEL, HANS-JÜRGEN SCHLAMP, HOLGER STARK

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»Es gibt kein Grundrecht auf Ausreise« Innensenator Ehrhart Körting (SPD) am 13. Juli in Berlin

Was auf den ersten Blick wie eine Provokation wirkt, bezieht sich auf geltende Rechtsprechung. Schon 1957 befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Ausreiseverbot. Die Behörden hatten dem Adenauer-Kritiker Wilhelm Elfes die Passverlängerung verweigert, um dessen politische Aktivitäten zu behindern.

Im so genannten Elfes-Urteil wird festgestellt, dass der Parlamentarische Rat die Ausreisefreiheit nicht ausdrücklich in den Grundrechtekatalog aufgenommen habe. Sie sei aber im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit grundgesetzlich geschützt.

* Mit der deutschen Generalkonsulin Uta-Maria Mayer-Schahlburgund einem Arzt beim Besuch verletzter Deutscher in einemKrankenhaus von Genua.

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