REGIERUNG Koalition in Klausur
Konzentriertes Arbeiten war angeordnet, auf Annehmlichkeiten aller Art sollte verzichtet werden. So hatte es der Kanzler ausdrücklich gewünscht.
Folglich wurde statt eines Menüs ein »Tellergericht« serviert, und die 30-minütige Mittagspause fand am Konferenztisch statt. Assistenten und Fachbeamte mussten zu Haus bleiben. Der erste Tag der Klausur dauerte 17 Stunden, Freund und Feind bekamen den Ernst der Lage und - wichtiger noch - die Ernsthaftigkeit des Regierungschefs vor Augen geführt.
Immerhin wurde dabei ein kompletter Haushalt verabschiedet und ein Sonderprogramm von zwölf Milliarden Mark verabredet, um die erlahmte Konjunktur in der Bundesrepublik anzukurbeln. »Das ist ein wichtiger deutscher Beitrag zur Abwehr des weltwirtschaftlichen Ungleichgewichts«, verkündete ein abgekämpfter Kanzler im Nachhinein stolz.
Das war im Sommer 1978, und als Regierungschef amtierte Helmut Schmidt, der sich auch in jener von Krisen geschüttelten Zeit das Image als »Macher« erarbeitete.
Ein Vierteljahrhundert später ist die ökonomische Lage noch deutlich ernster als damals, und wieder reagiert ein Kanzler - diesmal der Genosse Gerhard Schröder - mit einer Klausur auf die Misere. Am 28./29. Juni wird er sich mit seinem Kabinett wohl in einem im Brandenburgischen gelegenen Schloss oder Landgasthaus einmauern. Das Konklave, zu dem die Presse keinen Zutritt hat, soll vor allem die darniederliegende Konjunktur beleben.
Der Regierungschef will die Phase seiner fortgesetzten Fehlstarts endgültig hinter sich lassen, dem angestaubten rot-grünen Projekt eine frische Politur verpassen und den Schwung seiner Agenda 2010 nutzen, um sich selbst zum obersten Reformer des Landes zu befördern - Schröder reloaded.
Seht her, so die geplante Botschaft, die Querelen in der Koalition sind vergessen. Rot-Grün lebt - trotz NRW-Krise und anderer wenig erbaulicher Nachrichten. Die allseitige Kritik am sparwütigen Finanzminister, das war gestern. Ein guter Kanzler kümmert sich eben um seine wund geriebenen Minister, und bei allem Streit ist er Schlichter. Vor allem aber kämpft er in der Sache - zum Beispiel gegen die Rezession.
»Jahr der Zäsuren« lautet in der Regierungszentrale der nur für den internen Gebrauch gedachte Arbeitstitel für 2003. Jetzt oder nie! Die liegen gebliebenen Reformarbeiten müssen endlich angepackt werden, so hat es sich Schröder vorgenommen. Gesucht wird noch nach einer griffigen Überschrift für die Öffentlichkeit, die sich an der legendären Formel vom »New Deal« orientieren soll, mit dem US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den dreißiger Jahren Gewerkschaften und Unternehmer zum gemeinsamen Kraftakt überredete.
Der Entschluss zur Kanzler-Klausur erfolgte unter dem Druck einer gleich vielfach trüben Realität. Das historische Umfragetief der SPD entspricht der ökonomischen Situation, die Firmen und Bürger zu Recht als bedrohlich empfinden. Während in den USA und im restlichen Europa erste Aufschwungsignale empfangen werden, siecht der »deutsche Patient« ("Economist") weiter vor sich hin.
Die Statistiker registrierten im Mai eine Rekordarbeitslosigkeit, im Winter könnte die magische Zahl von fünf Millionen erreicht werden. Der Haushalt ist aus den Fugen, die Sozialversicherungen melden nahezu wöchentlich neuen Milliardenbedarf.
Der Kanzler hatte die Lage lange Zeit zu rosig dargestellt, was ihm vor allem die grünen Minister vorwerfen: »Hätte er die Steuersenkung in die Agenda 2010 eingebaut, wäre uns die monatelange Gerechtigkeitsdebatte erspart geblieben«, so ein enger Fischer-Vertrauter. Mit seinen bisherigen Maßnahmen erreichte Schröder zwar noch die Schlagzeilen des jeweils nächsten Tages, aber das bröckelnde ökonomische Fundament der Republik bleibt davon unberührt. Ohne mehr private Investitionen und mehr privaten Konsum lässt sich die Konjunkturschwäche kaum überwinden. Für die Regierenden heißt das: weniger sparen, mehr Schulden machen.
»Wir müssen da mal ein paar grundsätzliche politische Fragen klären«, hatte Schröder im Kabinett vorvergangene Woche die von ihm geplante Klausur eher beiläufig angekündigt. »Aber«, ergänzte Vize Joschka Fischer unter heftigem Nicken des Kanzlers, »es dürfen nicht wieder bloß Haushaltsberatungen sein - wie bei den Gesprächen zum Koalitionsvertrag.«
Geraune unter den Ministern. Ein Konklave der Regierung, das gab es seit 25 Jahren nicht mehr. Von dem geplanten Kurswechsel hatten die meisten Kabinettskollegen gerüchteweise erst aus der Zeitung (SPIEGEL 24/2003) erfahren. Eine förmliche Einladung zu dem nun mit Spannung erwarteten Treffen steht bis heute noch aus.
Dabei ist Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, der engste Gehilfe Schröders, bereits seit einigen Wochen mit der Vorbereitung beauftragt. In die Details eingeweiht sind vor allem SPD-Fraktionschef Franz Müntefering, dem die Idee als Erstem kam, die Minister Hans Eichel und Wolfgang Clement sowie SPD-Generalsekretär Olaf Scholz. Das Themenspektrum steht in Grundrissen fest, es geht ausschließlich um die Reformen im Innern:
* Ein verfassungsgemäßer Haushalt, das heißt ein Etat, der weniger Schulden aufnimmt, als er Investitionen genehmigt, soll abschließend beraten werden - je kürzer, desto besser.
* Auch die Zukunft der Rente soll diskutiert werden. Kürzungen für zukünftige Rentner um bis zu zehn Prozent, wie gerade in Österreich beschlossen, sind undenkbar, heißt es im Kanzleramt. Aber über eine Anhebung der Rentenbesteuerung, eine höhere Beteiligung der Älteren an ihrer Gesundheitsversicherung und ein Verschieben der jährlichen Rentenanpassung wird zumindest geredet. Schröder zaudert nur noch, ob er dazu Beschlüsse fassen soll.
* Denn der Blick muss frei bleiben auf das wahre Ziel der Zusammenkunft: Geplant ist ein Steuergeschenk in Milliardenhöhe, mit dem der Kanzler Optimismus verbreiten und den Deutschen die Furcht vor der Zukunft nehmen möchte. »Das Angstsparen muss endlich aufhören«, sagt einer seiner Berater.
Ins Visier genommen wird, die dritte Stufe der geplanten Reform vorzuziehen: einen Steuernachlass von 18 Milliarden Euro, der eigentlich erst für 2005 vorgesehen war. Planmäßig steht zum 1. Januar 2004 die zweite Stufe der Steuerreform an, die 7 Milliarden Euro an die Bürger zurückgibt.
Natürlich kalkulieren die Initiatoren, dass das zweitägige Schröder-Festival von einem Großaufgebot an TV-Kameras und Zeitungsreportern verfolgt wird - aber nur vor den Schlosstoren. Durch gezielte Hinweise auf das Vorziehen der üppigen
Steuerreform wird die Neugier des Publikums schon im Vorfeld angeheizt.
Das Kanzleramt streut entsprechende Gerüchte, während der Regierungschef schweigt. Der SPD-Fraktionsvize fordert, der Fraktionschef gibt Bedenken zu Protokoll. Hans Eichel lässt entsprechende Pläne verbreiten. »In dieser Situation müssen die öffentlichen Haushalte expansiv ausgerichtet sein«, heißt es in einer Vorlage für den Finanzminister. Der Ressortchef wiegelt selbst noch ab, um den Spekulationen zugleich neue Nahrung zu geben. Alles, orakelte er am Freitag, habe »seinen Zeitpunkt«.
Und dieser Zeitpunkt naht. Denn Eichels Vorgesetzter würde gern selbst den Geldsegen verkünden. Listig einigte sich das Spitzenduo vor einer Pressekonferenz des Finanzministers darauf, fürs Erste keinerlei Gewissheiten zu verkünden - aber andererseits nichts auszuschließen.
Dabei war die Grundsatzentscheidung schon bei einem Treffen am vergangenen Donnerstag gefallen. Eichel selbst unterbreitete dem Kanzler ein Vorziehen der Steuerentlastung. Im Gegenzug freilich verlangte er Unterstützung beim weiteren Stopfen der Finanzlöcher.
Die nun angestrebte Steuersenkung, die zu großen Teilen auf Pump finanziert werden soll, ist nicht ohne Risiko. Bisher hatte Schröder sie stets abgelehnt. »Das kann niemand bezahlen«, tönte er noch in einem Interview mit dem Berliner »Tagesspiegel«, das am 11. Mai erschien.
Doch immer mehr Ökonomen, darunter der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, raten mittlerweile zu dieser Konjunkturspritze - und der lange Zeit widerspenstige Eichel zeigt sich seit einigen Wochen einsichtig, so dass sich nun auch der Kanzler auf das Abenteuer einlassen will.
Es geht nämlich auch um die Rechtmäßigkeit der geplanten Maßnahmen. Der Staat, so schreibt es Artikel 115 des Grundgesetzes vor, darf nicht mehr Schulden machen, als er für Investitionen ausgibt. Sonst ist der Haushalt verfassungswidrig - es sei denn, die Regierung stellte eine Störung des »gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts« fest.
Eine solche Erklärung abzugeben, ehe der Haushalt in einem halben Jahr überhaupt erst wirksam wird - das hat noch keine Regierung in Deutschland gewagt. Schröder fürchtet denn auch den Aufschrei der Experten. Zumal eine als illegal empfundene Steuerpolitik beim Wahlvolk schwerlich zünden würde. Deshalb braucht der Kanzler die verbleibenden zwölf Tage bis zur Regierungsklausur, um die Stimmung für einen Kurswechsel zu testen.
Erschwerend kommt hinzu, dass Eichel nur unter bestimmten Bedingungen mitziehen wird. Er will das Sparen unter keinen Umständen aufgeben. Mit Blick auf die Brüsseler EU-Kommission drängt er darauf, die Konsolidierungspolitik fortzusetzen, wenn auch mit angezogener Handbremse. »Das Thema Subventionsabbau«, beharrte er am Freitag, »bleibt auf der Tagesordnung.«
Denn Sparwille, argumentiert Eichel, muss schon deshalb demonstriert werden, weil die Bundesrepublik an internationale Verträge gebunden ist. Der Vertrag von Maastricht etwa ist eindeutig: Überschreitet ein Mitgliedsland die zulässige Höhe des Staatsdefizits von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, heißt es in Artikel 104, kann die Kommission »Geldbußen in angemessener Höhe« verhängen.
Wärend des Gipfels der Europäischen Union in Griechenland wird Schröder in der kommenden Woche deshalb bei den Regierungschefs vorfühlen. Der Kanzler hofft, dass die Kollegen seinen Schwenk wenigstens stillschweigend hinnehmen.
In einem Vier-Augen-Gespräch im Kanzleramt signalisierte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi kürzlich bereits Wohlwollen. Da in Italien gegenwärtig ebenfalls eine Steuersenkung geplant wird, so empfand es die Schröder-Truppe, sei der Gast gnädig gestimmt gewesen: »Der will ja schließlich bald zurück in die Innenpolitik.«
Die Klausurtagung wird von des Kanzlers Helfern nun mit ähnlicher Akribie vorbereitet wie die Regierungserklärung vom 14. März. Mehrfach bereiste Schröders Büroleiterin Sigrid Krampitz vergangene Woche das Berliner Umland, um nach einem geeigneten Ort zu fahnden. Mehrere Schlösser und Landgasthöfe kamen in die engere Wahl - die Entscheidung stand am Freitagabend noch aus.
Das Ambiente ist wichtig, denn die abgeschlaffte Regierungstruppe soll sich wieder ertüchtigen und neuen Mannschaftsgeist entwickeln. Ein Kabinettsmitglied hofft auf ein »Incentive-Wochenende für die politischen Leistungsträger«.
Was so klingt, als handelte es sich um ein Managerseminar, hat politische Tradition. Schon Kanzler Kurt Georg Kiesinger versammelte anno 1968 sein Kabinett zur Klausur in der Wasserburg von Heimerzheim, um über die Berlin-Politik zu diskutieren. Nachfolger Willy Brandt berief mehrfach Konklaven zu wichtigen Weichenstellungen ein. Im Bonner Kanzlerbungalow berieten er und seine Minister etwa 1970 bei Zwiebelsuppe über Maßnahmen zur Dämpfung der Konjunktur, drei Jahre später wurde auf Schloss Gymnich die Marschroute für die zweite Stufe der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion entwickelt.
In der Parteizentrale der SPD trat am vergangenen Mittwochnachmittag erstmals eine Art Organisationskomitee zusammen, dem Müntefering, Steinmeier, Scholz, Regierungssprecher Béla Anda und Eichel angehören. Wichtigste Frage vorab: Wer wird zugelassen, wer nicht?
Neben den Ministern sind von der Sozialdemokratischen Partei nur Müntefering und Scholz geladen. Für die Grünen nehmen die beiden Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt und Krista Sager sowie voraussichtlich Parteichef Reinhard Bütikofer teil. Beamte oder externe Experten sind unerwünscht.
Bleibt vorerst noch das Problem mit der Opposition. In allen Steuerfragen ist Schröder schließlich auf die Zustimmung der von der Union regierten Länder im Bundesrat angewiesen.
Unions-Fraktionsvize Friedrich Merz jedenfalls lehnte am Freitag rundweg ab, die Pläne seien nicht finanzierbar: »Wir sind nicht bereit, Harakiri zu machen.«
PETRA BORNHÖFT, TINA HILDEBRANDT,
ROLAND NELLES, GABOR STEINGART
* Mit der Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und demehemaligen Parteivorsitzenden Fritz Kuhn.