DIETER GÖTZE Köpenick 65 42 29
Acht bewaffnete Beamte der West-Aberliner Kriminalpolizei eskortierten den Bundeswehrmajor Gerhard Götze zum Brandenburger Tor. Nur wenige Meter vom Symbol deutscher Einheitssehnsucht entfernt, bezog der Trupp Posten: Der West-Offizier zückte einen ärarischen Feldstecher und spähte gen Ost.
Götze okulierte vier Stunden lang. Dann erst näherte sich der Sektorengrenze das von ihm erwartete Auto, in dem die Gattin und die Mutter des Majors den 16jährigen- Sprößling der Familie, Dieter Götze, aus der Obhut beflissener DDR-Funktionäre nach dem Westen zurückholten.
Major Götze hatte so lange auf Wacht stehen müssen, weil seine Frau, die er in den Ostsektor geschickt hatte, vor ihrer Rückkehr nach Westberlin noch einen öffentlichen Auftritt zu absolvieren hatte: Sie gab - wie sie sagt, »freiwillig« - dem Deutschlandsender ein Interview, in dem sie eine von der westdeutschen Presse mit viel Liebe ausgesponnene Legende zerstörte - die Geschichte von der gewaltsamen Entführung Dieter Götzes hinter den Eisernen Vorhang.
Das Interview mit der Frau eines westdeutschen Offiziers, der dem Stabe des Kommandos der Territorialen Verteidigung des Bundesverteidigungsministeriums angehört, gelang so trefflich, daß der DDR-Sender es für angebracht hielt, Ursula Götzens freimütige Reden gleich mehrere Male auszustrahlen und von seinem Star-Kommentator Karl-Eduard von Schnitzler erläutern zu lassen.
Eröffnete der Ostberliner Reporter Wolfgang Dost das Gespräch: »Frau Götze, ich glaube, Sie sind überglücklich, daß Sie Ihren Sohn wiedergefunden haben, nicht?«
FRAU GÖTZE: Das können Sie sich vorstellen.
DOST: Sie werden gehört beziehungsweise gelesen haben, daß die »Bild« Zeitung und die Hamburger »Welt« die unmöglichsten Geschichten im Zusammenhang mit Ihrem Sohn erfunden haben.
FRAU GÖTZE: Ja, leider.
DOST: Man sprach ... von Entführung und ... weiß der Teufel, was nicht noch alles. Billigen Sie das?
FRAU GÖTZE: Nein... wir haben sogar den Zeitungen untersagt, überhaupt Artikel über diesen Fall zu bringen, und man hat es gegen unseren Wunsch getan. Denn wir wollten die Sache unter uns (in der Familie) ausfechten.
In der Tat: Das in Bad Godesberg wohnhafte Ehepaar Götze hatte den Reportern westdeutscher Zeitungen, die über Bonner Stellen von dem Verschwinden des Majors-Sohnes erfahren hatten, klipp und klar erklärt, daß es sich dabei um eine interne Familienangelegenheit handele. Was westdeutsche Zeitungen eine Woche lang verschwiegen, erklärte Karl-Eduard von Schnitzler in zwar unverkennbar propagandistischer Absicht, aber wahrheitsgemäß so: »Er (Dieter Götze) ist halt ausgebüchst, wie das junge Leute manchmal tun.«
DDR-Schnitzler konnte sich dabei auf eine zuverlässige Aussage stützen - auf Dieters eigene Worte in das DDRMikrophon.
REPORTER DOST: Also, wie bist du denn auf die Idee gekommen, hier 'rüberzukommen, die Eltern zu Hause zu lassen? Das ist doch kein leichter Entschluß.
DIETER: Das war ein bißchen bedeppert.
Für die Haltung der westdeutschen Tagespresse,die fast in ihrer Gesamtheit aus der alltäglichen Geschichte eines Ausreißers eine politische Moritat machte, gibt es freilich eine Erklärung: Bonner Dienststellen hatten zu dem Fall Götze mit Informationen aufgewartet - das Bundesverteidigungsministerium übergab den Journalisten ein offizielles Kommuniqué -, aus denen beispielsweise die auflageschwache »Deutsche Zeitung« herauslas: »Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Ostberliner Stellen ... versucht haben, einen Major der Bundeswehr in den Ostsektor von Berlin zu locken. Sie bedienten sich dabei des 16jährigen Sohnes Dieter dieses Offiziers.«
Lautete in diesem Blatt die Überschrift forsch »Pankow erpreßt einen Offizier«, so formulierte die Tageszeitung »Die Welt« nicht weniger eindeutig: »Sein (Gerhard Götzes) Sohn als Geisel in Ostberlin«. Ein »Welt«-Reporter fand heraus, daß Dieter gewaltsam in Ulbrichts Reich verbracht worden sein müsse, weil es sich bei dem bebrillten Pennäler um »keinen politischen Träumer« handele. Als dann auch die »Frankfurter Allgemeine« durch die Erwähnung eines »geheimnisvollen Briefes aus Ostberlin« den Fall Dieter Götze zum politischen Krimi machte, sahen die Boulevard-Erzeugnisse zur Zurückhaltung keinen Anlaß mehr.
Dieter hatte beim Weggang aus der elterlichen Wohnung seine Briefmarken-Sammlung (Wert: 250 Mark) mitgenommen - das genügte dem »Hamburger Abendblatt«, um durch folgenden Hinweis ein neues Spannungsmoment in die gesamtdeutsche Götze-Killer-Story zu bringen: »In Bonn erhärtet sich ... der Verdacht, daß der leidenschaftliche Briefmarkensammler Dieter Götze von Leuten des Staatssicherheitsdienstes durch eine wertvolle Briefmarke nach drüben gelockt wurde.« Und die »Bild« Zeitung hatte ganz präzise Gründe für die Annahme parat, daß Dieter »nach Ostberlin entführt worden ist":
- weil »aus der Bevölkerung der Bundesrepublik kein Hinweis auftauchte, daß man Dieter auf seinem Wege nach Berlin gesehen hat«,
- weil »von dem Fahrrad, mit dem Dieter von zu Hause wegfuhr, jede Spur (fehlt)«.
Schlußfolgerte »Bild": »Er wurde also vermutlich mit einem Wagen weggebracht.« Auf die nächstliegende Lösung des Rätsels, wie Dieter wohl nach Ostberlin gelangt sein könnte, kam freilich keine der zahlreichen West-Zeitungen, die den willkommenen Sensationsstoff kolportierten: »Ich ... habe eine Fahrkarte gekauft, bin in den Zug gestiegen nach Köln, da umgestiegen in den Interzonenzug nach Berlin. (Das) Fahrrad (habe ich) im Gepäckwagen abgegeben und in Berlin wieder »rausgeholt« (Dieter Götze). Der Majorssohn wollte in die DDR überwechseln, weil sein Vater andere Vorstellungen von Dieters künftigem Berufsweg als Bankkaufmann hatte als er, der Godesberger Gymnasiast.
In Berlin hatte sich Dieter Götze nach dem Aufnahmelager für Westflüchtlinge erkundigt und war - »weil es regnete« - ohne Verzug nach Blankenfelde geradelt. Von hier wurde Dieters Vater verständigt:
- durch ein diskretes Schreiben ohne Briefkopf des Heimleiters Schneider ("Der Herr Major [sollte] nicht gefährdet werden"),
- durch einen Zettelbrief Dieters, in
dem der Junge meldete, er fühle sich in der DDR »wohlauf«, und
- durch telephonische Auskünfte, die das Lager Blankenfelde den Eltern Götze erteilte.
Diese Auskünfte einzuholen, war Götze von Schneider eigens schriftlich gebeten worden. Der- Major sollte zu diesem- Zweck einfach die Telephonnummer 65 42 29 im Ostberliner Stadtbezirk Köpenick wählen es handelte sich um einen Anschluß eben des Ostberliner Westflüchtlingslagers Blankenfelde.
Da ein erstes Telephonat zwischen, Bad Godesberg und Ostberlin ohne Ergebnis blieb - Götze nachte keine Anstalten, seinen- bereits 14 Tage in der Zone weilenden Sohn zurückzuholen oder zurückholen zu lassen -, mahnte Schneider. Der Lagerleiter ließ den Vater wissen, daß die DDR-Aufenthaltsgenehmigung für Dieter Götze am 30. November ablaufe. »Bild« holte daraufhin die größten Lettern, aus der Lade: »Wieder am Telephon: Roter Erpresser« .
Vater Götze hatte sich nun zu entscheiden »zwischen Vaterliebe und militärischer Pflicht«, wie westdeutsche Zeitungen übereinstimmend formulierten. Obwohl das Strauß-Ministerium dem Götze ausdrücklich zugestanden hatte, in diesem »tragischen Falle« militärische Bedenken hintanstellen zu dürfen, konnte sich der Major »nach Gewissensnöten« lediglich dazu entschließen, dem Drängen der Großmutter Dieters endlich nachzugeben. Die alte Frau wollte tun, was längst fällig war, nämlich den Jungen in Blankenfelde abholen; West-Götze selbst machte sich stark, bei Omas Operation Ost den risikolosen Schild-Dienst am Brandenburger Tor zu übernehmen.
Daß Dieters Repatriierung ohne Beschwernis möglich war, erwies sich in Ostberlin. Als Oma und Mutter Götze den renitenten Dieter wieder in ihre Mitte nehmen durften, stand die Majorsgattin Ursula Götze nicht an, das Ulbricht-Regime öffentlich zu loben.
REPORTER DOST: Haben Sie denn nun den Eindruck, daß man hier Gesetz und Recht achtet, hier bei uns in der DDR?
FRAU GÖTZE: Ja, das sehe ich doch. Man hat mich vorgelassen, ich konnte mit dem Jungen sprechen, man gibt mir den Jungen, also: ja.
Dieser unerwartet naiven Antwort auf eine propagandistische Suggestivfrage hatte Dost nichts mehr hinzuzufügen.. Der SED-Reporter schloß das Interview schmucklos mit dem Wort: »Eben«.