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Kohl: Die lange Schonzeit ist zu Ende

Nach dem unerwarteten Debakel der Christdemokraten bei den Wahlen in Hessen und Bremen wächst die Kritik an Helmut Kohls Führungsstil; er habe kein Konzept in der Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitspolitik. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt präsentiert sich den Parteifreunden ein kraft- und entschlußloser Kanzler. Doch Helmut Kohl fühlt sich im Amt so wohl, daß er sich über Kritik aus den eigenen Reihen erhaben dünkt.
aus DER SPIEGEL 40/1983

Aufgeregt ließ sich die FDP-Generalsekretärin Irmgard Adam-Schwaetzer kurz vor den Landtagswahlen in Hessen und Bremen mit ihrem Parteivorsitzenden Hans-Dietrich Genscher verbinden. Die brandneuen Zahlen einer Umfrage, von den Liberalen in Auftrag gegeben und bezahlt, zeigten - so berichtete sie bedrückt - einen schlimmen Mißerfolg in Hessen, ein äußerst knappes Ergebnis in Bremen.

Ihren Gesprächspartner konnte sie mit der Hiobsbotschaft nicht beeindrucken: »Geben Sie für solchen Käse kein Geld aus«, empfahl Genscher der verwirrten Parteifreundin, »fragen Sie mich.«

Seine Prognose: Sechs Prozent für die Liberalen in Hessen, »aber wir werden nicht regieren können«, fügte er hinzu. Und in Bremen werde die FDP - sie wollte dort mit den Sozialdemokraten gemeinsam regieren - an der Fünf-Prozent-Klausel scheitern, wegen der »falschen Koalitionsaussage«.

Der Vorsitzende hatte den richtigen Riecher. Als er am vorletzten Sonntag in seiner Heimsauna die ersten Hochrechnungen über den Deutschlandfunk hörte, fühlte er sich als der eigentliche Sieger; wieder anerkannt starker Mann der Republik - eine Lieblingsrolle, der er seit dem mißratenen Wendemanöver im Herbst letzten Jahres hatte entraten müssen.

Seit vorletztem Sonntag ist der bis dahin angeschlagene FDP-Chef obenauf; er gibt Zensuren und Ratschläge an alle, an Gegner und Partner. Die SPD, die in beiden Ländern erstaunlich zulegte, hat in seinen Augen »unverdient« gewonnen, Kanzler Helmut Kohl aber mit seiner Union einen wohlverdienten Denkzettel mitbekommen.

In den langen Jahren der Opposition sind die Unionschristen allzu »bequem« geworden, lautet Genschers Fachkritik. Sie glaubten wohl immer noch, sie könnten automatisch bei allen Wahlen zulegen: »Das ist ein Irrtum.«

Der Vizekanzler findet erstaunlich, wie dilettantisch Kohl und seine Unionsfreunde manchmal regieren und wie sehr in CDU/CSU Anspruch und Wirklichkeit nach 13jähriger Oppositionszeit auseinanderlaufen. »Alle anderen Parteien halten sie für Hausbesetzer«, frotzelt der kleine Bündnispartner. Den Christdemokraten sei wohl nicht klar, daß die Wähler allen Mißmut immer bei der großen Regierungspartei abladen: »Das haben die verlernt.«

Aber eine unmittelbare Gefahr für den Kanzler kann der Vize nicht erkennen, trotz der demütigenden Niederlage in Hessen. Genscher: Wer die Angriffe und Demütigungen in der Opposition so »ausgesessen« habe wie Kohl, sei in der Regierung erst einmal »unangreifbar«.

Sicher. Aber die Wahlergebnisse von Bremen und Hessen wie auch Genschers Sottisen zeigen an: Für die Regierung Helmut Kohls hat der Bonner Alltag begonnen. Kaum ist das erste Schwächezeichen vom Wähler per Votum markiert, gilt auch die Treibjagd als eröffnet. Kaum sind die Feiern zum einjährigen Amtsjubiläum des Kanzlers vorbei, hat die lange Schonzeit ein Ende.

Fast unbehelligt hatte sich Kohl bislang seiner tagesfüllenden Lieblingsbeschäftigung hingeben können: die Macht auszukosten, um die er so lange und verbissen rang.

Das Gefühl, die Bundesrepublik Deutschland zu regieren, genießt er mit allen Fasern. Der Fernsehzuschauer sieht es, wenn der Kanzler auf der Regierungsbank des Bundestages Platz nimmt: schwerfällig, mit wichtigem, wissendem Grinsen. So finden ihn die Freunde oft in seinem Amtszimmer, die Beine auf den Tisch gelegt, berieselt von Stereomusik, in glücklicher Selbstverliebtheit. _(Am 27. September, nach den Wahlen in ) _(Hessen und Bremen, mit Unionsfreunden in ) _(der Sitzung der Bundestagsfraktion. )

Der Wahlsonntag, 25. September, hat auch Kohl aufgeweckt. »Eine bittere Niederlage«, gesteht er öffentlich ein - kein Versuch, die Schuld anderen zuzuschieben; vielmehr seien die »notwendigen bundespolitischen Entscheidungen« verantwortlich. Die »Sparmaßnahmen«, glaubt er, hätten zur Wählerabwanderung geführt, und fest verspricht er: »Der als richtig erkannte Kurs wird auch in Zukunft weitergefahren.«

Genau dies ist höchst zweifelhaft. Freunde und Gegner fragen, ob Kohl den Ernst der Lage richtig einschätzt, ob er die Ursachen der Niederlagen wirklich verstanden hat. Sie fürchten, er werde die nötigen Schlüsse nicht ziehen.

Kanzlerkritiker meinen, keinesfalls sei allein die Sparpolitik schuld an den schweren Einbrüchen der Union. Manche sehen im Wahl-Debakel den Anfang vom Ende: hessische Verhältnisse 1987 in Bonn, weil dann die Liberalen die Verluste der Unionschristen nicht mehr ausgleichen können.

»Es erweist sich«, menetekelt der konservative »Figaro«, »daß die Propaganda der linken Opposition überzeugender ist als die Arbeit der Regierung.« Und »Le Monde": »Nichts von der Linie, die die Bundesregierung verfolgt, kann Begeisterung wecken.« Der Bundeskanzler, warnt »Die Welt«, gerät »in eine Schattenzone«.

Der Vertrauensverlust der Union - in Hessen sackte sie um 6,2 Prozent, in Bremen baute die SPD ihre absolute Mehrheit trotz Werftenkrise aus - hat all jene Zweifler in der Koalition wieder munter gemacht, die den Kurs der Regierung seit Monaten mit Mißtrauen verfolgen. Die Sozialdemokraten wittern Morgenluft.

Genscher hat die Richtung der Kritik angegeben: Die Bonner Regierung habe den Wählern außer den Sparmaßnahmen ein schlimmes Erscheinungsbild geboten - ausdauernder Streit allenthalben, meist um die Person des Hauptdarstellers Franz Josef Strauß wie um seine deutschlandpolitische Wende.

Auch in der Wirtschaftspolitik ein verwirrendes Bild: Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht lieferte rigorose Rezepte für den weiteren Abbau des Sozialstaats; Familienminister Heiner Geißler versuchte, unterstützt von Fraktionschef Alfred Dregger, beschlossene Kürzungen wieder rückgängig zu machen.

»Wir haben«, so Genscher, »den Pausenfüller gespielt.« FDP-Fraktionsvize Hans-Günter Hoppe mäkelt, »bis zum Ertrag und zu reibungsloser Zusammenarbeit« sei es »bisher nicht gekommen«. Überhaupt, so seine Klage: »Die andere Koalition hatte mehr Lust an der Arbeit.«

Allzu geruhsam hat Kohl sich, offenbar auch im Urteil seiner Wähler, im Kanzlersessel gerekelt, hat von oben die Kleinkrieger in den politischen Niederungen gewähren lassen, hat gelassen zugesehen, wie die Zahl der Arbeitslosen anschwillt, hat tatenlos auf den Aufschwung gewartet - und wartet immer noch.

So hatten es die Sozialdemokraten leicht mit ihrer Behauptung, der Kanzler stehe, indem er nur die Redseligkeit seiner Mitstreiter moderiere, einer »Tunix-Regierung« (Horst Ehmke) vor.

Auch Christdemokraten haben es gemerkt: »Es gab einen Denkzettel wegen enttäuschter Erwartungen«, so Fraktionschef Dregger. Die Wähler haben den Schwachpunkt der Koalition offengelegt: Sie erhoffen von dem Regierungswechsel eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme und müssen jetzt feststellen, daß die Wende zum Besseren ausbleibt.

Lange konnte Kohl seine mangelnde Kompetenz auf diesem Gebiet überspielen, weil er sich erklärtermaßen als »Generalist« verstand; fürs Besondere, so glaubt er schon lange, hat er seine Leute. Allmählich wird erkennbar, daß es den Mann in der Regierung gar nicht gibt, dem Kompetenz zuzutrauen ist: Nicht einmal ein Konzept ist weit und breit zu sehen.

Finanzminister Gerhard Stoltenberg ist fixiert aufs Sparen, aber, krittelt Hoppe: »Das Regieren darf sich nicht erschöpfen im Sparen.« Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff ist, so das allgemeine Urteil unter seinen Kollegen, »ausgebrannt«. Und Arbeitsminister Norbert Blüm hat sich vom Sparkommissar Stoltenberg zuviel abhandeln lassen.

Will Kohl wirklich den bisherigen Kurs fortsetzen? Also weiterwursteln?

Genscher fürchtet das wohl. Letzte Woche in der FDP-Vorstandssitzung sorgte er sich, der Kanzler werde die falschen Weichen stellen: Um die Wählerwanderung zur SPD zu stoppen, könnte er stärker die Interessen der Arbeitnehmer bedienen und weitere Einschnitte in den Sozialetat ablehnen. Die Liberalen müßten aufpassen, mahnte der FDP-Vorsitzende, »daß die Union nicht zu wackeln beginnt«.

Damit sind die Konflikte da. Die Freidemokraten, die sich in Hessen als Partei rechts von der Union bestätigt sehen, werden die gesellschaftspolitische Wende einfordern; soziale Wohltaten, die sie selber in der Koalition mit der SPD verteilten, sollen wieder eingesammelt werden. Da müßte die Union, als Partei der rechten Mitte, ein wenig nach links rücken, um den Sozialdemokraten Stimmen abzujagen; dann aber kann die Sparpolitik nicht nach den Wünschen der FDP fortgesetzt oder verschärft werden. Dann müßten auch die von der FDP verteufelten staatlichen Hilfen anlaufen.

Schon jetzt wächst der Widerstand innerhalb der Union, auf deren linkem Flügel. Die Repräsentanten der Sozialausschüsse klagen in ihrer Zeitschrift »Soziale Ordnung« über das »Gezerre« und die »Orientierungslosigkeit« in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Und wie schon in der alten Koalition steht auch in der neuen Graf Lambsdorff mit seiner »Tatenlosigkeit« im Visier.

Nach Geißlers Analyse haben bei den Landtagswahlen die »Schlagworte von der sozialen Demontage« und von »einer Umverteilung von unten nach oben ein

Angstpotential« geweckt und gegen die Bonner Koalitionäre gewirkt. Und Kohls Regierungssprecher Peter Boenisch sieht es so: »Es sind nicht nur die Sozialausschüsse, die bremsen, sondern auch die Wähler.«

Bleibt die Wende stecken?

Die »Wende« macht auch dem Grafen Lambsdorff inzwischen nicht mehr so richtig Spaß. Vor Vertrauten nölt er über Kohls Regierungsstil und schwärmt von vergangenen - geordneten - Zeiten unter Helmut Schmidt. Da gebe es doch »gravierende« Unterschiede.

Früher sei im Kabinett über Probleme jedes Ressorts bis in die Details diskutiert worden. Und alle Kabinettsmitglieder hätten zu jeder Zeit wissen können, was im Haus der Kollegen vorgehe. Lambsdorff erscheint dies als »ganz wichtig und unverzichtbar«, schon deshalb, weil damals jeder Minister, wenn sein Problem im Kabinett besprochen war, des Rückhalts der gesamten Regierung sicher sein konnte.

Heute ist das anders. »Unmöglich« findet es der Wirtschaftsminister, daß Kohl »am laufenden Band« Kabinettssitzungen ausfallen lasse. Jetzt regiere, mault der Freidemokrat, jeder vor sich hin, »keiner weiß so recht, was der andere tut«.

Dem FDP-Haushaltsexperten Hans-Günter Hoppe geht »das Durcheinander im Kanzleramt« auf die Nerven. Kohl müsse endlich, darin weiß sich Hoppe mit Hans-Dietrich Genscher einig, sein Haus bestellen. »Sonst wird das hier eine reine Trödel-Veranstaltung«, da gebe es keinen, »der den Laden in Ordnung hält«.

Der Kanzleramtsminister Philipp Jenninger, so Hoppe, sei zwar ein netter Kerl, aber allein käme der auch nicht gegen das Chaos an. Den Staatsminister Friedrich Vogel, im Kanzleramt für die Verbindung zum Bundesrat zuständig, könne man vergessen, »das ist ''ne reine Leerstelle«.

Der Chef des Kanzleramtes, Staatssekretär Waldemar Schreckenberger, erinnert Hoppe fatal an den wegen nervlicher Belastung untergetauchten ehemaligen Berliner Bausenator Ulrich Rastemborski: »Der sieht doch inzwischen aus wie Rastemborski kurz vor dem Ausstieg.«

Ein CDU-Minister, der sich noch scheut, mit seinem Namen für seine Anmerkungen zu Kohl geradezustehen, vermißt »die große Linie, die gemeinsame große Idee, die uns alle mitreißt«. In der neuen Regierung sei »verdächtig früh der Alltag eingekehrt«.

Die CDU sitze, sagt er, auf der Regierungsbank, als sei dies ihr angestammter Platz, und denke darüber nach, »wie es nach zwölf, 16 Jahren Kanzlerschaft Kohl weitergehen soll«. Das sei gefährlich.

Politiker jedoch, die Helmut Kohl lange genug kennen, wundert das alles

nicht. Des Kanzlers Kohl oberstes Trachten richtet sich nicht darauf, ein großer Staatslenker zu sein, der die Deutschen heil durch schwere Zeiten wirtschaftlichen Umbruchs und weltweiter Krisen in eine gesicherte Zukunft lotst. Er will kein Führer sein, der sich im Kampf für seine besseren Einsichten und Ziele verzehrt.

Helmut Kohl geht es allein und zuerst um Helmut Kohl.

Das Kabinett ist nicht mehr im alten Rang. Kohl hat das so gewünscht.

Im Kanzleramt sind die Informations- und Entscheidungsstränge gestört, heißt das Büro Schreckenberger inzwischen intern »das Bermuda-Dreieck«, wo Vorlagen auf Nimmerwiedersehen verschwinden? Kohl läßt das kalt.

Der Regierung fehlt eine Leitidee, eine konkrete Utopie von der idealen Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik? Über derlei Schwarmgeistereien kann Kohl nur spotten.

Seine Machtposition in Bonn zu sichern und zu zementieren, sich auf Dauer einzurichten im Kanzleramt, das stand immer obenan im Jahre eins seiner Regentschaft. Wenn Staatsmannspose, der Habitus eines Volkskanzlers, der fähig ist auch zu selbstlosen, weil unpopulären Beschlüssen, der Stärkung seiner Macht dienen, auch gut. Doch stets geht ihm Eigennutz vor Gemeinnutz.

Rainer Barzel hat den Mann aus Oggersheim »ein Genie in Sachen eigener Karriere« genannt. Ein früherer französischer Botschafter in Bonn, ein erfahrener Bankier, sieht ihn ein paar Nummern kleiner: »Kein großer Mann, aber gerissen.«

Nach Ansicht von Dominikanerpater Basilius Streithofen aus Kloster Walberberg, einem geistlichen Wegbegleiter Kohls, ist er »der am meisten unterschätzte Politiker Bonns, ein eiskalter Mensch«.

Kohl ist beherrscht von Mißtrauen, zu jeder Zeit gegenüber jedermann. Auch nach einem Jahr Kanzlerschaft hat er diesen Wesenszug, der sich während seiner Leidenszeit in der Opposition ausgeprägt hat, nicht abzustreifen vermocht. Ebensowenig hat sich die Manie des so lange umstrittenen Kanzlerkandidaten verloren, überall Konkurrenten zu sehen, auch in engen Freunden.

Heiner Geißler ist ein Opfer dieses Ticks. Lange Zeit wurde er vom Kanzler der heimlichen Kollaboration mit Kohl-Gegenspieler Ernst Albrecht aus Niedersachsen verdächtigt. Heute ist der Generalsekretär und Familienminister zwar nach außen hin wieder beim Kanzler in Gunst; das alte Vertrauen aber hat sich nicht mehr eingestellt. Nun versucht Geißler mit rüden Attacken gegen die »Sozen« den Mentor zu erfreuen, und koste es ihn seinen guten Ruf als fortschrittlicher Vordenker in der CDU.

Ganz wenige nur läßt der Kanzler dicht an sich heran. Wichtigste Ratgeberin und Vertraute ist Juliane Weber, seit vielen Jahren in Kohls Vorzimmern, heute zentrale Figur im Vorhof der Macht. Dann, mit etwas Abstand, sind da die Berater Horst Teltschik und Eduard Ackermann. Teltschik gilt auch bei Profis als kenntnisreicher, urteilsfähiger Mann. Die Berufung des 43jährigen zum Leiter der außenpolitischen Abteilung des Kanzleramts fand keinen Kritiker.

Daß Kohl bisher in der Deutschland- und Außenpolitik kein Unheil angerichtet hat, sondern mit leichten Korrekturen auf dem Kurs von Vorgänger Helmut Schmidt geblieben ist, bei Auslandsauftritten sogar wider Erwarten gute Figur macht, daran hat Berater Teltschik wesentlichen Anteil.

»Ede« Ackermann, Leiter der Medien-Abteilung im Kanzleramt, ist Kohls eigentlicher Pressechef. Er hat weit mehr Bonn-Erfahrung als Kohl. Wegen seines freundlichen Auftretens auch bei Kohl-Gegnern geschätzt, vom Kanzler besser informiert als der amtliche Pressesprecher Peter Boenisch, versucht Ackermann, die Nachrichtengebung zugunsten Kohls zu steuern.

Boenisch hat es schwerer, eng an Kohl heranzukommen. Sein Selbstbewußtsein wird strapaziert, wenn er bei Ackermann Informationen einholen muß. Vor Freunden beklagt sich der Chef des Presseamtes dann, Kohl erzähle zu wenig über seine Regierungsgeschäfte, mehr zufällig lasse er mal beim Abendessen etwas heraus. Wie ein Reporter, so Peter Boenisch, müsse er in der Regierung herumrecherchieren, um überhaupt etwas an die Journalisten verkaufen zu können.

Zwar leiden auch Teltschik und Ackermann unter Kohls herrischem Umgangston. Die Freude

am Job aber haben sie noch nicht verloren. Der Chef des Bundespresseamtes hingegen hängt schon mal Gedanken über die Grenzen der Selbstachtung nach.

Wird Boenisch bockig, sieht sich Kohl in seinem Vorbehalt bestätigt. Etwa wenn der Regierungssprecher einen Sozialdemokraten zu seinem Referenten beruft und dabei noch über CDU-Leute im Presseamt herzieht: »Wer 13 Jahre auf den Machtwechsel wartet, wird auch nicht frischer.«

Kohls Küchenkabinett wird komplettiert durch Wolfgang Bergsdorf, Chef der Abteilung Inland im Bundespresseamt, früher Büroleiter Kohls in der Parteizentrale, und Schulfreund Schreckenberger. »Gell Schrecki, du warst der Klassenprimus bei mir, Politik mußt du noch lernen«, hatte der Kanzler vor Jahresfrist seinen Waldemar bei einem Abendplausch mit Journalisten in Washington vorgestellt.

Schrecki hat es immer noch nicht gelernt. In aller Stille ist hinter dem Rücken des Amtschefs ein Pannennotdienst eingerichtet worden. Die Abteilungsleiter wissen inzwischen, wann ein gezielter Hinweis bei Ackermann oder Teltschik fällig ist, damit wichtige und eilige Akten nicht mehr in der langsam arbeitenden Amtsspitze hängenbleiben.

Einen wirtschaftspolitischen Ackermann hat Kohl nicht. Der Regierungschef der drittgrößten Industrienation der westlichen Welt meint, obwohl selber in Sachen Wirtschaft und Finanzen nur gehobener Dilettant, auch ohne einen engen Berater für diesen Kernbereich künftiger Regierungspolitik auskommen zu können.

Da gibt es zwar einen versierten Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung des Kanzleramtes, den aus dem FDP-regierten Wirtschaftsministerium zugewanderten Georg Grimm. Aber in den innersten Zirkel bezieht Kohl ihn nicht ein, er mag diesem Lambsdorff-Mann gegenüber nicht rückhaltlos offen sein, gar Unwissen zugeben. Seine Kanzlerkompetenz soll nur ja nicht ins Gerede kommen.

Verstärkt wird Kohls Neigung zum Abschotten durch das Gefühl, er operiere auch jetzt noch in seiner Regierungszentrale wie auf vorgeschobenem Posten im Feindesland.

Das deutsche Beamtenrecht hat den Kanzler gehindert - abgesehen von den Abteilungsleitern, einigen Vertrauenssekretärinnen und einzelnen Referenten - seine Leute im Kanzleramt zu plazieren. Parteilose oder sozialdemokratische Staatsdiener im Kanzleramt aber sind ihm allemal verdächtig.

Die Dienstgeschäfte leiden darunter. Es gibt noch keine neuen Organisationspläne, kein aktuelles Telephonverzeichnis, nicht einmal einen korrekten Geschäftsverteilungsplan.

Vorbei die Zeiten, da die den Ministerien zugeordneten sogenannten Spiegelreferate des Kanzleramtes gezielt zur Kontrolle der Ressorts eingesetzt wurden. Vorlagen aus den Spiegelreferaten bleiben in Schreckenbergers Reich verschollen, falls sie überhaupt mal von dort angefordert werden.

Was Schreckenberger zu viel und zu langsam tut, tut sein Freund Kohl zuwenig. Wie in seinen Oppositionstagen scheut Helmut Kohl das Aktenlesen und mag sich auch als Kanzler nicht mit Einzelheiten komplizierter Vorgänge befassen.

Und wenn er dann noch im kleinen Kreis schwadroniert, er würde am liebsten wie einst in Mainz die Kopfzahl seiner Regierungszentrale um zwei Drittel reduzieren, dann macht das schnell die Runde im Kanzleramt und hebt weder Stimmung noch Arbeitseifer. Selbst der Obmann der CDU-Betriebsgruppe Hermann Schmitz-Wenzel hat erkannt: »Die Motivation im Hause ist generell am Bröckeln.«

Sogar arbeitsökonomisch vernünftige Entscheidungen, wie die, nur einen Protokollanten für die Kabinettssitzungen zu bestellen, geraten so ins Zwielicht. Bisher war es Praxis, das Protokoll der Kabinettssitzungen abwechselnd von Mitarbeitern der sechs Abteilungen des Kanzleramtes führen zu lassen.

Das allzeit wache Mißtrauen verrät viel über die Unsicherheit des neuen Mannes an der Spitze, mehr noch seinen Drang, Herrschaftswissen zu horten. Kohl geizt mit Informationen. Als erfahrener Praktiker weiß er genau, daß sich

so am besten Kompetenzmängel vernebeln lassen.

Über Telephon oder in zahllosen Einzelgesprächen sucht er Einfluß zu nehmen, Neuigkeiten zu erfahren. Seinen Terminkalender führt er selbst, berichtet ein Mitarbeiter, »das ist sein Heiligtum«. Was er von seinen Gesprächspartnern hört und mit ihnen verabredet, das alles behält er am liebsten für sich. Hauptsache, er weiß Bescheid.

Daß solcher Stil einen geordneten Regierungsbetrieb hemmt, kümmert ihn kaum. »Der Mann arbeitet ohne System, das ist schrecklich«, klagt einer aus dem Küchenkabinett. Was wann und wie im Zusammenspiel von Kanzleramt, Koalitionsfraktionen und eigener Partei ablaufen solle, da regiere zu oft der Zufall.

Zuarbeiter murren, weil sie wegen Kohls Arbeitsweise nie so genau wissen, wann sie zum Vortrag bestellt werden, wie ausführlich sie vortragen sollen. So sind sie manchmal nicht vorbereitet. Doch das kann der Kanzler nicht leiden. Dann wird er grob.

Wie fest der Kanzler auf seinen Informationen sitzt, das ärgert auch die Abgeordneten der Union. Mit Fraktionschef Alfred Dregger, der noch vor kurzem aus seiner Geringschätzung für Kohl kein Geheimnis machte, steht der Kanzler ohnehin nicht gut. Auch eine Aussprache in Dreggers Wohnung hat daran nichts geändert.

Kohls Vertrauensmann in der Fraktion ist der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Wolfgang Schäuble. Der erfährt schon mehr, aber auch nicht genug, um den Abgeordneten ein Gefühl von Wichtigkeit zu vermitteln.

Die Parlamentarier sind ernüchtert über die Rolle, die sie in der Regierungsfraktion spielen müssen. Die große Linie, die Einzelheiten über das Walten und Schalten ihres Kanzlers entnehmen sie der Tagespresse. Für sie heißt es nur noch: Mund zu, Arm hoch.

Der Kanzler hat auch das Kabinett bewußt herabgestuft. Unter Helmut Schmidt war die Mittwochsitzung des Gremiums noch die zentrale Veranstaltung der politischen Woche in Bonn, das Forum, in dem die Lage im Großen wie im Kleinen besprochen wurde, in dem Minister und Kanzler Kontroversen am gemeinsamen Tisch austrugen. Wenn dringende Termine dazwischenkamen, etwa eine wichtige Bundestagsdebatte, dann verlegte Kohls Vorgänger die Kabinettssitzung eben ins Bundeshaus.

Nun fallen Kabinettssitzungen aus, mal weil gerade Urlaub ist, mal weil Kohl sich mit Strauß verabredet hat, mal weil es »keinen Entscheidungsbedarf gibt, wie das jetzt bei uns so schön heißt« (ein Staatssekretär).

Um sich selber zu erhöhen, hat Kohl das Kabinett absacken lassen. Seit dem Amtsantritt der neuen Regierung hat es noch keine einzige große politische Aussprache

im Kabinett gegeben, weder zur Strategie der Koalition noch zur Rüstung noch zur künftigen Ost-Politik.

Gelegenheit dazu böten regelmäßig die Tagesordnungspunkte »Internationale Lage« und »Verschiedenes«. Doch da, so ein Kohl-Helfer, melde sich ja keiner der Minister zu Wort, um eine große Diskussion zu erzwingen.

Kein Wunder. Alle wissen, daß der Kanzler solche Extratouren nicht schätzt. Mancher in der Ministerrunde glaubt die Gründe zu kennen: Kohl scheue die frei geführte Aussprache, es könnten sich allzu leicht Wissenslücken offenbaren.

Nein, im Kabinett mag der Kanzler die Dinge nicht außer Kontrolle geraten lassen. Die meisten Beschlüsse klärt er vorher ab, mit den Ressorts, in Koalitionsgesprächen, im CDU-Präsidium, mit den Ministerpräsidenten der CDUregierten Länder. Das Kabinett hat dann, wie ein Notariat, die vorgeformten Entscheidungen zu bestätigen.

Zuweilen belebt der Chef die dröge Atmosphäre mit Späßchen - auf Kosten anderer, wie es seine Art ist.

Wenn er vom Verteidigungsminister eine Stellungnahme zu Beschwerden eines wehrpflichtigen Kohl-Sohnes verlangt und Manfred Wörner dann nichts Rechtes zu antworten weiß, das findet der kanzler komisch. Oder er führt Friedrich Zimmermann vor, weil der Innenminister nicht aus dem Stand die Gebühren für einen Reisepaß nennen kann.

Kohls Kabinett ist kein Team - der Kanzler legt keinen Wert darauf. Die Herren und die eine Dame sitzen nebeneinander und wickeln geschäftsmäßig ab.

Zwar versucht Kohl seine Erfolgsmasche aus Mainz auf Bonn zu übertragen. Als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident gefiel er sich in der Rolle eines Kabinettschefs, der besonders gute Leute um sich scharte und die Minister neben sich glänzen ließ.

Aber in Bonn klappt das nicht so recht. Wenn er seinen Ministern lange Leine läßt, gibt es leicht Durcheinander. Anders als in Mainz kann in Bonn kaum ein Ressortherr nach eigenem Gutdünken regieren. Die Zuständigkeiten sind verflochten. Finanz-, Verfassungs-, Wirtschafts- oder Justizminister haben bei Vorhaben anderer Ressorts mitzureden.

Hinzu kommt die Zwietracht zwischen CSU und FDP. Statt zum Ruhme des Kanzlers beizutragen, hacken Friedrich Zimmermann, Otto Graf Lambsdorff, Hans Engelhard aufeinander, keilt Heiner Geißler aus. Kohl, so sieht es dann aus, kann sein Haus nicht in Ordnung halten.

Wenn überhaupt, dann funktioniert das Mainzer Modell nur bei dem Dreigespann aus Wirtschafts-, Finanz- und Sozialminister, das sich als sogenanntes Kernkabinett etabliert hat. Aber auch

dieses sachverständige Trio mehrt nur bedingt des Kanzlers Meriten.

An Graf Lambsdorffs Qualitäten gibt es mittlerweile starken Zweifel: Franz Josef Strauß hat dem Wirtschaftsminister wegen der Stahl-, Werften- und Kohle-Krise Versagen im Amt vorgeworfen.

Sozialminister Norbert Blüm ist seinen Anhängern in den CDU-Sozialausschüssen längst suspekt geworden. Ihnen mißfällt, daß Blüm bereitwillig mithilft, den Etat auf Kosten der kleinen Leute zu sanieren.

Auch Finanzminister Gerhard Stoltenberg ist mit seinen Sparkünsten ins Gerede gekommen. Was er sich alles zum Ausgleich des Bundeshaushaltes ''84 hat einfallen lassen, kennen Experten noch aus SPD-Regierungszeiten. Die Genossen hatten mit ähnlichen Tricks vorgegaukelt, die Staatsfinanzen seien in Ordnung.

Des Kanzlers Kalkulation geht nicht auf: Von den Erfolgen seiner Minister will er profitieren, Mißerfolge aber den einzelnen Ressortchefs ankreiden. Doch die Wähler in Hessen und Bremen haben da keine großen Unterschiede gemacht.

Ein Jahr lang hat Kohl so die Regierungsgeschäfte mehr moderiert als geführt. Vom Schwung der ersten Tage ließ er sich hochtragen, hat die Macht körperlich genossen.

Noch kostet Kohl sein Glück aus: Der Sieger vom 6. März weiß die CDU geschlossen wie nie hinter sich. Der Koalitionspartner FDP muß in Treue fest an seiner Seite bleiben, lange Zeit können sich die Liberalen keinen neuen Wechsel leisten.

Milliarden-Strauß, der Partner von SED-Chef Erich Honecker, ist nach seiner Wende in der Ost-Politik vollauf damit beschäftigt, sich beim eigenen Parteivolk wieder Autorität zu verschaffen. Für Störmanöver gegen Helmut Kohl ist der CSU-Vorsitzende erst mal zu schwach.

Die Bonner sorgen dafür, daß es so bleibt. Genüßlich lassen Kohls Mitarbeiter weitere Einzelheiten, die ihnen aus Ost-Berlin zugetragen werden, über die Strauß-Reise in der DDR heraus:

Beim Treffen auf Schloß Hubertusstock habe Honecker einen Herrn in seiner Begleitung gehabt, dessen Name Strauß nicht geläufig gewesen und der ihm dann bei der Unterhaltung auch nicht weiter aufgefallen sei.

Der Unbekannte, ein Internist, war von der DDR-Führung beauftragt, die Gesundheit des Besuchers zu begutachten. Seine Diagnose: »Hochgradig sklerotisch.«

Ohne den angeblich verkalkten CSU-Boß beim Namen zu nennen, habe Honecker später dann, streuten Kohl-Getreue, bei einem anderen Ost-Besucher über den Einfädler gelästert: Den Milliardenkredit habe die DDR ohne viel eigenes Zutun erhalten, man sei zu dem Geld gekommen, »wie die Jungfrau zum Kind«.

In Bonn achtet Kohl sorgsam darauf, daß die Entfremdung zwischen CSU-Landesgruppe und Münchner Parteiführung fortschreitet. Mag Zimmermann in der Asyl- oder in der Sicherheitspolitik auf noch so strammen Rechtskurs gehen, vom Kanzler kommt kein böses Wort. Kohl stellt sich gut mit dem Innenminister, in ihm sieht er den Mann nach Strauß, den Politiker mit den besten Chancen, nächster CSU-Vorsitzender zu werden.

Die SPD, glaubt Kohl, sei noch lange mit sich selber beschäftigt, mit dem Wechsel in der Führungsgeneration, mit Flügelkämpfen um den künftigen Kurs. Und Geißler hat ihm eingeredet, daß die Gewerkschaften, die Hauptverbündeten der SPD, zahm bleiben, so habe die Arbeitslosigkeit auch eine gute Seite für den Kanzler.

Kohl wiegt sich in der Sicherheit, daß er noch viel Zeit vor sich hat, seine Aufgaben zu erledigen. Das erste Jahr habe er im wesentlichen dazu nutzen müssen, verkündet er überall, »um in der Außenpolitik Schutt wegzuräumen«. Jetzt wolle er sich der Wirtschafts- und Sozialpolitik widmen, da sei »Kanzlerkompetenz gefragt«.

Doch dabei helfen, auch das hat ihm Geißler erzählt, keine Mätzchen mehr.

Gefragt ist nicht ein Kanzler, der am liebsten die Verantwortung von sich weg auf möglichst viele andere verteilt. Gefragt ist ein Staatsmann, der von Wirtschaft etwas versteht, der einen Weg weiß durch die Weltwirtschaftskrise, der Konzepte hat gegen die Umweltzerstörung, der mit dem Strukturwandel in der Industrie fertig wird.

Lange kann sich Kohl nicht mehr um Entscheidungen herummogeln. Nach dem schlechten Abschneiden der Christdemokraten bei den Landtagswahlen in Hessen und Bremen erwarten die eigenen Parteifreunde von ihrem Kanzler klaren Kurs.

Dazu sei nötig, fordert ein CDU-Präsidiumsmitglied, daß Kohl endlich Pläne vorlege, wie Kohle-, Werften- und Stahlkrise überwunden werden sollen, wie Bonn die Finanznot der Europäischen Gemeinschaft bewältigen will, was gegen

die Jugendarbeitslosigkeit unternommen wird. Der Präside: »Kohl muß jetzt sagen, das wird erstens, zweitens, drittens gemacht, und dann fliegen die Fetzen.«

Bisher ließ der Kanzler alles treiben. Beispiel EG: Die Bonner, 1982 mit fünf Milliarden Mark größter Nettozahler der Gemeinschaft, versäumten es, die Diskussion über die Begrenzung der Milliardenausgaben für den Agrarmarkt anzuführen. Statt dessen überließen die Deutschen den Briten und Franzosen, ihre Vorstellungen voranzubringen. Obendrein sind die Bonner Minister uneins: »Sie reden mit verschiedenen Zungen«, freut sich ein französischer EG-Diplomat, »und sie geben sich noch nicht einmal Mühe, ihre Gegensätze zu verdecken.«

Als die EG-Kommission vor kurzem ihre Sparpläne für die teure Agrarpolitik vorlegte, kritisierte Finanzminister Stoltenberg, das Konzept bewege sich »an der unteren Grenze des Erforderlichen«. Dem christsozialen Bauernminister Ignaz Kiechle dagegen gingen die Vorschläge viel zu weit.

Helmut Kohl hatte die beiden zuvor zum Gespräch geladen und gebeten, sie sollten sich doch einigen. Zur Sache selbst hatte er nichts zu sagen. Beide Minister glaubten hinterher, der Kanzler decke ihre Politik.

Erfahrene Europa-Unterhändler wissen, an wen sie sich halten müssen, wenn sie Bonner Quellen anzapfen wollen. »Der Herr Genscher«, so ein EG-Botschafter, »sagt ungern nein, weil er mit jedermann gut Freund sein möchte.«

Der Außenminister hat sich damit abgefunden, daß die leeren EG-Kassen schnell wieder aufgefüllt werden müssen - vor allem mit D-Mark aus Bonn. Die Beamten des Finanzministers dagegen hoffen immer noch, sie könnten die fällige Erhöhung der deutschen Zahlungen an die EG in ferne Zukunft verschieben. Ihr Argument: Das vorhandene Geld reiche noch lange, wenn nur hart genug gespart werde.

Kanzler Kohl, der Unentschlossene, neigt dazu, beiden recht zu geben.

Erschrocken las Genscher vorletzte Woche die Papiere, die Stoltenbergs Experten für die Brüsseler Ratssitzung aufgeschrieben hatten. Darin wurden, so ein Genscher-Mitarbeiter, »Positionen wiederholt, die wir längst aufgegeben haben«. Eine Abstimmung zwischen Außen- und Finanzminister hatte es vorher nicht gegeben.

Hilflos ist Wirtschaftslaie Helmut Kohl dem Vortrag kompetenter Gesprächspartner ausgeliefert. Weil er kein eigenes Urteil hat, gibt er politischem Druck nach.

Als Stoltenberg vorletzte Woche zur Konferenz des Internationalen Währungsfonds nach Washington abreiste, glaubte er sich mit dem Kanzler einig, daß die Bonner Finanzhilfe für die Zechen bestimmte Grenzen nicht überschreiten dürfe - die Kohle-Lobbyisten fordern zusätzliche drei Milliarden Mark für die nächsten beiden Jahre. Doch dann änderte sich innerhalb weniger Tage Kohls Meinung: Nun, nach den Landtagswahlen und ma ssiven Protesten der Arbeitnehmer, war er plötzlich bereit, mehr Subventionen herauszurücken.

In einem Koalitionsgespräch am Montag voriger Woche vereinbarten die Regierungen, in Abwesenheit des Finanzministers, dann großzügigere Hilfen für den Kohle-Bergbau. Stoltenbergs Beamte alarmierten ihren Chef in Amerika. Auf Drängen des Finanzministers mußte die für Donnerstag letzter Woche geplante Konferenz über die Problem-Branche verschoben werden.

Kohl wollte ein Kanzler sein, der - berechenbar für jeden - klare Entscheidungen trifft und zu ihnen steht.

Kohl ist ein Kanzler, der schwierige Entscheidungen scheut oder gar getroffene Beschlüsse widerruft.

So war im Kabinett schon festgezurrt, die Prämien für die Exportversicherung Hermes, die politische und wirtschaftliche Risiken bei Geschäften mit dem Ausland abdeckt, um 40 Prozent anzuheben, sonst hätte der Finanzminister draufzahlen müssen.

Doch kurz bevor die Anhebung zum 1. Oktober wirksam wurde, klagte Kohls Freund Alfred Herrhausen vom Vorstand der Deutschen Bank dem Kanzler, wie sehr eine Prämien-Erhöhung die Exportwirtschaft gerade in dieser Phase des Welthandels schmerze. Kohl sah das ein, die Sache wurde vertagt.

Mal neigt sich der Kanzler denen zu, die Lambsdorffs straffe Unternehmerpolitik wollen, mal jenen, die, wie der baden-württembergische CDU-Ministerpräsident Lothar Späth, einen sozialen Ausgleich für den Sparkurs fordern. Ergebnis: Beide Seiten sind mit Kohls Führungskunst unzufrieden.

Die Christdemokraten bekommen es in ihren Wahlkreisen zu spüren. Bei einem Empfang des Kölner Pharma-Fabrikanten Wolfgang Schwarzhaupt wollte der Hausherr vom Ehrengast, dem rheinischen CDU-Vorsitzenden Bernhard Worms, wissen: »Hat die Regierung die Wende schlicht verschlafen?« Er jedenfalls, so Schwarzhaupt, habe die Wende noch nicht bemerkt. Offensichtlich hätten die Unternehmer zuviel erwartet, es fehle ein wirtschaftspolitisches Konzept der Union.

Solchen Zweiflern verspricht Kohl immer noch, es werde weiter gespart, die

Investitionskraft der Unternehmer gestärkt. Dem FDP-Fraktionsvize Hoppe aber reicht das nicht. »Kohl muß die Frage beantworten«, meint er, »was willst du, Bundeskanzler, mit dem Handlungsspielraum anfangen, den du durch die Sparerei gewinnst?«

Da aber fehlt die Antwort. Zwar wissen Kohl-Mitarbeiter inzwischen genau, was ihr Chef leisten müßte: Programme auf den Weg bringen für die Krisenbranchen Kohle, Stahl und Werften, Programme, die sich nicht darin erschöpfen, einige Milliarden Mark anzubieten und auf die Lösungsvorschläge der Unternehmen zu warten.

Doch wer liefert dem Kanzler das Konzept? Seinem FDP-Wirtschaftsminister Lambsdorff sind staatliche Eingriffe zuwider, sein CDU-Finanzminister Stoltenberg will weitere Staatshilfen nicht finanzieren.

Christdemokraten wie Geißler, Dregger oder Späth erwarten zudem Taten, die den deutschen Facharbeitern beweisen sollen, daß sie sich bei der Bundestagswahl zu Recht für die Union entschieden haben. Sie fordern Steuererleichterungen für die Masse der Lohnsteuerzahler, vor allem aber Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Lage der Familien.

Auch das leuchtet dem Kanzler ein.

Zur Zeit unterstützt er kostspielige Pläne, das von seinem Kabinett zuvor gekürzte Mutterschaftsgeld wieder aufzubessern. Er will, so ein anderes Vorhaben, die Werkstätten von Pleitefirmen auf Staatskosten weiterführen, um zusätzliche Lehrstellen zu schaffen. Selbst eine Idee Späths, das Weihnachtsgeld im öffentlichen Dienst zu kürzen und mit dem eingesparten Geld neue Stellen zu schaffen, findet Kohl derzeit nicht übel.

Damit beschert sich der Kanzler ein neues Dilemma: Subventionen für Krisenbranchen, staatliche Ausbildungsprogramme, höhere Sozialausgaben - das paßt nicht zur Wende-Ideologie, die mehr Freiheit für Unternehmer und weniger staatliche Eingriffe versprach.

Da Kohl aber keine Vorstellung davon hat, wie es mit der Industriegesellschaft unter ökonomischen und ökologischen Zwängen weitergehen soll, weiß er auch nicht, wie er dem Publikum diesen Widerspruch erklären soll.

So sieht es wohl auch CDU-Generalsekretär Geißler. Er bereitet für nächstes Frühjahr unter dem Arbeitstitel »Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft an der Schwelle der dritten industriellen Revolution« einen Parteitag vor, der Kohl auf die Sprünge helfen soll.

Nach dem Grundgesetz fällt dem Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz für die deutsche Politik zu. Und genau das vermissen Kohls eigene Parteifreunde: Richtung, Linie und Kompetenz.

Am 27. September, nach den Wahlen in Hessen und Bremen, mitUnionsfreunden in der Sitzung der Bundestagsfraktion.

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