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Kohl: »Ich kann nicht anders«

Noch eine Galgenfrist für Kohl. Der Eintritt von CSU-Chef Waigel ins Kabinett bei einem sonst mißglückten Revirement verschafft dem Kanzler Luft, schwächt aber die Position der CDU. Die Kanzlerdemontage wird fortgesetzt, wenn Kohl die Europa-Wahl im Juni verliert: Er schaffte es nicht, die Rivalen Geißler und Späth einzubinden.
aus DER SPIEGEL 16/1989

Im fernen Tel Aviv erhielt Verteidigungsminister Rupert Scholz Anfang letzter Woche einen Anruf von Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble: Gleich nach Rückkehr von seiner Dienstreise möge Scholz doch mal zum Kanzler kommen.

Der Herr der Hardthöhe tat, wie ihm geheißen, und eilte ohne Arg am Mittwoch abend ins Kanzleramt. Daß ihn Helmut Kohl nach erst elf Monaten Amtszeit feuern könnte, ohne ein einziges Mal vorher mit ihm gesprochen zu haben, das konnte sich Scholz nicht vorstellen, obwohl in der Presse solche Hinweise aufgetaucht waren. Hatte nicht der Kanzler die Berufung des Professors als großen Gewinn für die Regierung gefeiert und damals zugesichert, daß er den Kabinettsposten »auf Dauer« haben könne?

»Wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, so Scholz später zu Vertrauten, traf ihn dann Kohls Mitteilung, er werde entlassen. Der Kanzler habe sich gewunden, das Ganze sei »keine schöne Sache«, tue ihm »schrecklich leid«, aber er stecke in der Klemme: »Ich kann nicht anders.«

Er müsse den CSU-Chef Theo Waigel zum Finanzminister machen, legte Kohl dar, sonst wäre alles am Ende. Und er könne sich »nicht erlauben«, Gerhard Stoltenberg fallenzulassen. Für den Finanzminister, Mitglied des CDU-Präsidiums und in der Partei immer noch gut angesehen, brauche er einen angemessenen Posten; da komme nur das Verteidigungsministerium in Betracht.

Ob Scholz sich vielleicht eine andere Verwendung in der Regierung vorstellen könne, fragte Kohl, wurde aber nicht konkret. Sein Gesprächspartner schlug tief gekränkt eine Weiterverwendung in Kohls Diensten aus. Er sei dem Ruf zum Verteidigungsminister gefolgt und nun »an nichts anderem interessiert«. Er werde auf seinen Staatsrechts-Lehrstuhl in München zurückkehren.

Der Kanzler - mehr ein Getriebener denn ein Treibender. Helmut Kohl hatte nicht mehr die Kraft zum großen Befreiungsschlag, zu einem Neuanfang für die Bonner Koalition nach der Kette schwerer Wahlniederlagen.

Die neue Regierung zeigt, abgesehen von einer Kabinettsnovizin namens Gerda Hasselfeldt (CSU) für den Wohnungsbau, sattsam bekannte graue Figuren, einige bloß in anderen Kleidern.

Finanzminister Stoltenberg, der das »Jahrhundertwerk« der Steuerreform zerreden ließ, wich Theo Waigel und grüßt nun als Verteidigungschef, obwohl ihn Bundeswehr und Sicherheitspolitik nie interessierten. Wolfgang Schäuble wechselt ins Innenressort, heilfroh, das Durcheinander im Kanzleramt dem bisherigen Fraktionsgeschäftsführer Rudolf Seiters überlassen zu können. Drei CSU-Minister vor neuen Aufgaben: Friedrich Zimmermann, bisher Innen, übernimmt das Verkehrsressort von Jürgen Warnke, der den zum Presseminister berufenen Entwicklungshilfeminister Hans Klein ersetzt.

Das war's. Selbst die regierungsfromme »Frankfurter Allgemeine Zeitung« sah sich an die sinnlose Postenschieberei in der Endphase der letzten sozialliberalen Regierung unter Helmut Schmidt erinnert. Die Klärung aller Sachkonflikte - etwa bei der Abrüstung, der Wehrdienstverlängerung, der Quellensteuer oder im Ausländerrecht - wurde verschoben. Kohl sprang zu kurz.

Ausgelacht wurde der Kanzler, als er am vergangenen Donnerstag den Bonner Journalisten sein Werk als »eine der bedeutendsten und gewichtigsten Regierungsumbildungen in der 40jährigen Geschichte der Bundesrepublik« anpries.

Heiterkeit auch im FDP-Präsidium tags zuvor. Hans-Dietrich Genscher über Kohls neuen Verkehrsminister, den konservativen Zimmermann: »Von jetzt an werden nur noch Straßen mit Rechtskurven gebaut.« Und in der CDU/CSU-Fraktionsspitze hieß das Ganze »Doktor Kohls Wuselkabinett«.

Es zehrt an Kohls Ruf, wie er den Pressionen der CSU nachgab: Mehr denn je auf Wohlwollen aus Bayern angewiesen, mußte er den CSU-Parteichef zum Finanzminister machen. Als das erst mal publik war, zierte sich Waigel plötzlich - und setzte den Kanzler so unter Druck, daß am Schluß die große Schwester CDU als Verliererin dastand.

Aus München war nach Bonn lanciert worden, starke Kräfte der CSU lehnten einen Beitritt Waigels in das ohnehin dem Untergang entgegentrudelnde Kabinett strikt ab, weil sie die Chance zu einem wirklichen Neuanfang unter einem anderen Kanzler, etwa Lothar Späth, offenhalten wollten. Waigels Einbindung in ein Kohl-Kabinett würde zudem eine womöglich doch nötige bundesweite Ausdehnung der CSU - intern »Operation Schnauzbart« - verbauen.

Kohl bangte tatsächlich, Waigel könne Ernst machen und sich seinem Werben entziehen. Der CSU-Chef hätte dabei auf das Beispiel Heiner Geißlers verweisen können, der ein Regierungsamt unter Kohl öffentlich ablehnte, nachdem der seinem Generalsekretär das Verteidigungs- oder das Innenministerium zur freien Auswahl angeboten hatte. Nach mehreren Telephonaten mit dem Kohl-Rivalen Späth, zuletzt am Montag vormittag, entschied sich Geißler, auf dem Posten im Konrad-Adenauer-Haus den weiteren Niedergang Kohls zu verfolgen - eine Kriegserklärung.

Auch Waigel hatte sich noch am Montag telephonisch mit Späth über eine Erneuerung der Regierung an Haupt und Gliedern ausgetauscht, ohne allerdings ernstlich daran zu denken, Kohl einen Korb zu geben. Der CSU-Chef wollte auf keinen Fall als Schuldiger für ein vorzeitiges Ende der Kohl-Kanzlerschaft gelten.

Zudem reizt ihn die Würde des Bundesfinanzministers. Er steht protokollarisch endlich auf der gleichen Ebene mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Max Streibl, seinem Gegenspieler in der CSU-Führung. Wenn die Delegierten des CSU-Parteitags im November ihren Vorsitzenden zu wählen haben, will er ihnen vorweisen, was er alles für die CSU in Bonn erreicht hat - neuen Einfluß, neue Ministerien.

Bitter für die CDU, wie sich ihr Kanzler von der CSU über den Tisch ziehen ließ. Die größte der drei Regierungsparteien mußte den nach dem Kanzler wichtigsten Posten - der Finanzminister hat ein Veto-Recht bei allen ausgabewirksamen Beschlüssen - eintauschen gegen das spröde Amt des Innenministers. Waigel könne, klagte ein CDU-Präsidiumsmitglied, »jetzt ein paar Schönheitsreparaturen an der Steuerreform machen und dann im nächsten Jahr, wenn die Steuererleichterungen fällig sind, die Popularitätsfrüchte einheimsen«.

Kühl lehnten die Christsozialen Kohls Bitte ab, als Ausgleich für die fette Beute des Finanzministeriums auch noch das Verkehrsministerium oder wenigstens das bisher von CSU-Mann Oscar Schneider mehr schlecht als recht geführte Wohnungsbauministerium abzugeben. Besonders peinlich für Kohl: Im Vertrauen darauf, die CSU werde das Wohnungsressort herausrücken, hatte er bereits den CDU-Abgeordneten und Wirtschaftsexperten Matthias Wissmann gefragt, ob er Minister werden wolle. Wissmann sagte zu.

Am Mittwoch morgen dann bat Kohl den Abgeordneten dringend zu sich. Leider, leider werde es nun doch nichts mit dem Ministeramt. Ob Wissmann zum Ausgleich den Job eines Parlamentarischen Staatssekretärs im Entwicklungsministerium haben wolle? Wissmann, kein Freund Kohls, lehnte ab und empfahl, den wohldotierten Posten seinem baden-württembergischen Landsmann Hans-Peter Repnik zu geben, der dankend annahm.

Die CSU knöpfte der CDU das Amt des Regierungssprechers ab und setzte durch, daß ihr Medienprofi Hans Klein im Ministerrang, mit Sitz und Stimme im Kabinett, die Propagandazentrale mitsamt ihrem Etat (1989: 223 Millionen Mark) in die Hand bekommt. Die CDU stellt nun keinen Sprecher mehr im Presseamt, Kleins Stellvertreter sind Freidemokrat Herbert Schmülling und CSU-Mann Norbert Schäfer.

Wichtiger noch: Durch Klein hat die CSU erstmals auch Auge und Ohr im engsten Beraterkreis des Küchenkabinetts. Daß der Kanzler in Friedhelm Ost, dem beschränkt begabten bisherigen Regierungssprecher, einen seiner Getreuen feuern mußte, paßt gar nicht - sowenig wie die Entlassung von Scholz - zu seinem gern von ihm gepflegten Ruf, er lasse keinen Freund im Regen stehen. Ost würde gerne Chef der Hessischen Landesbank, was dem Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl nicht gefällt, oder Intendant der Deutschen Welle, wo er, so Kohls Staatsminister Lutz Stavenhagen, »gute Chancen« hat.

Die Bilanz der Regierungsumbildung ist für die CDU demütigend. Die CSU konnte mit dem Presseamt die Zahl ihrer Minister auf sechs erhöhen und bewahrte die Versager Zimmermann und Warnke vor dem Rausschmiß; selbst der abgehalfterte Bauminister Schneider darf sich fortan mit dem Titel eines »Beraters für die Museumsbauten des Bundes« (Kohl) schmücken.

Der CSU-Chef hielt Zimmermann in der Regierung, weil er für die Förderung der eigenen Karriere eine Dankesschuld abzutragen hat. Ein anderer Posten für den nicht sehr arbeitsintensiven Bayern war nicht frei; CSU-Oldie Richard Stücklen weigerte sich, für Zimmermann das Amt des Parlamentsvizepräsidenten zu räumen.

Der andere kleine Koalitionspartner kam mit seinen vier Ministern ungeschoren durch, was FDP-Parteichef Otto Graf Lambsdorff flugs, allerdings fälschlich, als Beleg für die Klasse seines Personals wertete.

Die größte Koalitionspartei CDU hat unter ihren acht Ressorts die Problem-Ministerien wie Arbeit und Soziales, Innen oder Umweltschutz versammelt, in denen statt Lorbeer vornehmlich Ärger zu ernten ist.

Seine Beliebtheit in der eigenen Partei mehrt Kohl so nicht. Daß er sich nicht mehr blindlings auf den Mittelbau der Partei verlassen kann, bekam er zum Wochenbeginn zu spüren. Der Kanzler, der sich so gerne der Wertschätzung durch die unteren Würdenträger der CDU rühmt, hatte sich von einer Konferenz von 500 Kreisfunktionären Zuspruch in schweren Zeiten versprochen. Doch es kam ganz anders.

Nach einer matten Kanzler-Erklärung hielt ihm der Vorsitzende des CDU-Ostalbkreises, Georg Brunnhuber, vor: »Ihre Rede hat uns enttäuscht und ratlos gelassen. Wir hätten mehr Perspektiven erwartet. Wir haben diese Rede in dieser Form schon oft von Ihnen gehört.« Rauschender Beifall.

Und die Versammlung klatschte sogar, als der CDU-Kreisvorsitzende aus Gifhorn, Helmut Kuhlmann, einen Rücktritt forderte: »Mit neuerlichem Stühlerücken im Kabinett werden Sie das Steuer nicht herumreißen. Es muß einen ganz neuen Anfang geben. Sie haben Großes geleistet, aber jetzt können Sie Entscheidendes leisten, denn Sie sind zuallererst gefordert. Leisten Sie der Partei einen letzten Dienst.«

Kohl vorn am Vorstandstisch verzog keine Miene, niemand wies den Redner zurecht, auch Geißler nicht.

Statt, wie erhofft, zum Kohl-Festival geriet die Versammlung der 500 zu einer Kundgebung für Kohls Gegner Geißler. Mehrere Kreisvorsitzende verlangten vom Kanzler unter Applaus, Geißler nur ja beim Wahlparteitag im September wieder als Generalsekretär vorzuschlagen. Ralf Schoone, Kreisgeschäftsführer der CDU Wesermarsch, appellierte an Geißler: »Machen Sie weiter so, und lassen Sie sich nirgendwo hinschubsen. Sie sind der einzige, der der Partei Impulse gibt.« Geißler antwortete: »Ich werde es beherzigen.«

Daß es Kohl nicht vermochte, seinen Widersacher Geißler in die Kabinettsdisziplin einzubinden, empfanden die Liberalen als aufregendsten Teil des Revirements; unklar blieb ihnen, wie eine ansonsten alte Mannschaft dem Wähler einen Aufbruch in neue Zeiten verkünden könne. »Lauter neue Gesichter«, belustigte sich Bildungsminister Jürgen Möllemann über Kohls Alt-Herren-Mannschaft mit drei Damen.

Genscher rätselte, was hinter Geißlers Absage stecken mochte - eine Kampfansage? Hat der Vorsitzende dem General tatsächlich gedroht, er werde ihn auf dem Parteitag im September nicht zur Wiederwahl vorschlagen? Ein Präside: »Der Eindruck ist fatal.«

Verschnupft waren die FDP-Oberen wegen zweier Personalien. Sie forderten Kompensation dafür, daß die CSU künftig sechs Ministerämter besetzt, die Freidemokraten aber nur vier. So kam es, daß die CDU - und nicht die CSU - einen ihrer Parlamentarischen Staatssekretäre, im Wirtschaftsministerium, opfern mußte. Ludolf-Georg von Wartenberg muß dem Liberalen Klaus Beckmann weichen.

Gefährlicher erschien Genscher eine andere Kohl-Idee: Anstelle des glücklosen Kanzlergehilfen Waldemar Schreckenberger sollte der Widersacher des Außenministers, Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik, Staatssekretär werden. Damit hätte er endlich seinen langgehegten Wunsch erfüllt, den Rang eines Sicherheitsberaters: ein Affront, behaupten Genscher-Freunde, und deshalb chancenlos.

Erleichtert nahmen die Liberalen zur Kenntnis, daß von Vorbedingungen in der Sache für den Eintritt Waigels ins Kabinett plötzlich keine Rede mehr war. Nach dessen Ankündigungen hatten sie sich darauf eingestellt, daß die CSU dem Kanzler in der Außen- und speziell in der Ausländerpolitik Zusagen auf Kosten der FDP abnötigen wollte. Sie fürchteten einen Rechtsruck aus Angst vor den Republikanern.

Am Ende blieb fast alles offen - bis zur Regierungserklärung Ende des Monats, obwohl vor Ostern noch alles anders geklungen hatte. Kurskorrekturen, so wurde gleich im Protokoll des Präsidiums festgehalten, habe der Kanzler der FDP nicht abverlangt.

Nun stellten die Freidemokraten selber eine Liste mit eigenen Forderungen zusammen, die Lambsdorff, diesmal begleitet von Genscher, dem Kanzler vortrug, eine sogar ultimativ: In der Regierungserklärung müsse ein für allemal der Streit um die Modernisierung der Kurzstreckenraketen beendet werden - natürlich im Sinne Genschers. Solange dies nicht geregelt sei, stellte Lambsdorff klar, könne es »keine Vereidigung« der neuen Minister geben.

Die vom Warschauer Pakt letzte Woche vorgeschlagenen Verhandlungen über den Abbau der taktischen Atomwaffen sollen nach dem Wunsch des Außenministers parallel zu den Wiener Gesprächen über den Abbau konventioneller Streitkräfte laufen. Eine Entscheidung über die Stationierung von neuen Atomraketen kurzer Reichweite auf deutschem Boden soll nicht vor 1992 fallen, wenn die Ergebnisse von Wien bilanziert werden. »Die Sache«, glaubt Genscher, »ist auf gutem Wege.«

So wäre koalitionsintern ein gefährlicher Konfliktstoff entschärft. Ob sich die Bonner aber mit dieser Verzögerungstaktik in der westlichen Allianz durchsetzen können, bleibt zweifelhaft.

Letzten Mittwoch jedenfalls äußerte US-Präsident George Bush in einem Telephongespräch mit Kohl zwar Verständnis für dessen innenpolitische Nöte. Aber Bush pochte darauf, daß der Nato-Gipfel Ende Mai »im Grundsatz« ja zur Modernisierung sagen müsse. Ob und wann die danach zur Produktion freigegebenen Raketen in der Bundesrepublik aufgestellt würden, so Bush weiter, könnte später entschieden werden.

Für Genscher ist mit dem Wechsel auf der Hardthöhe eine Art Entspannung eingetreten: Scholz hatte sich als Gegenspieler des Außenministers gefühlt. War der bisherige Verteidigungsminister ein ehrgeiziger Eiferer, wird Nachfolger Stoltenberg Genschers Kreise weniger stören - hofft der Vizekanzler.

Die Liberalen, die sich im Januar nur widerwillig mit einer Verlängerung des Wehrdienstes um drei auf 18 Monate einverstanden erklärten, werden Verteidigungsminister Stoltenberg auf die Probe stellen und von ihm die Rücknahme des unpopulären Beschlusses fordern. Der sei ja, juxte Genscher unter Anspielung auf die Steuerreform, »für Senkungen ohnehin zuständig«.

Durch die Ablösung Zimmermanns aus dem Innenressort hat sich auch das Verhältnis der Koalitionsparteien leicht entkrampft. Der CSU-Mann, eine notorische Reizfigur für die FDP, hat allein schon durch seine schroffen Manieren über Jahre hin jede Verständigung blockiert. »Wenn schon kein Liberaler Innenminister wird«, meinte Widersacher Burkhard Hirsch, dann sei Zimmermann-Nachfolger Wolfgang Schäuble eine »sehr erfreuliche Lösung - wenigstens ein rational denkender Mann«.

In der Sache ist der Streit über Ausländerrecht und Datenschutz keineswegs erledigt. Da beharren die Liberalen wie eh auf ihren Positionen. Zur Lieblingsidee der Union, Asylsuchende schon an der Grenze abzuweisen, meint Hirsch lapidar: »Verfassungswidrig. Kommt überhaupt nicht in Frage.«

In der »ernstesten Lage, in der die FDP je war«, so Genscher im Präsidium, ist der kleine Partner für Kompromisse nur schwer zu gewinnen. Profil heißt die Parole, natürlich auch auf Kosten der Union, und da haben die Unterhändler dem Kanzler schon eingeheizt.

Das Beratungsgesetz zum Abtreibungsparagraphen 218, teilten sie dem Regierungschef mit, sei mit Freidemokraten in der vorgelegten Form nicht zu machen - dann lieber gar keins. Gemäß einer umwerfenden Erkenntnis Genschers ("Frauen entscheiden die Wahl") nahmen die Liberalen Sonderthemen für die Wählerinnen ins Angebot: Teilzeitarbeit für Frauen im öffentlichen Dienst, Maßnahmen für Wiedereingliederung ins Berufsleben, höheres Erziehungsgeld für Alleinerziehende und neue Mutterschutzregelungen.

Für den Umweltschutz präsentierten sie alte und neue Wünsche: Umwelt soll Grundrechtsschutz genießen, alternative Energien sollen stärker gefördert, die Atomanlage Wackersdorf in Frage gestellt werden (siehe Titelgeschichte Seite 22). Mit einem mittelfristigen Verkehrskonzept soll die Republik »in Richtung autofreie Stadt« (Umweltsprecher Gerhart Baum) fahren; der neue Verkehrsminister Zimmermann kann seine Händel mit der FDP fortsetzen.

Zu einem weiteren Koalitionskonflikt entwickelt sich das Erbe des einstigen Wirtschaftsministers und FDP-Chefs Martin Bangemann. Soll Bangemanns Nachfolger Helmut Haussmann die Fusion von Daimler-Benz und Messerschmitt-Bölkow-Blohm zum größten Rüstungskonzern nach der Ablehnung von Kartellamt und Monopolkommission mit Sondererlaubnis genehmigen? In der Spitze der FDP und an der Basis besteht dazu wenig Neigung (siehe Seite 119).

Die FDP möchte sich als Mittelstandspartei, nicht als Lobby der Großindustrie dem Wähler andienen. »Wenn Haussmann irgendwo als Mittelstandsminister auftritt«, meint Möllemann, »dann braucht immer nur einer zu schreien: Daimler - schon ist die Veranstaltung gelaufen.«

Solange die Sachfragen nicht geklärt sind, falls sie überhaupt lösbar sein sollten, entpuppt sich Kohls Befreiungsschlag als Schlag ins Wasser. Die Probleme bleiben die alten, und sie werden auch nicht wirklich gelöst, wenn die ärgsten Fehler Kohlscher Regierungskunst wieder rückgängig gemacht werden. Finanzminister Waigel etwa wird in kürzester Zeit belegen müssen, warum Stoltenberg zu gehen hatte.

Leicht wird das nicht. Zwar darf Waigel noch einen Haushalt, den des Wahljahres 1990, allein aufstellen und verantworten. Aber er, der wie Stoltenberg noch 1985 behauptet hatte, in wenigen Jahren könne die Neuverschuldung des Bundes auf rund 20 Milliarden Mark jährlich sinken, wird kräftig pumpen müssen. Auch Waigel kann keine weiteren Milliarden für zusätzliche Leistungen aus dem Hut zaubern.

Sein Regierungsprogramm besteht denn auch nur aus zwei Punkten: die Entschärfung der ungeliebten zehnprozentigen Quellensteuer auf Kapitalerträge und die Ankündigung einer großzügigen Steuererleichterung für Deutschlands Unternehmen, allerdings erst für die Zeit nach dem Wahltag 1990.

Schon die nächste Steuerschätzung im Mai verspricht zusätzliche Milliardeneinnahmen für dieses Jahr - Geld, das Theo Waigel für die beabsichtigten Korrekturen an der Quellensteuer zupaß kommt.

Sprudelnde Steuerquellen erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, daß die Steuerversprechen für Unternehmen (CSU-Forderung: 25 Milliarden Mark von 1992 bis 1994) verwirklicht werden können. »Da verspreche ich mir sehr viel von ihm«, freut sich FDP-Finanzexperte Hans Gattermann.

Wenn die Zeit noch reicht.

Der amtierende Kanzler Kohl gab sich nach seinem schwachen Coup aufgekratzt. Er meint, er habe sein Revirement wenigstens zeitlich bestens placiert. Rutscht die CDU bei der Europa-Wahl am 18. Juni und bei den Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz und im Saarland weiter nach unten, will er argumentieren, die Zeit nach der Kabinettsumbildung sei zu kurz gewesen, um den negativen Trend umzukehren. Kohls Schicksal hängt davon ab, wie tief seine Partei absackt; Demoskopen sagten ihr letzte Woche ein Minus von etwa zehn Prozent voraus.

Noch eine Galgenfrist für Kohl. Besonders tückisch ist die Aussicht, daß die Europa-Wähler am 18. Juni die CDU und ihren Kanzler abstrafen können, ohne befürchten zu müssen, damit sogleich in Bonn die Roten und die Grünen an die Macht zu bringen. Das CDU-Präsidium richtet sich darauf ein, so eines der Mitglieder, »daß es dann zur offenen Kanzlerdiskussion kommt«.

Kohl-Herausforderer Späth begibt sich langsam aus der Deckung. Auf dem Landesparteitag der CDU in Baden-Württemberg am 28./29. April soll es das erste offene Duell mit Kohl geben, der sich als Gastredner angesagt hat. Dann will der Parteivize in seiner Rede ein ganzes Bündel von Forderungen an die Bonner Politik für die kommenden Jahre präsentieren: Die Union und der Koalitionspartner FDP sollen wissen, was sie von einem Kanzler Späth zu erwarten haben und unter welchen Bedingungen er von Stuttgart an den Rhein wechseln würde.

Derweil beklagt Kohl die Undankbarkeit der Welt in einer Sprache, wie sie ihm gegeben ist. Im CDU-Bundesvorstand verbreitete er sich über das Problem, daß deutsche Wähler, denen es doch gut gehe wie nie zuvor, dies am Wahltag nicht honorieren wollten: »Die Wirklichkeit ist anders als die Realität.« #

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