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ERICH BÖHME Kohl ist ein ehrenwerter Mann

Kohl ist ein ehrenwerter Mann
Von Erich Böhme
aus DER SPIEGEL 9/1983

Seine Karriere, die ihn nach zehn Jahren strebenden Mühens ins Kanzleramt getragen hat, besticht nicht. Die Pfunde, mit denen er dort seit fünf Monaten wuchert, erdrücken nicht.

Der große Schlichte aus Mainz gebietet weder über die Autorität seiner politischen Wahlverwandtschaft Konrad Adenauer, noch vermag Beichtschwester Elisabeth ihm auch nur einen Hauch jener Kompetenz anzudemoskopieren, die Vorgänger Helmut Schmidt so penetrant verströmte.

Das müßte, wären die Zeiten normal und die Freunde verläßlich, kein Schaden sein. Schließlich hat das hohe Amt am Rhein in 34 Jahren Bundesrepublik neben politischen Höhenflügen ein so überreiches Mittelmaß ertragen, daß ein Bürgerkanzler Helmut Kohl, wägt man nur seinen guten Willen und seine Honorigkeit, die Grenzen des Erträglichen kaum sprengen würde.

Kohl ist ein ehrenwerter Mann.

Auch die etwas peinlichen Umstände, unter denen der weniger kompetente Konservative den kompetenteren Konservativen am 1. Oktober 1982 ablöste, hielten sich im Rahmen jener parlamentarischen Regeln, nach der eine neue Mehrheit eine alte, die keine mehr ist, verdrängt. Man mag es Wechselreiterei nennen, Verrat gar, wenn die Mehrheitsbringer, die vorher Genscher und Lambsdorff hießen, nachher dieselben Namen tragen. Und man kann es auch verstehen, daß die Betrogenen und Verratenen die Betrüger respektive Verräter »ausradieren« wollen wie Exkanzler Kiesinger 1969 oder »wegharken« wie Exkanzler Schmidt 1982.

Das mag der Wähler am nächsten Sonntag besorgen - oder auch nicht; Politik ist nicht für Feinschmecker. Illegitim jedenfalls war der Wechsel nicht.

Wenn Helmut Kohl folgerichtig, vielleicht nicht gerade in einem Augenblick übergroßer geistiger Helle, nach plebiszitärer Bestätigung verlangt, wer will es ihm verwehren. Sollen doch die Genasführten vom letzten Herbst zu Protokoll geben, ob sie sich haben nasführen lassen wollen oder ob sie es den Nasführern nun heimzahlen werden. Die Richter in Karlsruhe haben Kohls getürktes Mißtrauensvotum gutgeheißen. Das Wahlspektakel am 6. März ist legal.

Und Kohl ist ein ehrenwerter Mann.

Dennoch bleibt jenes unbestimmt ungute Gefühl, Kohl habe auch noch recht, wenn er von einer »Schicksalswahl« spricht. Und es riecht danach, daß es am 6. März um mehr geht als nur um eine neue oder alte Parteienkonstellation, um mehr oder minder kompetente Ministermannschaften, Steuersenkungen oder Beschäftigungsprogramme, Abrüstung oder Overkill.

An der Schwelle zum dreimillionsten Arbeitslosen, zu 108 Pershing 2, zum Nullwachstum und zur Weltwirtschaftskrise genießen die 43 Millionen Wahldeutschen das zweifelhafte Vergnügen, sich alternativ entscheiden zu dürfen

* für einen Weg zu Wagnis und Risiko in Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Rüstungs- und Friedenspolitik, von dem niemand weiß, ob er nicht heillos in die Irre führt, oder

* für einen Weg, der mit Sicherheit zurückführt über Reaganomics, Thatcherismus und Hochrüstung in eine konservative Vergangenheit.

So wenig die Wähler sich darauf verlassen können, daß ihnen eine schwankende rot-grüne Kombination, in welcher Konstellation auch immer, die Lösungen all ihrer drängenden Probleme frei Haus liefern wird, so wenig werden sie sich darauf berufen können, nicht Bescheid darüber gewußt zu haben, was Restauration bedeutet.

Noch schüttelt Kohl alle Hände, noch grinst er nach allen Seiten, noch überzieht er jedermann mit seinem quälenden Sekundärtugend-Terror von Pflichterfüllung, Familienglück und Vaterlandsliebe, robbt sich ins Gemüt der Deutschen.

Kohl schließlich ist ein ehrenwerter Mann.

Doch hinter und neben ihm gehen und stehen welche, die es bis zum 6. März nur noch schwer ohne Kreide und Mehl für Stimme und Pfote aushalten. Sie klagen die Tendenzwende ein, die er ihnen, »Übergangskanzler«, der er nun mal ist, seit 1. Oktober vorenthält, in die sie die Bundesrepublik aber vom 7. März morgens an bis ins Jahr 2001 zwingen wollen - rot raus, schwarz rein.

Dies ist keine Geisterbeschwörung, kein Grand Guignol. Dies ist der Versuch zu erklären, was es denn bedeuten könne, wenn der Christsoziale Zimmermann seine Mimikry als Baumpfleger und Schornsteinfeger vergißt und die neue Rangfolge seiner Aufgaben postuliert: Sicherheit vor Datenschutz. Dies ist der Versuch zu erklären, was es denn bedeuten könne, wenn sein christsozialer Staatssekretär Spranger Frieden und Freiheit im Innern »in erster Linie für die Normalen, nicht für perverse Minderheiten, Terroristen, Verbrecher und Randgruppen« reserviert sehen möchte. Wenn beide zusammen dafür bürgen, das Demonstrationsstrafrecht zu verschärfen und die Kontaktsperre aufrechtzuerhalten, wenn sie das Zuzugsalter für Ausländerkinder auf sechs Jahre fixieren wollen.

Das alles bedeutet den Rückmarsch in die Restauration.

Und etwas anderes als schlicht dies bedeutet es auch nicht, wenn der Familienminister Geißler euphemistisch von einer Besserstellung junger Mütter faselt, mit der ihnen das Recht auf Abtreibung aus sozialer Indikation (als Krankenkassenleistung dann inzwischen abgeschafft, versteht sich) abgekauft werden soll. Und es bedeutet auch nichts anderes, wenn der christsoziale Entwicklungsminister die Hilfen an die Dritte Welt vom Wohlverhalten der Bezieher und vom Nutzen für die deutsche Exportindustrie abhängig machen will. Der Südafrika-Reisende Strauß wird ihm das schon richtig beibiegen. So, wie er seinem Parteifreund Zimmermann beigebogen hat, wie wenig Bestand die Garantie der Oder-Neiße-Grenze habe vor dem höherwertigen Gut des Wiedervereinigungs-Imperativs. S.21 Das ist die Restauration.

Wen darf es da wundern, wenn der baden-württembergische Oberschulmeister Mayer-Vorfelder mit seinem Dreisatz Disziplin, Orthographie, Volkslied die deutsche Schule re-reformieren will? Wen wundert's, daß deutsche Amtsrichter Strafverfahren zuhauf gegen die altersgraue »Mutzenbacher« in Gang bringen, Justine- und Emmanuelle-Comics beschlagnahmen lassen? War es Zufall, daß unmittelbar nach Kohls Regierungsantritt deutsche Richter wie zu Zeiten der Straußschen SPIEGEL-Affäre vor 20 Jahren wieder deutsche Zeitungsredaktionen haben durchsuchen lassen, gleich zweimal?

Von Zufall keine Spur. CSU-Zimmermann beschwört ausdrücklich die »Tugenden der 50er Jahre« - als NS-Globke noch Staatssekretär im Kanzleramt war, die DDR noch SBZ hieß, Kommunisten im Gefängnis saßen, weil sie einer »verfassungsfeindlichen« Partei angehörten, Ehebruch und Homosexualität noch strafbar waren und Pastor Klinkhammer Stinkbomben gegen einen Knef-Film warf.

CSU-Tandler glaubt, sein Koalitionspartner FDP sei »zu dieser geistigen Wende ... nicht fähig«. Grotesk, daß eine FDP, die einmal ein Freiburger Programm verabschiedet und während 13 sozialliberaler Jahre die bundesdeutsche Gesellschaft mitreformiert hatte, sich nun nach ihrem Befähigungsnachweis für die Wende rückwärts fragen lassen muß. Grotesker noch, daß sie - sieht man einmal von der epochalen Forderung ab, die Investitionsabgabe müsse um jeden Preis rückzahlbar bleiben - diesen Befähigungsnachweis um ihres eigenen parteipolitischen Überlebens willen auch noch liefern wird.

Das Proexamen ist schon bestanden, das Innenministerium, Clearingstelle des »innen- und rechtspolitischen Scherbenhaufens« (Tandler), an die CSU abgeliefert; das Außenministerium, Kaderschmiede der von Strauß verdächtigten Bonner Verzichtpolitiker, liegt im Fadenkreuz des CSU-Chefs. Man bittet Platz zu nehmen am Nierentisch konservativ-liberaler Koalitionsgespräche (sofern die Liberalen noch einen Platz finden).

Mit am Tisch: Helmut Kohl. Und der ist ein ehrenwerter Mann.

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