KIRCHE / AFFÄREN Kollegin Jutta
»Sonne der Gerechtigkeit«, so hallte es durch die Rote Reihe, Sitz des hannoverschen evangelisch-lutherischen Landeskirchenamts (LKA), »gehe auf zu unserer Zeit.« Fünfzig Vikare sangen eine Weise aus alten Zeiten mit dem Refrain: »Erbarm dich, Herr.«
Sie sangen teils »zur Erheiterung und Entspannung«, so der Vikar Otto Lange, doch überwiegend aus Protest. Über Megaphon verkündete ihr Sprecher, »daß dieses Landeskirchenamt nicht länger Repräsentation dieser Kirche sein kann«.
Die halbe Hundertschaft geistlichen Nachwuchses protestierte dagegen, daß die LKA-Juristen die Hildesheimer Vikarin Jutta Siegert, 27, »mit sofortiger Wirkung aus dem Vorbereitungsdienst« entlassen haben. Die Vikarin, für die künftig keine Kanzel in der Kirche da sein soll, habe -- so LKA-Präsident Dr. Johann Frank
»eine politische Auseinandersetzung in einer Weise geführt, die den Anforderungen widerspricht, die an das Vorhalten einer künftigen Pastorin zu stellen sind«.
Diese Entscheidung nennen 46 wissenschaftliche Mitarbeiter der Göttinger Theologischen Fakultät »ungerecht, unangemessen und theologisch indiskutabel«. Ebenso wie die meisten Vikare sind die Göttinger Theologen zum Widerstand entschlossen, um jungen Geistlichen das Recht zu wahren, »politische Verantwortung öffentlich wahrzunehmen«.
Jutta Siegert hatte Ende vergangenen Jahres dem damaligen Hildesheimer SPD-Regierungspräsidenten Dr. Günther Rabus in einem offenen Brief »seine Instinktlosigkeit« seine Skrupellosigkeit und seine despotischen Allüren« vorgeworfen. Rabus, den sie einen »Dunkelmann« nannte und mit dem »Bluthund Noske« gleichsetzte, habe »ein Gewissen wie ein Schlachterhund«.
So ist Rabus von keinem anderen öffentlich angegriffen worden, aber Gegner hat er auch in den eigenen Reihen. »Der sogenannte Genosse Rabus« (Juso-Jargon) jüngst zum Präsidenten des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung in Koblenz avanciert, wurde in Hildesheim von seinen Genossen gern »Napoleon der Kleene« genannt -- wegen seiner geringen Körpergröße, seiner sächsischen Herkunft und seines forschen Auftretens. Obwohl er in geselliger Runde »sicher ein reizvoller Mensch« war, ist der stellvertretende SPD-Ortsvereinsvorsitzende Hans Freter »froh, daß er weg ist, weil Rabus einfach der SPD in Hildesheim geschadet hat«.
Das geschah beispielsweise im letzten Bundestagswahlkampf, als Rabus anläßlich eines Kiesinger-Besuchs die Polizei so massiv gegen die Apo marschieren ließ, daß neun SPD-Funktionäre in einem offenen Brief eine »Polizeistaats-Situation« registrierten und ihn daran erinnerten, daß er »Verwaltungsbeamter in einer Demokratie und weder südniedersächsischer Landesvater noch Stadthauptmann von Hildesheim« sei.
Aber auch danach wurde es nie still um Rabus -- »es war immer irgend etwas los mit ihm« (Freter). So beschäftigten sich die Lokalzeitungen wochenlang mit dem Fall der Ärztin Dr. Karla Hahn. Rabus jagte sie aus dem Hildesheimer Gesundheitsamt, weil sie öffentlich Kritik an Mißständen in ihrer Dienststelle geübt hatte.
Als die Vikarin Siegert den Fall Hahn zu ihrem eigenen machte und Flugblätter verfaßte und verteilte, reagierten weder Rabus noch die SPD. »Die Kirche aber«, so protestierten Göttinger Pastoren, »handelte blitzschnell und entfernte eine öffentliche Mahnerin, die tut, was Jesus getan hat: Sie trat ein für Unterdrückte, denen Unrecht zugefügt worden ist.«
So scharf wie gegen die Vikarin ist die hannoversche Landeskirche zumindest seit Kriegsende in keinem einzigen Fall vorgegangen. Vergeblich machte die parteilose Vikarin, die sich als Sozialistin versteht, geltend, daß ihre Anwürfe »zwar polemisch formulierte, aber in politischer Rede zulässige Wertungen« enthalte, die »im Grunde längst zur Literatur geronnen« seien.
Die fromme Sozialistin fand unter Amts- und Glaubensbrüdern viele Bundesgenossen, weil an ihrem Fall ein aktuelles Kirchenproblem transparent wird: die allzu enge Verbundenheit von Kirchenführern mit Staatsstellen, denen sie möglichst jeden Ärger -- etwa durch kritische Pastoren -- ersparen wollen.
Politik in Hildesheim, so meint zum Beispiel der ehemalige Superintendent Enno-Edzard Janssen, wird geprägt durch »im stillen vollzogene Absprachen der Inhaber gesellschaftlicher Führungspositionen auf zahllosen Empfängen«. Entsprechend seien »die Positionen des öffentlichen Lebens in einer Weise verzahnt, daß in der Bürgerschaft vielfältig die Überzeugung verbreitet ist, einer Cliquenmanipulation ausgeliefert zu sein«. Janssen warnt die Kirche, »sich auf die Seite der Manipulatoren« zu schlagen, gegen die sich die linke Vikarin »aus einem in ihrer christlichen Verantwortung gegründeten gesellschaftspolitischen Impetus« gestellt habe.
Der derzeitige Hildesheimer Landessuperintendent Ernst Henze steht auf der anderen Seite, auf der Seite der Honoratioren. Henze hielt dafür, daß der Vikarin »schnellstens das Handwerk gelegt« wurde; Rabus sei ja schließlich »seit Jahren Mitglied des Sprengelbeirats« und der Kirche gegenüber »von großer Aufgeschlossenheit und großem Entgegenkommen gewesen. Durch die Siegert-Sätze aber sei »das Verhältnis zu den staatlichen Stellen« beeinträchtigt worden.
Doch noch ist offen, ob sich die Vikarin einen neuen Beruf suchen muß. Über hundert der 137 Vikare der Landeskirche haben »unbefristete Protestaktionen« angekündigt. Die fünf Predigerseminare, wie das Kolleg Imbshausen, haben ihre »Arbeitsvorhaben ... bis auf weiteres eingestellt«. Während des Streiks wollen sie »das erheblich angewachsene Mißtrauen« gegen die Kirchenoberen und gegen die »theologische Basis ihrer Rechtsfindung« artikulieren.
»Jutta, mach dir keine Sorgen«, so skandierten Vikare vor dem Kirchenamt, »wir sind Kollegen auch noch morgen.«
Kollegin Jutta sorgt sich in der Tat nicht. Sie will keinen Rabus-Vorwurf zurücknehmen, denn: »Luther hätte vermutlich noch ein bißchen heftiger geschimpft.«