Kollektiv verantwortungslos
Als Karl Jung, Staatssekretär a. D., am 13. Juli des vergangenen Jahres starb, war es, als hielte das Gesundheitswesen für einen Moment den Atem an. Die in Bonn versammelten Spitzenfunktionäre der Ärzteschaft unterbrachen ihre Sitzung für eine Schweigeminute. Das Bundessozialministerium in Berlin verschickte Todesanzeigen. Politiker von Union und SPD gedachten eines Mannes, dem der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer einst bescheinigt hatte, er habe das Krankenkassenwesen gekannt »wie kein Zweiter«.
Es galt, eine »Eiche des Sozialstaats in Deutschland« (Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm) angemessen zu betrauern. Fast 35 Jahre lang hatte Jung im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Dienst getan. Weitere 7 Jahre stand er dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen vor, dem mächtigen Funktionärszirkel des deutschen Medizinwesens.
Regierungen kamen und gingen - Jung aber blieb auf seinem Leitungsposten in der Ministerialbürokratie, schrieb Vorlage um Vorlage und trieb jedem Neuling auf dem Ministersessel schnell die Flausen aus. Niemand kannte sich besser aus im Paragrafendickicht deutscher Sozialgesetzgebung. Wie auch, wo der Jurist nicht ohne Genugtuung darauf hinwies, er habe schließlich »ein paar tausend Vorschriften« selbst mitformuliert.
Doch nun sind einige engzeilig beschriftete Blätter aus dem Nachlass des verdienten Staatsdieners an die Öffentlichkeit gelangt, die Jungs Lebenswerk in eher düsterem Licht zeigen. Im Angesicht des Todes hatte sich der Beamte an die Schreibmaschine gesetzt, um sein Wirken zu bilanzieren. Es drängte ihn, einen Strich unter vier Jahrzehnte bundesdeutscher Gesundheitspolitik zu ziehen.
Heraus kam eine Chronik des Totalversagens. Kapitel für Kapitel arbeitete sich Jung durch die Liste der angeblichen Jahrhundertreformen, mit denen seine Dienstherren die Auswüchse des maroden Gesundheitssystems in den Griff bekommen wollten. Er beschrieb das Scheitern des Adenauer-Ministers Theodor Blank, der es gewagt hatte, die Einführung einer ärztlichen Rechnungskopie für Patienten anzuregen,
und sich den Hass der Mediziner zuzog. Und er entdeckte bemerkenswerte Parallelen zwischen all den Nachfolgern, die stets mit großem Tatendrang ihr Amt antraten, um sich am Ende nervlich zerrüttet und geschlagen zurückzuziehen.
»Es ist die Vielfalt der unterschiedlichen Interessengruppen, deren Festhalten an erworbenen Besitzständen die Reformen so unsäglich schwierig machen«, notierte Jung kurz vor seinem Tod. Nach einem halben Tausend Gesundheitsgesetzen und -verordnungen konnte sein Fazit kaum bitterer sein: »Die Krankenversicherung hat sich allen wirklichen Reformbemühungen entzogen.«
In diesen Tagen startet der nächste Großversuch, das außer Kontrolle geratene System endlich grundlegend zu sanieren. Doch es spricht wenig dafür, dass es der Großen Koalition um Kanzlerin Angela Merkel und SPD-Chef Kurt Beck ausgerechnet dieses Mal gelingen könnte, was all den Reformern zuvor nicht geglückt ist. Seit Wochen schon ringen die Unterhändler von Union und SPD um den richtigen Weg. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein neuer Vorschlag getestet wird - um kurz darauf wieder kassiert zu werden.
Voller Inbrunst streiten sich die Koalitionäre um Mini-Kopfpauschale, Gesundheitssoli, Bruttoeinkommensteuer, Beitragsbemessungsgrenzen oder Parallelverschiebungen
beim Einkommensteuertarif. So tief haben sich die Fachpolitiker in die hochkomplexe Materie gewühlt, dass ihnen wesentliche Teile des Problems aus dem Blick geraten sind. In immer neuen Varianten wird durchgerechnet, wie ein steter Geldfluss das marode System am Leben halten kann. Vorsorglich bereitete die Kanzlerin die Bürger schon darauf vor, »dass es bei der Gesundheit teurer wird«.
Die entscheidende Frage aber wird kaum noch diskutiert: Wie lässt sich der gigantische Gesundheitsbetrieb effizienter, besser und damit am Ende auch billiger organisieren? Mit etwa 650 Millionen Euro setzt die Branche an jedem Tag mehr um als alle deutschen Automobilhersteller oder Energiekonzerne zusammen. Längst ist die Gesundheitsindustrie der mit Abstand größte Wirtschaftszweig der Republik. Gelänge es, die Strukturen dieses Molochs zu modernisieren, ließen sich Milliarden einsparen.
Jeder zehnte Euro wird von Ärzten, Krankenhäusern, Apothekern und Pharmakonzernen erwirtschaftet. Der medizinisch-industrielle Komplex nährt - vom Herzchirurgen in der Universitätsklinik bis zur freiberuflichen Fußpflegerin an der Straßenecke - insgesamt 3,8 Millionen Beschäftigte.
Doch gleichzeitig ist die wichtigste Säule des deutschen Fürsorgestaats mitverantwortlich für dessen Misere. Seit Anfang der siebziger Jahre haben sich die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung annähernd verdoppelt. Jede Beitragserhöhung trieb die Lohnkosten der Unternehmen in die Höhe, verteuerte den Produktionsfaktor Arbeit und vernichtete Jobs. Je mehr Arbeitsplätze verlorengingen, desto kleiner wurde das Fundament der übriggebliebenen Beitragszahler, die dadurch noch stärker belastet wurden, so dass weitere Jobs verschwanden.
Die Beitragsexplosion der vergangenen Jahre wäre zu verschmerzen, hätte sich wenigstens die medizinische Versorgung verbessert. Schließlich gilt Gesundheit den meisten Bürgern als besonders hohes Gut. Doch das genaue Gegenteil ist eingetreten. Im internationalen Vergleich hat sich die Qualität medizinischer Leistungen verschlechtert. Bei Messgrößen wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit oder Brustkrebsrate rangiert Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten im hinteren Mittelfeld.
Nirgendwo sonst in Europa stehen Aufwand und Ertrag in einem so eklatanten Missverhältnis wie hierzulande. Bereits Anfang der neunziger Jahre klagte der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer, dass es dem System »nicht an Geld mangelt, sondern an Qualität«. Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen belegte in einem Gutachten vor fünf Jahren, wie Kassenpatienten gleichzeitig unter »Über-, Unter- und Fehlversorgung« zu leiden hätten. Das vernichtende Urteil gilt heute noch.
Die Deutschen sind Weltspitze im Tablettenschlucken - gesünder sind sie deswegen nicht. In deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern wird auf Rekordniveau geröntgt, gespritzt und operiert, doch der Heilerfolg ist bescheiden. Eine monströse Umverteilungsbürokratie wurde geschaffen, um medizinische Versorgung für alle zu gewährleisten, Kassenpatienten aber leiden unter einer schleichenden Rationierung.
Das Vertrauen der Bürger in das Gesundheitssystem ist auf dem Tiefpunkt. Die Versicherten beklagen eine Zweiklassenmedizin; die Ärzte demonstrieren seit Monaten
gegen überbordende Bürokratie, sinkende Honorare und Frondienst in den staatlichen Krankenhäusern. Kein Tag vergeht ohne die Warnung eines Krankenkassenmanagers, es bahne sich mal wieder ein neues Milliardendefizit an.
Dabei ist das Grundübel des Systems von Ökonomen immer und immer wieder beschrieben worden. Ausgerechnet in der Multimilliardenbranche Gesundheit ist praktisch jeder Wettbewerb außer Kraft gesetzt. Im durchregulierten System der Sicherstellungsaufträge, Risikostrukturausgleiche und Bettenbedarfspläne gibt es weder Marktpreise noch Transparenz. Leistung wird nicht belohnt, sondern oft bestraft. Statt Eigenverantwortung herrscht Vollkaskomentalität. Und es darf getrickst, gepfuscht und betrogen werden.
Allein der Umstand, dass im deutschen Gesundheitssystem das schlichte Wort »Geld« praktisch nicht auftaucht, macht nicht nur die Experten misstrauisch. Die Krankenkassenfunktionäre sprechen lieber von »Fallpauschalen«, »Ausgleichsbedarfssätzen« und »Leistungskomplexgebühren«. Die Ärzte wiederum rechnen nach »Punktwerten«, »einheitlichen Bewertungsmaßstäben« und »Hebesätzen« ab, sehen sich prinzipiell aber eher als Heilkünstler, deren mildtätige Wundertaten mit schnödem Mammon eh nicht zu honorieren seien.
Die Kasse soll freilich trotzdem klingeln. Für alle, in jedem Quartal. Spitzenmanager der Krankenkassen verdienen Jahresgehälter von bis zu einer Viertelmillion Euro. Ärzte, Apotheker und Pharmahersteller sind auch nicht bescheiden.
Finanziert werden muss das alles von den Versicherten, denen AOK, Barmer und Co. mit schöner Regelmäßigkeit die Kassenbeiträge erhöhen. Sie, die Patienten, stehen theoretisch im Mittelpunkt des Milliardensystems. Für sie ist es gemacht. Um ihr Wohl sollte es bei allen Bemühungen von Ärzten, Kassen, Pharmaunternehmen und Krankenhäusern gehen, und so wundert es nicht, dass schon beim Patienten die Probleme des Gesundheitssystems beginnen.
Der Mensch, spätestens seit der europäischen Aufklärung mündig und selbstbestimmt, ist im Gesundheitswesen kaum vorgesehen. Er erfährt meist nicht einmal, wie viel seine Behandlung gekostet hat. Kassenmanager reden nicht von Patienten, sondern von »Fällen«, die es »zu steuern gilt«. Von jeher betrachten Sozialpolitiker die Bürger als Mündel, die allumfassender staatlicher Fürsorge bedürften.
Die Folge ist eine Vollkaskomentalität, die dazu führt, dass mitgenommen wird, was mitzunehmen ist. Kein Versicherter wird für die Folgen seiner Lebensführung in die Pflicht genommen. Ein Intim-Piercing hat sich entzündet? Halb so schlimm - die Solidargemeinschaft zahlt bislang für die Behandlung beim Doktor. Ebenso für den Beinbruch auf der Skipiste, für den Bandscheibenschaden des Bungeespringers, für die Lungenkrebstherapie des Kettenrauchers.
Hypochonder ziehen von Praxis zu Praxis, bis sie endlich einen Doktor gefunden haben, der ihre Sorgen ernst nimmt. Es herrscht kollektive Verantwortungslosigkeit.
Die deutschen Bischöfe, der Mitmenschlichkeit verpflichtet, kamen vor drei Jahren zu einer bemerkenswert kühlen Analyse des deutschen Gesundheitswesen. Es mangele an Eigenverantwortung, heißt es in ihrem Papier. Die Solidarität werde auf eine allzu harte Probe gestellt. Die Bischöfe gaben Gottes Segen für ein Mehr an Ökonomie: »Markt und Wettbewerb können und dürfen die Solidarität nicht ersetzen, sie gehören aber zu den Instrumenten, die Eigenverantwortung in der Solidarität zu stärken.«
Ähnlich denken auch die meisten Ökonomen, die sich weitgehend einig sind, wie die Versicherten stärker verantwortlich gemacht werden könnten. So sollten
* sich die Patienten durch Praxisgebühren und prozentuale Zuzahlungen stärker als bislang an den Kosten ihrer Behandlung beteiligen,
* Freizeitunfälle privat abgesichert werden,
* höhere Versicherungsbeiträge fällig werden für all diejenigen, die ihre Gesundheit durch riskante Hobbys oder Schönheitsoperationen in Gefahr bringen,
* Tabak- und Alkoholkonsum stärker besteuert werden und die zusätzlichen Einnahmen ins Gesundheitssystem fließen.
Doch bislang sind alle Versuche, das Gesundheitswesen in die Marktwirtschaft einzugemeinden, weitgehend gescheitert. Aus Sorge, das wertvolle Gut Gesundheit einem allzu freien Spiel der Kräfte zu überlassen, haben die Regierenden lieber auf eine möglichst lückenlose Regulierung gesetzt. Andere Politiker brachen unter dem Druck von Lobbyisten zusammen, die sich in den behüteten Schutzzonen des Systems behaglich eingerichtet hatten.
Bereits vor 47 Jahren - die noch junge Bundesrepublik sah sich erstmals mit einer abrupten Kostensteigerung des Gesundheitswesens konfrontiert - beauftragte Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen Arbeitsminister Theodor Blank mit der Ausarbeitung eines Reformgesetzes. »Die Regierung ist entschlossen«, sagte Adenauer damals, »den Gedanken der Selbsthilfe und der privaten Initiative in jeder Weise zu fördern.« Es gelte, »das Abgleiten in einen totalen Versorgungsstaat zu verhindern, der früher oder später alles vernichten würde«.
Minister Blank machte sich an die Arbeit und entwickelte mit etwas gesundem Menschenverstand einige Ideen von bestechender Klarheit. Patienten sollten sich an den Kosten jeder ärztlichen Behandlung beteiligen, im Gespräch waren 1,50 Mark, das schrecke Hypochonder ab. Ärzte sollten gezwungen werden, ihren Patienten eine Rechnungskopie auszuhändigen, um Schummeleien zu verhindern.
Doch Blank scheiterte. Die Gewerkschaften protestierten gegen die geplante Selbstbeteiligung mit dem Argument, sie
schrecke Bedürftige vom Arztbesuch ab. Schützenhilfe kam von den Ärzteverbänden. Sie opferten ihre mit sechs Millionen Mark gefüllte Streikkasse und bepinselten Protestschilder, auf denen sich »Infarkt« auf »Sarg« reimte. Auf keinen Fall werde man sich zwingen lassen, hieß es damals, »in den Arztpraxen Registrierkassen aufzustellen«.
Die Geschichte vom Scheitern guter Ideen hat sich seitdem viele Male wiederholt. Immer mehr Lobbyisten von Ärzten, Krankenkassen, Apothekern und Pharmaherstellern fanden im System ihr Auskommen und taten fortan alles, um ihre Privilegien zu verteidigen, mochten die jeweiligen Gesundheitsminister auch noch so sehr klagen. Sie sei es leid mitanzusehen, wie Ärztefunktionäre »das Geld der Versicherten veraasen«, wütete die grüne Ministerin Andrea Fischer. Wenig später trat sie zurück. Ihr Amtsvorgänger Seehofer verglich das Machtkartell mit »Vampiren«, denen man das »Führen einer Blutbank übertragen« habe - kurz darauf war auch er seinen Job los.
Dabei sind die Vorschläge für mehr Wettbewerb schon seit Jahren bekannt:
* Das Monopol der Kassenärztlichen Vereinigungen müsste zerschlagen werden. Krankenkassen dürften Einzelverträge mit ausgewählten Ärzten und Krankenhäusern schließen.
* Ärzte sollten für die Behandlung bestimmter Krankheiten mit pauschalierten Festpreisen bezahlt werden. Ihren Patienten müssten sie für jede Behandlung eine Rechnungskopie ausstellen.
* Die Krankenkassen sollten direkt mit den Pharmaherstellern über Bezugsmengen und Preise verhandeln.
* Apotheker dürften Filialketten gründen. Die staatliche Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel würde abgeschafft.
Doch auch bei ihrem jetzigen Reformversuch reden die Koalitionäre lieber vor allem über neue Ausgaben. Für Mutter-Kind-Kuren soll es mehr Geld geben, ebenso für Ärzte. Unter dem Strich, so schätzen Experten, werden Union und SPD mit ihrer jüngsten Reformidee bestenfalls fünf Milliarden Euro sparen. Die Erfolge des jüngst in Kraft getretenen Sparpakets bei den Arzneimitteln sind darin bereits enthalten.
Ökonomen sind sich sicher: Würde sich die Politik auf eine Reform der ineffizienten Strukturen konzentrieren, ließen sich weit höhere Milliardenbeträge einsparen. Die Qualität der medizinischen Versorgung würde darunter nicht leiden, im Gegenteil. Die Experten vermuten, dass mehr Wettbewerb zwischen den Medizinern auch das Wohlergehen der Patienten befördern würde.
Das Bundesgesundheitsministerium taxiert die Effizienzreserve im System auf etwa 20 Milliarden Euro. Würde diese
Summe tatsächlich eingespart, könnten die Kassenbeiträge um zwei Prozentpunkte billiger sein. Es wäre die größte Beitragssenkung in der Geschichte der Bundesrepublik.
Tatsächlich dürfte das Sparpotential auf der Ausgabenseite wohl noch größer sein. Private Krankenhausbetreiber wirtschaften bereits heute deutlich günstiger als viele Staatskliniken, in denen bisweilen Feierabendpolitiker über die Anschaffung medizinischer Großgeräte entscheiden. Das deutsche Preisniveau bei einigen gängigen Arzneimitteln liegt um fast 100 Prozent über dem anderer Länder.
Es macht keinen Sinn, dass an jeder Straßenecke eine Apotheke steht, die von einem studierten Pharmazeuten betrieben werden muss und deren Handelsaufschläge vom Gesetzgeber normiert sind. Es ist unvernünftig, dass die Ärzte bergeweise Medikamente verschreiben, von denen 4000 Tonnen im Müll landen. Es gibt keinen plausiblen Grund dafür, dass deutsche Patienten im Schnitt neun Tage im Krankenhaus liegen, während die Franzosen bereits nach sechs Tagen entlassen werden können.
Kein anderes Land in Europa leistet sich eine so großes Heer von Heilkundigen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Zahl berufstätiger Mediziner mehr als verdreifacht. Gemessen an der Bevölkerungszahl, gibt es in Deutschland 40 Prozent mehr Mediziner als in den USA und 70 Prozent mehr als in Japan.
Dass eine solche Ärzte-Armada nötig ist, um die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu sichern, glauben nicht mal die Doktoren. Vor Jahren schon warnten ihre Standesvertreter selbst vor einer »Ärzteschwemme«.
Besonders deutlich wird der Überfluss bei den Fachärzten wie Orthopäden, Internisten oder Urologen. In anderen Ländern dieser Welt arbeiten sie entweder in Kliniken und Behandlungszentren, etwa in den Niederlanden. Oder sie praktizieren überwiegend als selbständige Kleinunternehmer, Beispiel USA. Deutschland dagegen leistet sich ein weltweit einzigartiges Doppelsystem - und das mit der gewohnten Gründlichkeit.
Geradezu grotesk ist es, wenn die Mediziner-Lobby neuerdings vor einem Ärztemangel warnt. Zwar fehlen in einigen besonders freudlosen Landkreisen Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs oder Thüringens inzwischen nicht nur Kinder, sondern auch Kinderärzte. Doch bundesweit gelten über 90 Prozent aller Regionen als fachärztlich überversorgt. In Frankfurt (Oder), nicht gerade eine Boomstadt Ost, praktizieren 173 Hausärzte statt der geplanten 148. In Essen sollen eigentlich 275 Allgemeinmediziner ihre Dienste anbieten - tatsächlich sind es 341. Und in München-Stadt sind statt der vorgesehenen 789 Hausärzte mehr als 1100 bei den Kassen registriert.
Seit Jahrzehnten haben die Politiker versucht, die Zahl der Ärzte zu begrenzen. Regionale Bedarfsplanungen wurden eingeführt, Zuzugssperren verhängt, sogar Stilllegungsprämien wie in der Landwirtschaft ausgelobt.
Es hat alles nichts genutzt. Allein die Krankenkassen könnten den Überschuss beseitigen, so wie von Experten seit langem empfohlen: Die Kassen sollten sich aussuchen dürfen, welche Doktoren ihre Versicherten behandeln dürfen und welche nicht, Überkapazitäten würden so rasch abgebaut.
Doch bis heute müssen die Kassen mit allen zugelassenen Medizinern zusammenarbeiten. Und so steigen die Ärztezahlen weiter in die Höhe. Im gutversorgten Bayern siedelten sich im vergangenen
Jahr noch einmal weitere 200 Fachärzte an, in Berlin 116, in Hamburg 70.
Und alle haben gut zu tun. Patienten werden hin und her überwiesen, doppelt durchleuchtet, dreifach abgehorcht und vierfach mit einem frischen Rezept in die nächste Apotheke geschickt.
Jeder Arzt weiß: Selbst ein munterer Mittzwanziger, der zum Routinecheck vorbeikommt, ist niemals wirklich gesund. Er wurde nur noch nicht gründlich genug untersucht. Der Fachmann spricht von »selbstinduzierter Nachfrage«.
In Deutschland stehen mehr Geräte zur Positronen-Emissions-Tomografie, mit denen Krebspatienten durchleuchtet werden können, als in Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien zusammen. Jede zweite Herzkatheter-Untersuchung gilt als überflüssig. 10 000 Beine werden Jahr für Jahr amputiert, die besser am Körper geblieben wären. Und bei jedem vierten wegoperierten Blinddarm stellt sich heraus, dass er entgegen der Vermutung des Arztes gar nicht entzündet war.
Schuld an dieser Misere sind die Krankenkassen und Ärzteschaft zu gleichen Teilen. Ihre mächtigen Verbände steuern das medizinische Angebot. Als »Selbstverwaltung« bezeichnen das die Funktionäre - Selbstbedienung wäre der zutreffendere Begriff.
Ausgestattet mit sechsstelligen Jahresgehältern, Dienstfahrzeugen und Chefsekretariat, sitzen sie in den Spitzenverbänden und Verwaltungsräten der Krankenversicherungen, bei den Kassenärztlichen Vereinigungen, in den Apothekerverbänden. Sie genießen das gute Gefühl, als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit hoheitlichen Aufgaben im Sinne des Gemeinwohls betraut zu sein.
Es sei »die Lebenslüge der deutschen Gesundheitspolitik«, sagt die CDU-Politikerin Rita Süssmuth, als Ministerin kurzzeitig mit dem Gesundheitswesen betraut, dass der Staat sein Vertrauen in einen solchen Kungelkreis gesetzt habe.
Welcher Patient von welchem Arzt mit welcher Therapie und zu welchem Preis behandelt wurde? Keiner weiß es. Aus Tradition und weil die Heilkunst als etwas ganz Besonderes angesehen wird, leistet sich das Heilwesen ein ganz spezielles Vergütungssystem.
So rechnet der Arzt nicht etwa mit seinen Kunden, den Patienten, ab und auch nicht mit den Geldgebern, den Kassen. Zwischen Arzt und Kasse sind die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) geschaltet. Sie erhalten das Geld von den Kassen und sollen es leistungsgerecht an die Ärzte weiterverteilen.
Die Ärztevereinigungen, finanziert aus Zwangsbeiträgen der niedergelassenen Mediziner, sind das Bermudadreieck des Gesundheitswesens. Alle Informationen, die für einen effizienten Mitteleinsatz nötig wären, gehen auf mysteriöse Weise verloren. Sie entscheiden, welcher Arzt einen Kassenpatienten behandeln darf. Von den
Kassen erhalten sie Pauschalbeträge. Anschließend verteilen sie das Geld nach einer geheimnisvollen Formel, die sich jeder Überprüfung von außen entzieht.
Der einzelne Doktor weiß zunächst nicht, wie viel Geld er für einen Druckverband oder das Messen des Blutdrucks bekommt. Stattdessen muss er zwei dicke Bücher durchforsten, in denen jedem Handgriff eine Kennziffer zugeordnet wird. Diese teilt er seiner örtlichen Kassenvereinigung mit. Die Kennziffer wiederum ist mit Punkten bewertet.
Haben nun die Mediziner einer Region insgesamt sehr viele Punkte gesammelt, sinkt der Wert des Punktes. Haben sich die Doktores hingegen zurückgehalten, steigt der Wert. So ungefähr.
Sinnvoll wäre es, würden sich alle Ärzte bei ihrer Arbeit auf das medizinisch Notwendige beschränken. Für ehrliche Arbeit gäbe es ein angemessenes Honorar. Doch ehrlich sind in diesem System »nur die Doofen«, sagt Heinz-Holger Thielemann. Zwölf Jahre lang führte er die Geschäfte der Kassenärztlichen Vereinigung in Westfalen-Lippe, eine der umsatzstärksten Ärztevereinigungen in Deutschland.
Die nicht so doofen Ärzte, so Thielemann, versuchten, »das System auszusaugen wie Vampire«. Sie rechnen Handgriffe ab, die sie nie gemacht haben - für Patienten, die sie nie gesehen haben. Sie lassen sich Hausbesuche mit Sonntagszuschlag bezahlen, die nicht einmal an einem Wochentag stattgefunden haben. Sie kassieren für Therapien an Siechen, die in Wahrheit längst verstorben sind. Auf diese Weise sichern sie sich ein größeres Stück aus dem Honorarkuchen, übervorteilen ihre ehrlichen Kollegen und halten die Gesamtkosten des System hoch.
Eigentlich müssten die Kassenarztvereinigungen ein Interesse haben, diesem Missbrauch entschlossen entgegenzutreten. Das dachte sich jedenfalls der KV-Manager in Westfalen-Lippe. Er irrte sich gewaltig.
Thielemann hatte sich vorgenommen, die ärgsten Fälle von Abrechnungsbetrug zu bestrafen. Er ließ einige schwarze Schafe vorladen.
Doch den Vorstandsmitgliedern seiner KV, selbst Ärzte, ging das zu weit. Die Ermittlungen ihres Geschäftsführers gegen Standeskollegen empfand man als höchst unfein. Thielemann musste gehen.
Tatsächlich geht das undurchsichtige Abrechnungsverfahren selbst vor Gericht als strafmildernder Umstand durch. Das Landgericht Koblenz verurteilte einen Laborarzt wegen Millionenabzocke zu vier Jahren und vier Monaten. Eigentlich hätte es härter kommen müssen, hieß es in der Urteilsbegründung, aber das System mache es Betrügern einfach zu leicht und sei - ähnlich wie die geöffnete Kellertür für Einbrecher - geradezu als Einladung zu verstehen.
Wie lax manch Kassenmanager mit dem Geld der Versicherten umgeht, zeigt sich auch beim Missbrauch von alten Chipkarten. Mehrere Millionen ungültige Karten sind im Umlauf - etwa, weil den Patienten nach einem Umzug eine neue ausgestellt und die alte nicht eingezogen wurde.
Nun wäre es eigentlich ganz einfach, die von Betrügern gern genutzten Altkarten zu entwerten. Es gibt ein Computerprogramm, das ungültige Chips erkennt.
Doch die Software kommt fast nirgendwo zum Einsatz - Ausnahme: bei der Techniker Krankenkasse. Die Versicherung investierte 2,5 Millionen Euro, entwertete 1,3 Millionen Karten und sparte etwa 30 Millionen Euro ein - eine lohnende Sache, vor der andere Krankenkassen aus kaum nachvollziehbaren Gründen aber leider zurückschrecken.
Ohnehin ist schleierhaft, womit manche Kassenfunktionäre beschäftigt sind. Sie verdienen wie Manager in der freien Wirtschaft - doch zu entscheiden haben sie so gut wie nichts.
90 Prozent der Kassenleistungen sind gesetzlich festgelegt, die meisten Verträge mit Ärzten oder Kliniken müssen die Kassen laut gesetzlicher Vorgabe »einheitlich und gemeinsam« abschließen.
Ihr Job ist einfach. Steigen die Ausgaben, erhöhen sie die Beiträge - fertig. Doch selbst diese simple Tätigkeit scheint manchen Kassenmanager noch zu überfordern. Mehr als acht Milliarden Euro illegale Schulden hatten die Kassen bis Anfang 2004 aufgehäuft. Allein bei der Barmer und bei der AOK Baden-Württemberg taten sich Löcher von je fast einer Milliarde Euro auf.
Kein Wunder, dass eine derart mediokre Managerelite auch in anderen Bereichen versagt. »Die Neigung der Kassen, wettbewerbliche Chancen zu nutzen, ist nicht sehr ausgeprägt«, heißt es in einem Gutachten des Gesundheitssachverständigenrates der Bundesregierung.
Die Experten wissen auch, wie man den Funktionären Beine machen könnte. Sie schlagen vor, das Angebotsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen zu zerschlagen. Dadurch bekämen die Krankenkassen die Möglichkeit, Einzelverträge mit ausgewählten Ärzten zu schließen.
Sofort, so die Prognose der Sachverständigen, wären Kassenmanager mit Verhandlungsgeschick gefragt. Sie müssten Aufträge ausschreiben und sich auf die Suche nach guten Medizinern machen. Fleißige Doktoren könnten vermutlich bessere Konditionen als heute herausschlagen. Stümper und notorische Betrüger würden vom Markt verdrängt, Überkapazitäten abgebaut.
Von den derzeit mehr als 200 Krankenkassen würden am Ende nur die effizientesten übrigbleiben. Und das alles würde sich nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage ganz ohne Zutun der Politik vollziehen.
Heute aber fällt das Versagen vieler Krankenkassen umso deutlicher auf, je professioneller ihre Gegenspieler zu Werke gehen, etwa die findigen Manager der Pharmahersteller. Die gigantische Summe von 25,4 Milliarden Euro gaben die Kassen im vergangenen Jahr für Arzneimittel aus. Vor zehn Jahren waren es neun Milliarden weniger. Die Arzneikosten sind der zweitgrößte Ausgabenposten im Gesundheitswesen, nach den Krankenhauskosten, vor den niedergelassenen Ärzten, und er wächst wie kein anderer: allein im vergangenen Jahr um 16,8 Prozent. Die Vertreter der Pillenkonzerne beteuern treuherzig, das habe vor allem mit den Segnungen des medizinischen Fortschritts zu tun.
In Wahrheit geben selbst die forschenden Arzneimittelhersteller weit mehr für Reklame aus als für Entwicklung. Pfizer ("Viagra«, »Sortis") steckte 2005 etwa 7,4 Milliarden US-Dollar in die Erforschung neuer Therapien. Marketing und Vertriebsmaßnahmen verschlangen mehr als das Doppelte. Die Produzenten von sogenannten Generika wie Ratiopharm oder Stada verdienen ihr Geld sogar fast ausschließlich mit dem Nachbau altbewährter Mittel, deren Patentschutz abgelaufen ist.
Das Geschäft läuft prächtig. Die Gewinnspanne der US-Pharmafirmen, den weltweiten Riesen der Branche, lag im vergangenen Jahr bei stattlichen 25 Prozent, die deutsche Autoindustrie musste mit 7,6 Prozent zufrieden sein. In Deutschland erwirtschafteten Schering und Altana Gewinnspannen von rund 20 Prozent, doppelt so viel wie die Dax-Unternehmen im Durchschnitt schafften.
Mit der Hilfe von insgesamt 16 000 Pharmareferenten versuchen die Konzerne,
selbst zweifelhafte Präparate in den Markt zu drücken. Die Klinkenputzer von Pfizer etwa sind derzeit mit einem Insulin-Präparat namens »Exubera« in den Praxen unterwegs, das nicht gespritzt, sondern inhaliert werden muss. Ein medizinischer Zusatznutzen gegenüber bewährten Mitteln ist laut Branchenblatt »arznei-telegramm« nicht zu erkennen, das »Schädigungspotential« sei »ungeklärt«. Sicher sei nur: »Exubera verteuert die Therapie auf das Fünffache.«
Der Bremer Pharmakologe Gerd Glaeske, Mitglied im Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen, wundert sich darüber schon lange nicht mehr. Sobald das Patent für eine Arznei ausläuft und Generika-Hersteller es billig nachbauen dürfen, präsentiert die Firma ein neues, angeblich verbessertes Produkt, das aber vor allem einem Kriterium genügen muss: teurer zu sein.
Die Firma AstraZeneca brachte vor Jahren das Mittel »Antra« mit dem Wirkstoff Omeprazol auf den Markt, das gegen Sodbrennen und Magen-Darm-Geschwüre hilft. Als das Patent auslief, ersann die Firma das Medikament Nexium. Drin ist ebenfalls Omeprazol, aber »molekular anders, linksdrehend«, sagt Glaeske. »Der therapeutsche Zusatznutzen ist nicht bewiesen«, urteilt er.
Das sieht der Konzern natürlich ganz anders. »Esomeprazol ist der effektivste Wirkstoff in der Klasse der Protonenpumpenhemmer«, teilt AstraZeneca mit. Dies sei durch viele Studien bewiesen. Tom Scully, früher Leiter der staatlichen Gesundheitsprogramme in den USA, wetterte allerdings schon 2003 gegenüber einer Gruppe von Ärzten: »Eigentlich müsste es Ihnen peinlich sein, Nexium zu verschreiben.« Ist es aber nicht.
Inzwischen ist Nexium - säuerlich aufstoßen müssen viele Menschen - laut Studien das Medikament mit dem drittstärksten Umsatz in Deutschland. Glaeske schätzt, dass die mit viel Werbetamtam ("Wenn es brennt in der Magengrube") begleitete Einführung des Präparats die Krankenkassen mit vielen Millionen Euro im Jahr zusätzlich belastet. Zwar haben die Kassen für Medikamente, die sie als wirkungsgleich einstufen (zu denen Nexium gehört), Höchstbeträge festgelegt, jedoch ohne große Wirkung.
Sinnvoll wäre es, wenn die Versicherer direkt mit den Pharmaherstellern über Preise verhandeln würden. Gerade die großen Kassen mit ihren vielen chronisch kranken Versicherten könnten erhebliche Rabatte aushandeln. Sie könnten gigantische Aufträge ausschreiben und einen Bieterwettbewerb zwischen den Herstellern auslösen.
Doch die Politik hat das den Kassen bislang nicht gestatten wollen. Zwar dachte sich allein Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in ihrer Amtszeit bereits vier Spargesetze zur Eindämmung der Arzneimittelkosten aus. Jedes Mal dauerte es wie bei den Festbeträgen nur wenige Monate, bis sich die Umsätze der Hersteller vom Pillenknick erholt hatten.
Experten haben deshalb die Hoffnung längst aufgegeben, die Politik könne den Problemen durch immer neue Regulierungen begegnen. Bert Rürup, Chef der Wirtschaftsweisen, kommt zu dem Urteil, dass es im Gesundheitssystem nicht an Verboten mangelt, sondern an Freiheit durch Wettbewerb, Transparenz und Eigenverantwortung.
Wann immer Monopole zerschlagen wurden, etwa bei der Telekommunikation, verbesserte sich das Angebot. Konkurrenz belebte das Geschäft. Die von Sozialpolitikern verbreitete Mär, dass technischer Fortschritt zu höheren Preise führe, wird auf deregulierten Märkten an jedem Tag widerlegt.
Tatsächlich sind bereits heute auch im Gesundheitswesen einige Erfolgsbeispiele zu besichtigen. Wo immer die Politik, wenn auch nur zaghaft, auf Wettbewerb und Eigeninitiative setzte, verbesserte sich die Lage.
Etwa durch die Einführung der Praxisgebühr bei der jüngsten Gesundheitsreform. Als Kassenpatienten zehn Euro pro Quartal bezahlen mussten, ist die Zahl der Arztbesuche deutlich zurückgegangen. Nicht jedes Zipperlein war es offenbar wert, den Doktor zu behelligen. Befürchtungen, das Eintrittsgeld beim Arzt schrecke Behandlungsbedürftige ab und führe zu verschleppten Lungenentzündungen, haben sich nicht bewahrheitet.
Als Erfolgsstory darf auch die Privatisierungswelle bei den Krankenhäusern gelten. In Gang gebracht hat sie die Einführung von Festpreisen für die Behandlung bestimmter Krankheiten. Eine komplikationsfreie Entbindung kostet seither etwa 2800 Euro, ein Bypass etwa 12 000 Euro. Sämtliche Leistungen im Krankenhaus sind mit der Pauschale abgegolten.
Die privaten Kliniken kommen mit diesen Preisen bestens zurecht. Regelmäßig zeigt sich: Einst defizitäre Bettenhäuser werfen, kaum privatisiert, Gewinne ab.
Was passiert, wenn auf Effizienz getrimmte Manager ein marodes staatliches Krankenhaus übernehmen, lässt sich derzeit im Berliner Klinikum Buch besichtigen. Das größte Krankenhaus der DDR hing dem Berliner Senat nach der Wende wie ein Mühlstein am Hals. Alle Versuche, den mit 4000 Betten völlig überdimensionierten Komplex zu sanieren, scheiterten.
Vor fünf Jahren stieg der private Klinikbetreiber Helios ein. Die Investoren kündigten alte Tarifverträge, verringerten die Zahl der Beschäftigten um ein Drittel und handelten mit den Lieferanten neue Verträge aus.
Statt 150 Nadel-Faden-Kombinationen kommen seither nur noch 50 Naht-Materialen im Operationssaal zum Einsatz. Statt Hunderter unterschiedlicher Glühbirnen und Neonröhren gibt es nur noch zwölf verschiedene Typen, die der Hausmeister im Lager führt. Jeden Monat schickt die Konzernzentrale präzise Anweisungen, welche Infusionspumpen, Defibrillatoren und Geschirrspülmittel zu beschaffen sind.
Die Erfolge der privaten Konzerne decken auf, wie schlampig die staatlichen Krankenhäusern bisweilen verwaltet werden. Und es zeigt sich, dass die Kliniken im deutschen Gesundheitswesen keinesfalls so »kaputtgespart« sind, wie es die seit Monaten streikende Klinikärztegewerkschaft Marburger Bund behauptet.
Der Vorwurf, die Einsparungen bei den Privaten führten zu schlechter Qualität, trifft ebenfalls nicht zu. Im Gegensatz zu den meisten staatlichen Häusern veröffentlichen sie detaillierte Bilanzen über ihre Behandlungsergebnisse. Das Komplikations- oder Sterberisiko für Patienten liegt in der Regel unter dem Bundesdurchschnitt.
Sogar auf dem Arzneimittelsektor lässt sich seit dieser Woche die Wirkung des Wettbewerbs beweisen. Ein Wunder scheint geschehen: Die Preise sinken.
Die Ersten, die vergangene Woche davon erfuhren, waren die Apotheker. Sie bekamen die neue »Lauer-Taxe« zugestellt. So heißt die Preisliste sämtlicher 355 000 Artikel, die in einer deutschen Apotheke verkauft werden können.
Und dort stand es: Exakt 11 412 Produkte sind in der Nacht zum 1. Juli billiger geworden, ein in der Geschichte der Apotheken ziemlich einmaliger Vorgang. Betroffen
waren viele der gängigsten verschreibungspflichtigen Arzneimittel. Der Preisrutsch betrug teilweise mehr als 50 Prozent.
100 Tabletten des Bluthochdrucksenkers Enalapril von Stada kosteten bisher 22,49 Euro, jetzt nur noch 15,68. Der Appetitzügler Reductil ist nunmehr für 115 Euro zu haben, vergangene Woche waren noch 274 Euro fällig. 50 Tabletten des Magenmittels Cimetidin kosten nun 10 Euro statt 20, was per se schon einmal magenfreundlicher ist. Auch Tramadol der Firma Sandoz lindert nun Schmerzen für 38,60 Euro statt 51,47 Euro.
Grund des Preisverfalls ist ein Gesetz, das die Gesundheitsministerin mit viel Mühe durch den Bundesrat gebracht hat. Demnach entfällt seit vergangenem Samstag bei vielen Medikamentengruppen die Zuzahlung für Patienten, wenn sie sich in der Apotheke für ein besonders preiswertes Präparat entscheiden. Bislang mussten sie zwischen fünf und zehn Euro aus der eigenen Tasche zuschießen.
Sparsame Kunden sind nun aufgefordert, in der Apotheke eine möglichst preiswerte Arznei zu verlangen. Die Auswahl ist groß. Auf dem Rezept steht schließlich nur der Wirkstoff. Und weil kein Pharmahersteller riskieren will, dass seine Pillen im Lager verstauben, geben sie sich plötzlich mit etwas bescheideneren Gewinnspannen zufrieden.
»Die Preise sinken gewaltig«, sagt Johannes Mönter, der bei Osnabrück eine der größten Apotheken Deutschlands, Sanicare, betreibt, »bis zu 40 Prozent«.
Mitleid mit den Pharmaherstellern sei deswegen aber unangebracht: Deutschlands Preise hätten sich lediglich auf das Weltniveau zurückgepegelt. »Da sieht man doch«, sagt Mönter, »wie viel Luft in den Preisen bisher drin war.«
Für die Pharmakonzerne muss es eine geradezu schockierende Erfahrung sein. Im deutschen Gesundheitswesen haben sie es plötzlich nicht nur mit Ärzten, Krankenkassen und Apothekern zu tun, sondern mit den Endverbrauchern, den Patienten. Und die erweisen sich als ausgesprochen kritische Kunden.
Es ist eine Erkenntnis, welche viele Experten am liebsten zum Prinzip erheben würden, um das Gesundheitswesen zu kurieren. Um die großen Gesundheitsrisiken auch künftig solidarisch absichern zu können, sei im Alltag mehr Eigenverantwortung gefragt.
Ökonomen schlagen vor, den Leistungskatalog der Krankenkassen auf eine medizinische Basisversorgung abzuspecken, die von allen Bürgern über Steuern finanziert wird. Gutverdiener müssten deutlich mehr bezahlen als sozial Schwächere. Alle weiteren Medizinleistungen würden künftig privat abgesichert. Jeder könnte selbst entscheiden, ob er beispielsweise bei Zahnbehandlungen Vollkaskoschutz haben will oder bereit ist, einen Teil der Kosten selbst zu tragen.
Wie ein solcher Mix funktionieren kann, zeigt das Beispiel Finnland: Wer sich in Helsinki oder Turku privatärztlich behandeln lassen möchte, muss etwa 40 Prozent der Rechnung aus eigener Tasche berappen. Auch bei vielen anderen Gesundheitsleistungen müssen die Patienten ein gut Teil der Kosten selbst zahlen. Die ersten drei Besuche beim Hausarzt kosten mindestens je elf Euro, und auch bei den Medikamenten müssen die Finnen zuschießen. Zugleich hat der Staat eine höchst effiziente und spottbillige medizinische Grundversorgung aufgebaut. So hat die Regierung im ganzen Land Gesundheitszentren gegründet, die aus lokalen Gemeindesteuern finanziert werden und den früheren ostdeutschen Polikliniken ähneln.
Extras und freie Arztwahl gibt es kaum, dafür eine solide medizinische Versorgung zu einem unschlagbar günstigen Preis. Rund 2000 Euro gibt jeder Finne dafür jedes Jahr im Durchschnitt aus, in Deutschland sind es fast 1000 Euro mehr.
Obwohl die Finnen europaweit mit die längsten Wartezeiten auf Operationen haben, sind 70 Prozent zufrieden mit ihrem System. Ihre Gesamtbelastung ist sehr niedrig, bei guten medizinischen Resultaten. Die Lebenserwartung ist hoch, die Säuglingssterblichkeit geringer als in Deutschland.
In Ärztekreisen haben sich die Vorzüge des Gesundheitssystems bereits herumgesprochen: 43 deutsche Mediziner arbeiten inzwischen in Finnland.
JÜRGEN DAHLKAMP, UDO LUDWIG,
HEIKO MARTENS, CORDULA MEYER,
ALEXANDER NEUBACHER, MICHAEL SAUGA