TÜRKEI-HILFE Kollektiver Mief
Nachdem der stellvertretende türkische Ministerpräsident Turgut Özal Mitte Januar in Bonn Helmut Schmidt wegen der wirtschaftlichen Notlage seines Landes um weitere Finanzhilfe gebeten hatte, schnitt der Kanzler ein heikles Thema an. Er würde es begrüßen, so Schmidt, »wenn sich die Gefängnisse in der Türkei leeren würden«.
Darauf der Türke: Er könne den Kanzler »sehr gut verstehen«. Schließlich sei sein eigener Bruder, Mitglied der rechten Heilspartei, aus politischen Gründen inhaftiert.
Zuvor hatte schon Finanzminister Hans Matthöfer den ökonomischen Chefplaner Özal bei einem Treffen in Washington wissen lassen, sein persönliches Engagement für eine neue Hilfsaktion sei abhängig von der innenpolitischen Entwicklung in der Türkei.
Zwei Monate nach dem Putsch der Militärs im September 1980 waren die Bonner dem Nato-Verbündeten mit 600 Millionen Mark für die türkische Rüstung zu Hilfe gekommen.
Selbst SPD-Linke wie Norbert Gansel und Karl-Heinz Hansen widersprachen in einem Arbeitskreis ihrer Fraktion nicht, als dort bekannt wurde, daß die türkische Polizei für 15 Millionen Mark aus der Bundeskasse ausgerüstet werden soll. Sie beugten sich dem Argument, nur eine schlagkräftigere Polizei könne effektiver gegen Rauschgifthandel in der Türkei vorgehen -- obwohl, so SPD-MdB Karsten Voigt, »niemand ausschließen kann, daß diese Finanzhilfe für die Drogenbekämpfung nicht auch die Effektivität der Polizei auf anderen Gebieten steigert«.
Den Türken reichen die Millionen nicht. Sie verlangen mindestens weitere 1,16 Milliarden US-Dollar -- noch einmal die gleiche Summe, die Finanzminister Matthöfer bereits bei befreundeten Staaten und zu Hause einsammelte, um Ankara zu stützen.
Inzwischen hat sich die Lage beim Nato-Partner aber erheblich gewandelt. Zwar herrscht, seit die Generäle die Macht übernahmen, Ruhe im Lande. Terroranschläge, bei denen binnen zwei Jahren mehr als 5000 Menschen starben, gibt es kaum noch. Doch immer mehr, registrierte der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Freimut Duve, »verlagert sich der Terror von der offenen Straße in die Gefängnisse«.
Über 32 000 Menschen wurden verhaftet, darunter Links- und Rechtsradikale, Gewerkschafter, Oppositionelle. Verbrennungen, Elektroschocks, Schläge mit Gewehrkolben, Scheinhinrichtungen und Vergewaltigungen, erfuhr eine schwedische Gewerkschaftskommission in der Türkei, sind an der Tagesordnung.
Innerhalb eines Monats, meldete die türkische Zeitschrift »Yanki«, starben neun Menschen »unter verdächtigen Umständen« in Polizeigewahrsam. ÖTV-Chef Heinz Kluncker nach einem Besuch in dem Nato-Land: »Die Menschenrechte werden dort mit Füßen getreten.«
In der Bundesrepublik häufen sich die Proteste. Mit Hungerstreiks versuchen S.48 Türken und Deutsche in westdeutschen Städten die Bundesregierung auf die Mißstände in dem befreundeten Staat aufmerksam zu machen. Der sozialdemokratische Europa-Parlamentarier Dieter Schinzel möchte die Türkei aus dem Europarat ausschließen.
Die SPD-Parlamentarier Duve und Manfred Coppik wollen jegliche Militär- und Wirtschaftshilfe für die türkischen Militärs stoppen. Coppik: »Bei der Güterabwägung zwischen einer Stärkung der militärischen Südflanke der Nato und der Erhaltung elementarer Menschenrechte sollten wir uns für die Menschenrechte entscheiden.«
Doch trotz Protesten und Bonner Sparhaushalt wird die Bundesregierung nicht umhinkommen, auch in diesem Jahr gemeinsam mit den USA wieder den größten Teil der von den Türken verlangten Summe aufzubringen: Mit der Millionen-Spende kann Kanzler Schmidt dem neuen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan bei seinem Antrittsbesuch in Washington im April die unverminderte Bündnistreue Bonns beweisen.
330 Millionen Mark hält Entwicklungshilfeminister Rainer Offergeld als Soforthilfe bereit. Weitere 130 Millionen Mark sind für langfristige Entwicklungshilfeprojekte vorgesehen.
Zweifelhaft nur, ob der Finanzminister auch in diesem Jahr gewillt ist, in einer weltweiten Spendenaktion die Milliarden einzutreiben. Die »entscheidende Frage«, die zuvor geklärt werden müsse, ist für Matthöfer, ob die Militärs Menschenrechtsverletzungen in der Türkei billigen oder ob sie die Übergriffe ahnden.
Der deutsche Botschafter in Ankara versucht abzuwiegeln. Die Nachrichten über Menschenrechtsverletzungen seien, so berichtete Dirk Oncken, »von der hiesigen extremen Linken«, die nach »anfänglicher Desorientierung Tritt zu fassen sucht«, und von der »in Wahrheit linksradikal durchsetzten Istanbuler Rechtsanwaltskammer« lanciert.
Niemand, so der Diplomat, halte die überbelegten und sanitär schlecht ausgerüsteten Gefängnisse »für einen angenehmen Aufenthaltsort«. Straffällig gewordene Gastarbeiter würden aber »nach glaubwürdigen Berichten« lieber »in dem kollektiven Mief türkischer Haftanstalten leben, wo sie von Freunden und Verwandten nach Belieben versorgt werden können«, als in »unserem hygienischeren Strafvollzug«.
Folterungen, die Oncken als »verschärfte Vernehmungen« umschreibt, will der Diplomat »nicht ausschließen«. Wenn es solche Ausschreitungen gebe, dann wahrscheinlich, weil »eine schlecht ausgerüstete, schlecht ausgebildete und schlecht besoldete Polizei versucht, mit vergleichsweise übermächtigen Terroristenbanden fertig zu werden«. Im übrigen seien die Türken an derlei gewöhnt: »Gedankenlose Brutalität erscheint Bestandteil des täglichen Lebens.«
Für Bonns Mann in Ankara »steht außer Frage«, daß die Menschenrechte in der Türkei nach dem Putsch vielleicht sogar »besser gewährleistet sind als zuvor«. Schließlich gäbe es »keine systematische, von der Regierung angeordnete Folterpraxis«. Und das ist nach Oncken der »entscheidende Punkt«.
Doch die Bonner mögen ihrem Botschafter nicht so recht trauen. Eine Delegation von SPD- und FDP-Parlamentariern des Auswärtigen Ausschusses soll vor Ort selbst die Lage erkunden. Karsten Voigt: »Wir müssen wissen, wie es da wirklich aussieht.«
Entwicklungshilfeminister Offergeld fragt sich inzwischen, ob weitere westdeutsche Millionen für die Türken nicht besser ausgegeben werden können.
Das ausländische Bargeld bei der letzten Zahlung war nämlich von den Türken vor allem für Umschuldungen ausgegeben worden. Nunmehr will Offergeld an die Millionenhilfe aus Bonn »entwicklungspolitisch sinnvolle Bedingungen« knüpfen. Vordringlich seien Energieprojekte, um die Abhängigkeit des Landes vom teuren Öl zu mindern.
Zudem hält es der Minister für besser, wenn Bonner Experten die Verwendung des deutschen Geldes kontrollieren.
Mißtrauen scheint angebracht. Im vergangenen Jahr mußten Mitarbeiter der Frankfurter Kreditanstalt für Wiederaufbau und des Offergeld-Ressorts in Ankaras Amtsstuben selbst die Unterlagen zusammensuchen, um 100 Millionen Mark überweisen zu können. Die türkischen Beamten hatten sie nicht gefunden.