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SCHUMANPLAN / INTERNATIONALES Kombinat Europa

aus DER SPIEGEL 20/1950

Am wolkenverhangenen Himmel des Abendlandes stieg letzte Woche das bunteste Brillantfeuerwerk auf, das Europa seit langem erlebte. Diplomatischer Feuerwerker mit stählernem Knalleffekt war Frankreichs Außenminister Robert Schuman.

Selbst Londons mit Superlativen sparsame Tante »Times« konnte nicht umhin festzustellen: »Die Ergebnisse der Außenminister-Konferenz, der Vorschlag Schumans und die Entscheidung der Bundesregierung für den Europarat machen die vergangene Woche zu einer Woche der Hoffnung und der Verheißung für die westliche Welt.« Schon vorher hatte Stockholms »Svenska Dagbladet« übertrieben: »In London herrscht Locarno-Stimmung«.

Es war nicht die einzige Uebertreibung. Am Dienstag, dem 9. Mai 1950 - so hörte man an deutschen Lautsprechern - , habe Frankreichs Außenminister vorgeschlagen, den Vertrag von Verdun (843 n. Chr.) zu annullieren. Karl der Große müßte an der Union der deutsch-französischen Schwerindustrie seine Freude haben. Die 1107 Jahre bestehende Teilung des karolingischen Erbes solle rückgängig gemacht werden.

Immerhin: Schumans Vorschlag gab der Londoner Konferenz die Wendung zum Positiven. Er bezweckt nicht mehr und nicht weniger als: die europäische Politik aus dem Sumpf zu ziehen. Am eigenen Zopf.

Folgendes sind die Vorschläge: Frankreich und Deutschland bilden eine gemeinsame Oberbehörde; sie koordiniert die Stahl- und Kohlenproduktion beider Länder. Jedem anderen Lande ist der Beitritt zu dieser Behörde offen. Die Funktionen der Oberbehörde sind:

* Modernisierung und Rationalisierung der Kohlen- und Stahlproduktion

* Versorgung der französischen und deutschen Wirtschaft (sowie der Wirtschaft jedes anderen Mitgliedsstaates) mit Kohle und Stahl zu gleichen Bedingungen

* Gemeinsame Exportplanung und -entwicklung

* Angleichung der Löhne und sozialen Leistungen

* Abbau der Zollschranken

* Angleichung der Preise und Frachten.

»Die Produktion« - sagt Robert Schuman - »wird ohne Unterschied und ohne Ausschließung der ganzen Welt angeboten werden als Beitrag zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Friedenswerke. Europa wird mit mehr Mitteln an die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben herangehen können: die Entwicklung des afrikanischen Kontinents«. Die Zusammenlegung von Kohle und Stahl sei die erste konkrete Etappe auf dem Wege zur europäischen Föderation. Und damit zu dauerndem Frieden.

Kein Mammut-Karteli. Zum mindesten zu dauerndem Frieden zwischen den schwerindustriellen Ehepartnern, schränkten die Kommentatoren anderntags ein. Aber auch das wäre nicht wenig.

Die Wirtschaftskraft der Ruhr könnte sich nicht gegen Frankreich wenden, dessen steter Alpdruck sie seit Jahrzehnten war und - trotz Besatzungsstatut - heute noch ist. Ein Markt von 90 Millionen Menschen würde entstehen. Im letzten Jahr produzierten Westdeutschland, die Saar und Frankreich zusammen 20 Millionen Tonnen Rohstahl und reichlich 160 Millionen Tonnen Kohlen. Es wäre ein Riesenkartell. Aber es soll keins sein.

Kartelle sind Absprachen privater Produzenten. Durch ein Quotensystem regulieren sie die Produktion. Sie schränken sie ein, wenn die Nachfrage sinkt - bei gleichbleibenden Preisen. Die Rechnung bezahlt der Verbraucher. Mit hohen Preisen hält er auch den unrentablen Erzeuger am Leben.

Schuman will kein Stahl- und Kohlen-Kartell im Mammutformat. Sein Plan stellt die Produktion unter Regierungsaufsicht und wahrt damit das öffentliche Interesse an steigender Erzeugung und fallenden Preisen. Kein Mitglied der obersten Behörde soll mit der Schwerindustrie versippt oder finanziell verschwägert sein.

Paritätisch sollen die Stahl- und Kohlen-Lenker aus einem Kreis unabhängiger Personen von den Regierungen ernannt werden. In Streitfragen soll ihr Vorsitzer entscheiden. Kandidat für den Präsidentenposten ist der französische Oberplaner Jean Monnet, einer der Väter des Schuman-Vorschlages, Modernisator der französischen Industrie nach dem Kriege.

An seinem Schreibtisch wurde die über den europäischen Stahlpaktanten stehende Kontrolle erdacht: Ein UNO-Beobachter soll darüber wachen, daß die Erzeugnisse der Mitgliedsstaaten allen Ländern der Erde zur Verfügung stehen und daß sie nur friedlichen Zwecken dienen. Zweimal jährlich wird der UNO-Mann seine Beobachtungen in einem öffentlichen Bericht seinen Auftraggebern in Lake Success und der Welt vorlegen.

Nicht nur an den Weltfrieden haben die Pariser Planer gedacht: Bereits bei der Aufstellung der neuen Behörde soll ein neutraler Schiedsrichter etwa auftretenden Streit der Eisen- und Kohle-Leute untereinander schlichten.

Dieses Verfahren hat sich schon einmal in einer ähnlichen Situation bewährt: Als nämlich die Fragen zu regeln waren, die sich aus der Teilung Oberschlesiens zwischen Polen und Deutschland nach dem ersten Weltkrieg ergaben. Damals wirkte schon bei den Vorverhandlungen ein Beauftragter des Völkerbundes als Schlichter mit.

Professor Kaufmann, der jetzige außenpolitische Berater der Bonner Regierung, war an der Ausarbeitung der Oberschlesien-Konvention beteiligt. Ebenso Georges Kaeckenbeeck, der jetzige Generalsekretär der Internationalen Ruhrbehörde. Kaeckenbeeck war kurz vor der Verkündung des Planes bei Schuman. Es ist wahrscheinlich, daß er ihn in den Methoden beraten hat.

Massen in Bewegung. Die Zeit wird zeigen, ob es die richtigen sind. Mangel an Kühnheit wird dem Schuman-Plan nicht vorzuwerfen sein. Folgendes sind die Massen, die in Bewegung gesetzt und zueinandergeführt werden sollen:

Die französische und die deutsche Stahlproduktion waren 1949 gleich schwer: beide betrugen reichlich 9 Millionen Tonnen Rohstahl. Zur französischen kommt noch die des Saargebietes mit 1,7 Millionen Tonnen. Während die westdeutsche Rohstahl-Erzeugung vorläufig zwangsweise noch auf 11,1 Millionen Tonnen im Jahr beschränkt ist (gegenüber rund 15 Millionen 1939), wächst und modernisiert sich die französische Stahlindustrie in raschem Tempo. Für die Modernisierung sorgt Monnet.

Sein Plan sieht für die französische Stahlindustrie bis 1952 eine Investition in Höhe von 4,2 Milliarden DM vor. Dieser Prozeß gleicht der Rationalisierungswelle im Ruhrgebiet Mitte der zwanziger Jahre. Damals erhielt die Schwerindustrie im schwarzen Revier ihr Gesicht: Schließung der unrentablen Zechen, Konzentration der Kohleförderung auf Groß-Schachtanlagen, Zusammenfassung der Eisen- und Stahlproduktion in großen Einheiten.

So entstanden die Vereinigten Stahlwerke aus einer Fusion der Gelsenkirchener Bergwerks AG., der Thyssen-Betriebe, der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-AG. und des Bochumer Vereins. Als zweitgrößter Stahlkonzern der Welt (der größte: die United States Steel Corporation) begannen die Vereinigten Stahlwerke 1925 in 23 Hochöfenwerken mit der Erzeugung von Roheisen. Binnen kurzem war die Erzeugung auf neun Werke konzentriert. Aus 20 Siemens-Martin-Stahlwerken wurden 8, aus 7 Drahtwalzwerken 2. Die Erzeugung von 13 Blechwalz-Werken wurde auf 6 zusammengelegt.

Ein ähnlicher Prozeß der Konzentration auf wenige große Werkseinheiten geht in Frankreich unter dem Monnet-Plan vor sich. Von 176 Hochöfen hofft man 1952 nur 110 neugebaute oder modernisierte in Betrieb zu halten und damit die Produktion auf 12,5 Millionen Tonnen zu steigern (1938: 6,1 Millionen). Zur Zeit sind neun Hochöfen mit einer Einheitskapazität von 600 Tonnen im Bau. Durch Erstellung neuer großer Siemens-Martin- und Elektro-Oefen soll die Edelstahlproduktion erhöht werden.

Ebensosehr strengt Frankreich sich an, seine Walzkapazität zu erweitern. Gegenwärtig werden sechs vorhandene Anlagen elektrifiziert und zwei neue gebaut. In Lothringen (Solac) und Nordfrankreich (Usinor) werden Breitbandstraßen errichtet, aus denen jährlich eine halbe Million Tonnen preiswerte Bleche auf den Markt geworfen werden können.

Damit folgt Frankreich einer Entwicklung, die in den USA schon weit fortgeschritten ist. Amerika konnte infolge rationeller Erzeugung die Feinblechpreise innerhalb von 20 Jahren auf die Hälfte senken. Es verfügt heute über 36 Breitbandstraßen. - Deutschland über keine. Die einzige vorhandene - in Dinslaken - wurde demontiert und als Reparationsgut abgeliefert. An Rußland.

Ausgehöhlte Konzerne. Bei aller Modernisierung der französischen Schwerindustrie, bei aller Rationalisierung der Erzeugung ist jedoch die Verflechtung der Unternehmen bei weitem nicht so fortgeschritten wie in Deutschland. Die französischen Gesellschaften sind zahlreicher und kleiner.

In Deutschland dagegen hatte die Konzentration auf große Produktionseinheiten zur Folge, daß (1939) sechs Konzerne 90 Prozent des im Ruhrrevier hergestellten Stahles und zwei Drittel der geförderten Kohle kontrollierten. Die Vereinigten Stahlwerke produzierten allein die Hälfte des Stahls und beinahe ein Drittel der Ruhrkohle.

Der zweitgrößte Stahlerzeuger war der Krupp-Konzern. Dann folgten Hoesch, Gutehoffnungshütte. Klöckner und Mannesmann.

Nach Kriegsende wurden die Konzerne mit ihrem Besitz beschlagnahmt und alliierter Vermögenskontrolle unterstellt. Die Steinkohlenbergwerke wurden abgetrennt. Sämtliche Zechen wurden unter Einschaltung einer neugeschaffenen deutschen Kohlenbergbauleitung (Glückaufhaus Essen, Generaldirektor Heinrich Kost, stets mit roter Nelke im Knopfloch) einheitlich zusammengefaßt. Sie sollen - nach Ausgliederung von drei Zechengesellschaften in ausländischem Besitz - in rund 15 Gesellschaften gegliedert werden.

In der Stahlproduktion wurden bis Ende 1949 fünfundzwanzig Gesellschaften aus den Konzernen »entflochten«. Entflechter war Heinrich Dinkelbach als Leiter der Treuhandverwaltung im Auftrage der North German Iron and Steel Control. Er ist früheres Vorstandsmitglied der Vereinigten Stahlwerke. Diese 25 Gesellschaften repräsentieren den wesentlichen Teil der deutschen Eisen- und Rohstahlerzeugung.

Die ausgehöhlten Konzerne behielten jedoch Verarbeitungsbetriebe und Handelsgesellschaften. Gesetz Nr. 75 der Militärregierung vom Herbst 1948 bezweckte dreierlei:

* Liquidierung der alten Konzerne

* Beseitigung übermäßiger Macht-Konzentration

* Herstellung wettbewerbsfähiger Einheiten der Stahlindustrie und der Kohlenwirtschaft.

Das Gesetz trat für den Gesamtbereich der Bundesrepublik nicht in Kraft: der französische Oberkommissar sprach sein Veto. Grund: die endgültige Entscheidung über das Eigentum an Kohle und Stahl sollte einem bundesrepublikanischen Parlamentsbeschluß unterliegen. Das erschien François-Poncet zu gefährlich, für den Fall nämlich, daß die Entscheidung lautete: Uebernahme von Stahl und Kohle in Staatseigentum.

Vielleicht wird das Veto durch den Schuman-Plan überflüssig: Bei gemeinsamer Verwaltung von Kohle und Stahl und bei koordinierter Produktionslenkung tritt die Eigentumsfrage in den Hintergrund. Aber bis es so weit ist, fließt noch viel schmutziges Wasser die Emscher hinab.

In der Zwangsjacke. Bei allem Optimismus gibt es unter den Ruhr-Herren genug, die zunächst einmal die Schattenseiten des deutsch-französischen Unionsplanes sehen: Die französische Stahlindustrie hat sich weit über die Bedürfnisse des französischen Inlandsmarktes hinaus ausgedehnt. Nur durch scharfen Preisdruck auf den Exportmärkten kann sie ihre volle Produktion absetzen. Das Comité des Forges, die Dachorganisation der französischen Stahlindustrie, wird also versuchen, bei den kommenden Verhandlungen die deutsche Produktion in der gegenwärtigen Zwangsjacke von jährlich 11,1 Millionen Tonnen steckenzulassen.

Um demgegenüber die großen Ausblicke des Schuman-Planes nicht zu verbarrikadieren, plädieren die Deutschen dafür, daß die Verhandlungen von Politikern geleitet werden, - selbstverständlich unter Hinzuziehung der Fachleute. Jetzt bereits unter dem Stichwort »Gleichberechtigung« als Vorbedingung der deutschen Teilnahme die sofortige Aufhebung aller Stahlprodukttions-Begrenzungen zu verlangen, würde den Plan selbst gefährden. Es wäre nicht das erstemal, daß eine große Konzeption scheiterte.

Es wäre auch nicht das erste Mal, daß die Idee einer Zusammenlegung der Grundindustrien über nationale Grenzen hinweg aufflöge. Schließlich ist der Schuman-Plan - trotz des glänzend gelungenen Ueberraschungs-Effekts - kein »neuer Plan«. Aus alten Schubladen in Mülheim, Essen, Düsseldorf und Pont-à-Mousson hatte der Chef des Quai d'Orsay zu einem allerdings goldrichtigen Zeitpunkt - zehn Minuten vor zwölf - schon oft gedachte Gedanken hervorgeholt und sie in französischem New Look der erstaunten Welt neu präsentiert.

Die 360 Kilometer Luftlinie zwischen Lothringens Barock-Residenz Nancy und Hamm, dem Verschiebebahnhof des Ruhrgebiets am Ostrand des Kohlenpotts, sind Westeuropas schwerindustrielle Achse. Sie sind es, seit an Ruhr und Mosel die »großen Gründer« Krupp, Klöckner, Otto Wolff, Stinnes, de Wendel, Mayrisch und Schneider-Creusot ihre Reiche aus Fördertürmen und Hochöfen aufbauten. Von Anfang an war ihre Parole: »Eisen will zu Kohle - Kohle zu Eisen ...«

Poilus und Landser hatten zwar andere Marschlieder, aber auch ihre Stiefel folgten diesem »ökonomischen Gesetz«. Einmal nach Longwy und Briey, dann wieder an den Rhein und die Ruhr. Um Weinberge wurde nie gekämpft.

Zwischen Lothringen und Rhein-Ruhr

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wuchsen zwischen Ruhr und Lippe die Schlote aus dem Boden. Lothringens Hütten wurden ab 1879 aufgebaut. Ihr Minette-Erz brauchte fette Ruhrkohle; die der Saar war zu mager. Und die Hochöfen an der Ruhr brauchten Minette-Erz. So entstanden die ersten Verkupplungen aus Liebe zu Kohle und Eisen.

Peter Klöckner aus der katholischen Dynastie der Ruhrbarone sicherte sich in Aumetz, westlich Diedenhofen (Thionville sagen die Franzosen), seine Erzgrundlage. Baron de Wendel - aus einer von den zweihundert großen Familien Frankreichs, einst aus Mainz ausgewandert - griff bis nach Hamm. Aus Herringens fetten Schichten holte er Kohle für seine Hütten.

Der alte Saarkönig Freiherr von Stumm, Ahnvater der Eisen- und Diplomaten-Dynastie, herrschte auch in Lothringen und an der Ruhr. In Brambauer - nördlich Dortmund - ließ er die Schächte der Grube »Minister Achenbach« in Westfalens Rote Erde treiben. Französische Gesellschaften stiegen in die Gruben Dahlbusch ein. Französisches Kapital arbeitete in der Zeche mit dem deutschen Namen »Friedrich Heinrich« in Linfort am Niederrhein. Und - sinnvoll - auf »Carolus Magnus« bei Aachen.

Blut und Eisen. Als Preußens Regimentsfahnen 1914/15 siegreich auf Nordfrankreichs Hochöfen flatterten, bekamen die Ruhrbarone Annexions-Geschmack. »Kohle und Eisen sind nun durch Blut und Eisen zusammengeschmiedet« hieß es in Kaisergeburtstagsreden. Longwy und Briey kamen auf die Liste der Kriegsziele.

Dezember 1918 waren diese Träume ausgeträumt. Die Deutschen mußten auch aus Lothringen heraus. Mit Kuxen, Kind und Kegel.

In die Hütten und Gruben der Saar stiegen die französischen Industriellen ein. De Wendel übernahm den Remaux-Schacht. Marcel Paul aus Pont-à-Mousson erhielt Stumms Halberger Hütte. Die Ruhrindustriellen wurden von der Weimarer Republik reich entschädigt. Peter Klöckner erhielt für Aumetz die Zeche Werne.

Frankreichs Spitzenindustrielle schaukelten zwischen Rapprochement und Annexion, zwischen Annäherung und Angliederung. Wiederaufbau- und Außenminister Walther Rathenau nahm mit Industrieminister Loucheur, der selbst Industrieller war, in Wiesbaden erste Tuchfühlung auf. Ohne konkretes Ergebnis. Stinnes' sture Haltung durchstrich die Rechnung.

In Berlins Burggrafenstraße wohnte Professor Haguenin, Leiter der französischen Handelsmission. Der hatte schon während des Krieges in der Schweiz mit Matthias Erzberger konspiriert. Er unterhielt im Nachkriegsberlin den ersten politischen Salon, den eines Tags auch Gustav Stresemann betrat - damals noch Volkspartei-Vorstand.

Bei Haguenin kam Stresemann September 1922 mit Louis Barthou zusammen, dem einflußreichen Präsidenten der Reparationskommission. Aus dem romantischen Nationalliberalen Stresemann wurde der Verständigungspolitiker. Im Reichstag argumentierte er - wie heute Adenauer und Arnold - »Es gibt keine andere Lösung für Europa als eine Zusammenarbeit der deutschen und französischen Industrie«.

Der Kali-Großindustrielle Arnold Rechberg versuchte derweil in den Jahren von 1918 bis 1925 eine deutsch-französische Rüstungs-Allianz unter Betonung der Achse Wien-München-Paris gegen die Sowjets zu mobilisieren. Rechberg stand in nicht ganz aussichtslosen Verhandlunggen mit Marschall Foch, mit Briand und sogar mit Poincaré.

In Frankreich aber setzte sich die Annexionsgruppe des hintergründig-einflußreichen Comité des Forges durch. Raymond Poincaré, Lothringer aus Bar-le-Duc, befahl 1923 die Ruhrinvasion: die Poilus marschierten in Duisburg, Essen und Dortmund ein: »Kohle muß zu Eisen ...« Die Micum (Mission Interalliée pour le Contrêle des Usines et des Mines) besorgte das Geschäft. Da war auch André François-Poncet dabei. An der Ruhr verdiente er sich die Sporen der Deutschlandpolitik.

Gleichwohl gab Gustav Stresemann seinen Plan nicht auf. Ende Februar 1923, kaum einen Monat nach der Invasion, erklärte er Frederic Voigt, dem Korrespondenten des »Manchester Guardian«, daß es zu einem Gespräch zwischen den Westalliierten kommen müsse. Thema: Zusammenarbeit der Industrien.

Hugo Stinnes, wie ein Komet am wirtschaftlichen Himmel des 1918er Nachkriegsdeutschlands aufgestiegen, suchte seinerseits die Ruhrbesetzung zu überspielen. April 1923 konferierte Professor Haguenin - inzwischen Präsident des Garantiekomitees der Reparationskommission geworden - drei Tage auf Gut Mülheim mit Hugo Stinnes.

Der Konzerngewaltige argumentierte nüchtern mit Tatsachen und Zahlen. Sein Vorschlag: enge Zusammenarbeit zwischen französischer und deutscher Industrie. Das Ziel: Aufbau des französischen Kolonialreiches. Das stand seit jeher schwach in der Wirtschaftsbilanz des Mutterlandes. Frankreich hatte immer nur »pénétration pacifique«, »friedliche« Durchdringung, aber keine echte Kolonisierung und wirtschaftliche Aufschließung betrieben.

Die Erzgruben von Marokko, einst von den Brüdern Mannesmann aufgebaut, waren durch den Versailler Vertrag an die Banque de Paris et des Pays-Bas gefallen. Mit ihren hochwertigen Erzen hatten sie in der Kalkulation der europäischen Industriellen immer eine Rolle gespielt. Stinnes' Traum: der Eurafrika-Konzern.

Aber in Frankreich fanden sich keine kompetenten Traumdeuter. Haguenins Abgesandter wurde in Paris von Poincaré kalt abgefertigt: »Stinnes? Das ist nicht die deutsche Regierung ...« Stresemann hatte Paris wissen lassen, Stinnes genieße nicht die Sympathien der Reichsregierung. Das wird heute bezeugt von Konrad Adenauer, damaligem OB von Köln. Er war mit von der Partie des Hugo Stinnes.

Abgeblasenes Abenteuer. Frankreichs Ruhr-Abenteuer ging schief. Als Harding-Amerika sich von Europa zurückgezogen hatte und Englands Kronjuristen ihr Verdikt über die Poincaré-Politik sprachen, mußte Aristide Briand die »Paix Française« retten. Der dachte weniger an Kohle und Eisen als an die Anziehungskraft des französischen Lebensstiles à la Quartier Latin. Als im südschweizerischen Locarno die politischen Trauben reiften, blühte der Weizen der rheinisch-westfälischen Schlotbarone: Englands Bergarbeiterstreik füllte ihre Taschen.

Ein neuer Mann der großen Kapitalistengeneration trat auf den Plan: Emil Mayrisch, Präsident der Arbed in Luxemburg, brachte Westeuropas Stahlindustrielle an einen Tisch und gründete die Rohstahlgemeinschaft. Ein Komitee wurde gebildet, in dem Franz von Papen eine Rolle spielte: zwischen Ruhr, Saar und Lothringen hatte er nicht nur wirtschaftliche, sondern auch verwandtschaftliche Bande.

Die große Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre erstickte auch im alten Kontinent den Rauch in den Schloten und die Glut in den Hochöfen. Kanzler Brüning subventionierte die Industrie, um Devisen hereinzuholen. Der deutsche Export-Dumping bedrohte Frankreichs Industrielle.

Herbst 1930 pilgerten Pierre Laval und Aristide Briand nach Berlin. Es war der erste französische Staatsbesuch nach dem ersten Weltkrieg. Die Pariser hatten einen Plan ausgekocht, der dem alten Stinnes-Plan glich wie ein Ei dem anderen: die Ruhrindustrie sollte Frankreichs Kolonien aufbauen - dorthin sollte Deutschlands Ueberproduktion geleitet werden.

Als neuer Botschafter hielt André François-Poncet am Pariser Platz in Berlin Einzug. Er wurde Präsident der »Deutsch-Französischen Wirtschaftskommission«. Am gleichen Sonntag, an dem der leberkranke Laval unter Schmerzen mit Heinrich Brüning verhandelte, gab es in Hamburg einen NS-Wahlsieg. Die Pariser Kommunisten sprachen vom »Rapprochement des coffreforts«, von der »Annäherung der Geldschränke«.

Um die gleiche Zeit führte Joachim von Ribbentrop, damals noch Einkäufer von Champagnerweinen für Schwiegervater Henkell, erste, vertrauliche Gespräche in Paris. Thema: Wie wird Frankreichs Industrie auf eine Machtübernahme Hitlers reagieren? Ribbentrop kam als Abgesandter des Braunen Hauses.

Drei Jahre nach Hitlers Machtübernahme versuchte Volksfront-Premier Léon Blum es noch einmal mit einem »Plan zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich«. Eine Woche später tat Hitler Blums Vorschläge geringschätzig ab. Als »Plan eines revolutionären Literaten«.

Kollaboration der Geldschränke. Das hinderte jedoch Frankreichs Industrielle nicht, auf dicke Handelsverträge mit Nazideutschland zu drängen. Minette-Erz rollte in langen Güterzügen über Forbach nach Osten, Koks von der Ruhr nach Lothringen.

Ab Mai 1940 erübrigten sich die Handelsverträge: nach kurzer Unterbrechung setzte die Kohlen-Eisen-Wanderung wieder ein. Die »Kollaboration der Geldschränke« blühte wie nie zuvor. Das Bankhaus Harry Worms in Paris - der Chef saß mit Rothschild inzwischen in New York - verschachtelte deutsche und französische AG's. Beiträge flossen an die Résistance wie Prämien an eine Lebensversicherung.

Hermann Röchling schloß - mit Hitlers Segen - Ruhr, Saar und Lothringen in eine Produktionsgemeinschaft zusammen. Pont-à-Mousson wurde renoviert. Bei »Walter« an der Place de Stanislas in Nancy tafelten Nordfrankreichs Industrielle mit Röchling-Direktoren.

Röchling wollte die Roheisenproduktion auf 48 und sogar 56 Millionen Tonnen erhöhen. - Nach dem Kriege wurde der über 70jährige in Rastatt zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die Zusammenarbeit war zum Kriegsverbrechen geworden.

Nach der 1944er US-Invasion träumten Frankreichs Industrielle - wie 1923 - von Annexion. René Massigli, Botschafter Frankreichs am Hofe von St. James, formulierte in dicken Memoranden die Pariser Kriegsziele: Abtrennung der Saar, Abtretung des Rheinlandes, Ausgliederung und Internationalisierung der Ruhr. Das war Geist vom Geiste Morgenthaus. Und damals populär.

Noch März 1947 trug Georges Bidault diese Memoranden mit zur Außenministerkonferenz nach Moskau. Aber der kalte Krieg fror sie ein. Amerika wollte seine deutsche Zukunftsbastion nicht von vornherein unterminieren.

Washingtons Londoner Mann, Botschafter Lewis Douglas, entwickelte sich mehr und mehr zu Massiglis Konkurrenten auf politischem Parkett. Der ehemalige Bergingenieur, Schwager John McCloys und Gegner Morgenthaus sowie des New Deal nahm sich auch der Ruhrfragen an. Douglas war für freie Produktion, gegen einengende Kontrollen, für Zusammenarbeit der westeuropäischen Schwerindustrie. Von Massiglis Memoranden blieb schließlich nichts übrig als die Saar und - verwässert - das Ruhrstatut.

Ein anderer Gegner Massiglis saß im vierten Stock des Düsseldorfer Mannesmann-Hauses: Gesandter Dr. Kroll bombardierte seinen neuen Chef Karl Arnold, Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, mit Denkschriften über die Ruhr. So entstand zu Beginn des vorigen Jahres Arnolds Gegenvorschlag zum Ruhrstatut: nicht ein Statut für die Ruhr allein, sondern für alle Industrien Europas, - nicht zu vergessen das Kombinat Oberschlesien. Mit einer christlich-gewerkschaftlichen Konzession: auf genossenschaftlicher, nicht auf kapitalistischer Basis.

London reagierte kühl, Paris lehnte ab. Die Stunde war noch nicht reif.

Nach so vielen fehlgeschlagenen Versuchen sucht jetzt Robert Schuman einen neuen Anfang. Er ist zwischen Mosel-Weinbergen und den Hochöfen von Pont-à-Mousson aufgewachsen und kennt als Sénateur Lothringens Wirtschaftswünsche. Vielleicht gelingt es dem einstigen Bonner katholischen Korporationsstudenten, feldgrauem Gefreiten im ersten und französischem Widerständler im zweiten Weltkrieg, endlich Europas blaue Blume zu finden.

Irgendwo zwischen den Erzgründen von Briey und den Kohlenhalden der Emscher.

VON JENS DANIEL

Schumans Meister-Coup zieht seine Kreise. Englands Foreign Office windet sich in Eiertänzen. Eine deutsch-französische Industrie-Union wäre so ziemlich der heftigste Schlag gegen eine Grundmaxime englischer Festlandspolitik und gegen Labour*). Amerika begrüßt Frankreichs Vorschläge und beteuert, nichts von ihnen gewußt zu haben. Frankreich, das schwächste Glied in der Front gegen die Sowjets, steht als Vorreiter der europäischen Einheit da. Auch wenn England den Plan zum Scheitern bringt, der Triumph der französischen Diplomatie ist vollkommen.

Es hat nicht verwundert, daß Bundeskanzler Adenauer Schumans Ueberraschungsballon mit offenen Armen aufgenommen hat. Wo sein Herz zustimmt, nimmt der Kanzler sich selten Zeit zu prüfen. Und hier stimmt sein Herz schon seit 30 Jahren zu. Die Gefühle des Bundeskanzlers wären also bei künftigen Verhandlungen in Abzug zu bringen.

Es hat auch nicht verwundert, daß Kurt Schumacher die Reserve einhielt, die unorthodoxe Vorschläge bei ihm üblicherweise finden. Am Tage der Schuman-Erklärung kramte er die verstaubten Saar-Argumente wieder aus der Lade. Sachlich hat Schumachers Zurückhaltung gute Gründe.

Einleuchtend, daß ein Zusammenschluß der beiden Industrien nur möglich ist, wenn die Industriellen beider Länder zustimmen. Einleuchtend, daß die Industriellen nur zustimmen, wenn der neue Verband nicht nach sozialistischen Doktrinen arbeitet und nicht nach den Grundsätzen des Labour-Wohlfahrtsstaates. Einleuchtend, daß die Amerikaner dieses Kind nur dann mit Beihilfen legitimieren, wenn es nicht sozialistisch ist. Einleuchtend endlich, daß die SPD verspielt hätte, wenn sie es zulassen müßte, daß Lothringen und Ruhr zu einem schwerindustriellen Verband zusammenwüchsen, in dem Partei-Sozialdemokraten und sozialdemokratische Gewerkschaftler nicht die Mehrheit der deutschen Stimmen hätten.

Das sind begründete Bedenken der SPD, es brauchen nicht die Bedenken der beiden Völker zu sein. Das Projekt, Nord-Afrika mit Hilfe der deutsch-französischen Schwerindustrie zu erschließen, nimmt sich in seinen Umrissen so großartig aus, daß man dem Kanzler seinen spontanen »Hier!«-Ruf verzeihen könnte, wenn nicht Grund zu der Befürchtung wäre, daß er die Konsequenzen seiner Politik auch diesmal nicht sieht oder nicht sehen will.

Der Schuman-Plan bezweckt offensichtlich, Deutschland durch industrielle Verzahnungen zu kontrollieren und an den Westen zu binden. Wie weit er bezweckt, Deutschland zu drosseln, muß sich herausstellen. Beibt es wirklich ein Schuman-Plan, so wäre zu bedenken, daß die Drosselung Deutschlands im traditionellen französischen Lebensinteresse liegen muß. Soll aber Amerika mit seinem Beutel bei der Stange bleiben, ist eine Industrieallianz undenkbar, die nicht zu einer Rüstungsallianz hinstrebt. Was die Drosselung angeht, so werden die deutschen Industriellen schon aufpassen. Was aber die Aufrüstung angeht, so werden sie nicht aufpassen. Und auch der Kanzler wird vielleicht nicht aufpassen.

Wenn die Amerikaner Westeuropas Rüstungen dann auf eigene Füße stellen wollten, könnten wir wiederum nicht nein sagen, denn wir sind in unseren Entschlüssen nicht frei. Das ist für die Amerikaner ein großes Unglück, daß wir auf sie angewiesen und ihnen verpflichtet sind. Unsere Aufgabe für den Weltfrieden ist, die deutsche Einheit in Freiheit wiederherzustellen. Wir werden sie bestimmt nicht lösen, wenn wir Waffen für den Westen schmieden. Die Aufgabe der Amerikaner dagegen ist es, für jedes Land, das jetzt noch mit Gewaltmitteln annektiert werden soll, zum Krieg gerüstet zu sein. Das mag ihnen passen oder es mag ihnen zuwider sein, es ist nicht anders.

Die Deutschen haben ohne Notwendigkeit zwei fürchterliche Kriege geführt, man mag sich darauf verlassen, daß sie auch den dritten fürchterlichsten führen würden, bei dem es diesmal nicht um die Knechtung, sondern um die Befreiung der Welt ginge. Aber der Atom-Krieg ist kein Mittel der Politik mehr. Die heutigen Deutschen nützen der Welt mehr, wenn sie nicht gerüstet sind. Die Welt braucht einen Gürtel der Beruhigung und Entspannung zwischen Sowjets und Amerikanern. Wenn Frankreich - und da gibt es Anzeichen - sich in solch eine Pufferzone zusammen mit Deutschland unter dem Patronat Amerikas eingliedern will, so ist das ein Projekt, das unsere freimütigste Aufgeschlossenheit verdient. Freilich sind Kanzler Adenauer und die Franzosen zwei Partner, die in Berlin und auch anderwärts nicht den Ruf haben, daß ihnen die deutsche Einheit genau so am Herzen liegt wie die Union zwischen Lothringen und Rhein-Ruhr.

*) Englands Konservative Churchill und Eden stimmen dem Projekt zu, da sie mit seiner Hilfe das innenpolitische tote Rennen in eine Niederlage der Labour-Party umzuwandeln hoffen. Wie andererseits auch Adenauer und Blücher auf einer Woge von außenpolitischem Optimismus die wichtigen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen für eine Rechtsregierung entscheiden wollen.

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