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Kommt Europas Einheit nun von selbst?

Der Traum von einem vereinigten Europa hat keine Aussicht, verwirklicht zu werden. Man macht kein Omelette aus harten Eiern. Charles de Gaulle
aus DER SPIEGEL 23/1979

Eine Sternstunde der Menschheit steht uns am kommenden Wochenende bevor, ein Durchbruch von historischem Ausmaß, der Aufbruch in eine neue Zukunft: Die Deutschen dürfen die völkerverbindende Idee »Europa« wählen, dürfen gemeinsam mit den übrigen 140 Millionen Wählern den europäischen Rütlischwur leisten.

So jedenfalls klingt es in den Wahlkampfreden der Kandidaten. Sie sprechen in modischen Formeln vom »Europagedanken« und meinen damit, daß wir für Westeuropa eine Vielvölker-Föderation zu wollen haben, die von den Pyrenäen bis zum Großen Belt und von Messina bis nach Grönland reicht. Einzige Vorbedingung, so wird uns erzählt, sei die direkte Wahl des EG-Parlaments, alles Weitere komme mit den Jahren und ganz von alleine.

Der nächste Sonntag wäre nun tatsächlich ein welthistorisch folgenreicher Geburtstag, wenn mit der Wahl der 81 deutschen Europa-Abgeordneten die friedensreiche Zukunft europäischer Supranationalität anbrechen würde, diesmal ohne Stechschritt und Kanonendonner.

Für uns sollte dieser Geburtstag sogar ein Glückstag sein, denn Westdeutschland hat nichts zu verlieren, wenn es Europa hinzugewinnt: Die Wiedervereinigung Deutschlands rückt nicht ferner, als sie ist, unsere berühmte GSG 9 dürfen wir behalten, und auch den berüchtigten Extremistenbeschluß wird uns niemand abnehmen wollen.

Da haben es die Franzosen schon schwerer, auf den Tauschhandel einzugehen und für die europäische Integration einen Teil ihrer Identität aufzugeben. Und auch die Briten müßten auf skurrile Eigenheiten verzichten, die ihnen lieber sind als kontinentale Normen.

Während sich also unsere europäischen Nachbarn ernsthaft fragen, ob das supranationale Europa ein Fortschritt ist, soll hier in unserem Land schon alles pro Europa entschieden sein. Kein Zweifel, »unser Wort gilt in Europa«, wie Brandt und Schmidt Kopf an Kopf auf SPD-Plakaten verkünden. Westdeutschland, bitteschön, vertritt in Brüssel »die stärkste Wirtschaftsmacht Europas«, lassen CDU-Wahlkämpfer das europäische Ausland wissen: In keinem anderen Land wird mit soviel Geld, mit soviel falschem Pathos und blinden Hoffnungen EG-Propaganda gemacht wie hier.

Ob für oder gegen eine Stärkung der zentralen europäischen Macht, das steht gar nicht zur Debatte, das geht uns wie selbstverständlich herunter. »Ich glaube«, klopft Kurt Biedenkopf die eigene Schulter, »daß wir durch einen kraftvollen europäischen Wahlkampf der Einigung Europas neuen Schwung geben können.«

Ausgerechnet. Die Deutschen als Schwungrad Europas, das ist das letzte, was ringsum die Integrationsbereitschaft stärkt. In den Augen der Nachbarn haben sich die Deutschen der Europa-Idee geradezu bemächtigt und zu ihrer eigenen Sache gemacht. Wenn die CDU vor dem Papiertiger warnt ("Gegen ein sozialistisches Europa") und statt dessen ringsum »Glück für die Menschen« verbreiten will; wenn die SPD von Brüssel aus das »Europa der Arbeitnehmer« mit wöchentlich 35 Arbeitsstunden belohnen möchte; wenn sich die FDP europabreit um die Lebenserwartung der Singvögel sorgt, dann klingt dies im Brustton deutscher Überzeugungstäter nicht nur komisch, sondern auch bevormundend, expansiv, antieuropäisch.

Noch nie seit der Gründung der EG war die europäische Integration so illusorisch, noch nie ein Machtzuwachs der EG-Behörden so unerwünscht wie heute, am Wahltag der EG-Volksvertretung. In Frankreich, England und Dänemark sind den jüngsten Umfragen zufolge die Befürworter einer Machtausweitung der EG in der Minderheit. Mancher mag sich nun auf den Standpunkt stellen, die EG-Skeptiker seien ohnehin ewiggestrige Nationalstaats-Apostel, die ihre Maginotlinie bald räumen und den Weg freigeben müßten für das moderne, das integrierte Westeuropa des 21. Jahrhunderts.

Tatsächlich ist ja die EG bekanntermaßen schon heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, hat den zweitgrößten Binnenmarkt und den umfangreichsten Warenhandel. Alle sieben Tage muß der EG-Ministerrat zusammenkommen, um allseits bindende Beschlüsse und Richtlinien zu erlassen. Und auch die 13 Mitglieder der EG-Kommission tagen in Permanenz, um die Anwendung der EG-Verträge zu überwachen. Darüber hinaus gibt es auch schon einen supranationalen Europäischen Gerichtshof, dessen Urteile in der ganzen EG verbindlich sind.

Bei soviel zentralisierter Macht sei eine entsprechend wirksame parlamentarische Kontrolle dringend erforderlich, lautet die in allen Wahlkampfprospekten nachzulesende Schlußfolgerung.

Sie klingt plausibel -- nur: Die verlangte Kontrolle der Brüsseler Wirtschaftsmacht können auch die künftigen Parlamentarier nicht zuwege bringen. Denn statt klare Mehrheiten zu bilden, werden sie in ständig wechselnden Ad-hoc-Bündnissen jonglieren, je nachdem ob gemeinschaftliche, ob nationalstaatliche oder parteipolitische Interessen betroffen sind.

Gegen jeden Fortschritt in der europäischen Integration wird sich Frankreichs KP-Chef Georges Marchais mit dem CSU-Schützling Otto von Habsburg zusammentun, Gaullistenführer Chirac mit Linksradikalen aus Norditalien, Glistrups Steuerrebellen aus Dänemark mit dem linken Flügel von Labour aus England.

Auf der Gegenseite schließt sich der Antikommunist Helmut Kohl dem KPI-Chef Berlinguer an, macht Frau Wieczorek-Zeul womöglich gemeinsame Sache mit den Vertretern der Lady Thatcher, stützt der liberale Bangemann die Kampfrede des Sozialisten Mitterrand -- es darf gelacht werden, beschlossen wird, weil beide Lager gleich stark sind, wohl nichts.

Wenn aber doch, bleibt"s folgenlos. Während die Exekutive in den Staaten parlamentarisch verankert ist, darf das EG-Parlament keine Regierungsgewalt bestimmen, sie nicht mal kontrollieren; dort zerbröseln selbst schroffe Interessen-Gegensätze zu konturlosem Europa-Mampf.

Dieser Sachverhalt ist selbst unentwegten Integrationsfans nicht verborgen geblieben -- verwegen folgern sie aber daraus, daß selbst engstirnige Vaterlands-Gaullisten im Straßburger EG-Parlament bald einmal derart frustriert seien, daß sie einem Zuwachs ihrer Kompetenzen zustimmen würden.

Im übrigen werde das künftige Parlament dank prominenter Volksvertreter wie Willy Brandt, Simone Veil und Francois Mitterrand eine Eigendynamik entfalten, mit der es sich dann die fehlenden Kompetenzen von Europas Machthabern ertrotzen werde.

Das mag ja sein, schließlich haben sich auch die bisherigen EG-Parlamentarier ein paar zusätzliche Rechte beschafft zu den wenigen, die ihnen die Römischen Verträge zugestanden hatten.

Trotzdem täuschen solche Einwände über die eigentliche Misere hinweg. Denn eine Kompetenzausweitung des Parlaments ist für das Machtgefüge der EG-Bürokratie letztlich bedeutungslos, sie führt keineswegs zu der von allen Parteien behaupteten » Demokratisierung Europas«, sondern folgt in die Sackgasse nach, die der gesamten EG-Organisation von ihren Gründern vorgezeichnet war:

Eine von den Mitgliedstaaten losgelöste integrative Kraft entstand trotz aller Belebungsversuche nie, ein europäisches Volk ist aus der Vielfalt nie zusammengewachsen, gemeinsamer Wille machte sich nicht geltend.

Dem Trend der Zeit folgend, haben die Regierungschefs die Brüsseler Behörden vielmehr noch enger an die nationalen Interessen gebunden: Statt die von den Mitgliedstaaten unabhängige Kommission zur Exekutive auszubauen, geben sie dem Ministerrat auf Kosten der übrigen Gremien mehr Einfluß. Entmündigt wurden gerade die integrativen Organe, als Giscard d"Estaing und Helmut Schmidt ihren »Europäischen Rat« erfanden, ein periodisch stattfindendes Gipfeltreffen der EG-Regierungschefs. Seither machen sie unter sich aus, mit was sich die Brüsseler Eurokraten beschäftigen sollen.

Mithin: Infolge dieser Bevormundung der EG-Kommission würde nicht einmal ein starkes Europa-Parlament wirklich Macht besitzen. Denn seine Rechte gelten sowieso nur gegenüber der EG-Kommission, nicht gegenüber Ministerrat oder gar Europäischem Rat. Und wenn schon die Kommission entpolitisiert wurde, wie soll da das Parlament zu politischem Einfluß kommen?

Ganz hartnäckige und mit dem Gebrauch des Wortes »Demokratisierung« wenig zimperliche EG-Wahlredner behaupten schließlich noch: Selbst wenn es zutreffe, daß dem EG-Parlament alle lebenswichtigen Gemeinschaftsfragen vorenthalten sind, spreche dies noch lange nicht gegen die Direktwahl; auch bei unwichtigen Angelegenheiten sei es besser, wenn die Beschlüsse von gewählten statt nur delegierten Volksvertretern gefaßt und verantwortet würden.

Es mag tatsächlich sein Gutes haben, wenn in Zukunft die Brüsseler Verordnungen etwa über die Löchergröße in der Gießkannenbrause oder das Luftblasen-Volumen im EG-Hühnerei demokratisch zustande kommen, für den Fall, daß auch die Halter von Kleinwuchshennen ihre Interessen europäisch gewahrt sehen möchten. Auch könnte die direktgewählte Versammlung einen pädagogischen Nutzen haben und die breite Kluft zwischen den Bürgern und der Brüsseler Bürokratie schmälern helfen.

Aber selbst diese Perspektive ist nur Sand in den Augen der Europa-Wähler. Denn die angebliche Demokratisierung der EG-Bürokratie muß als Alibi herhalten, wenn politische Widerstände in den einzelnen Mitgliedstaaten ausgeschaltet werden sollen.

Zwar hat das EG-Parlament kein Recht, ins Pflichtenheft der Regierungschefs und ihres Ministerrats zu schauen -- umgekehrt aber können beide Gremien den EG-Abgeordneten jene Sachfragen zum Zanken überlassen, die sie vor ihren Heimat-Parlamenten nicht gern verantworten möchten: vielleicht die Standorte der nächsten 20 Atomkraftwerke oder den zentraleuropäischen Fahndungscomputer mit Standleitung zum BKA nach Wiesbaden, wer weiß es heute.

So gesehen, ist es geradezu ein Glück, daß zusätzlich zur Marktwirtschaft die politische Integration nicht stattgefunden hat. Auch wer noch nicht in Stiefeln und Ölzeug losgezogen ist, um gegen eine Anordnung der Behörden zu protestieren, müßte wohl das Knieschlottern bekommen, wenn er sich die verheerenden Folgen solcher Machtfülle ausmalt.

Die politische, kulturelle und nicht zuletzt auch räumliche Distanz zwischen dem mächtigen europäischen Schaltzentrum und der Alltagswelt der Bürger würde künftige Protestbewegungen radikaler, die Bürgerinitiativen militanter machen -- und die Hilflosigkeit der politischen Parteien zum Ohnmachtsgefühl der Bürger steigern, Wünsche nach unbedingtem Schutz von Hab und Gut wecken, koste es, was es wolle.

Die Direktwahl vom 10. Juni ist nicht die Inkarnation einer neuen Europa-Idee, vielmehr: Ein inzwischen altgewordener Irrtum aus den Nachkriegsjahren wird konsequent zu Ende geführt. Manche merken das, reagieren ratlos. Vermutlich wird sich rund die Hälfte der 180 Millionen Wahlberechtigten dem Europa-Votum verweigern.

Diejenigen, die deshalb mit erhobenem Zeigefinger über mangelndes demokratisches Engagement der Europäer schimpfen, sind die Opfer ihrer eigenen Lügengeschichten.

Gottfried Benn resignierte 1912: »Europa, dieser Nasenpopel aus einer Konfirmandennase, Wir wollen nach Alaska gehn.«

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