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Briefe

KOMPLICE UND KOMPLICIN
aus DER SPIEGEL 23/1968

KOMPLICE UND KOMPLICIN

(Nr. 20/1968, Große Koalition ohne Ende)

Professor Hennis' heftige Vorwürfe gegen den SPD-Vorstand sind nicht berechtigt. Denn seitdem im Herbst 1966 von der Großen Koalition das Mehrheitswahlrecht in Aussicht genommen wurde, haben sich die Verhältnisse für die SPD ungünstig verändert. »Genosse Trend« steht nicht mehr auf ihrer Seite, sondern hat sich bei mehreren Landtagswahlen gegen sie gewendet. Man kann es ihr also nicht verdenken, wenn sie nun von der Mehrheitswahl wieder abrückt und an der Verhältniswahl festhalten will. Sonst würde sie Gefahr laufen, von den 500 Wahlkreismandaten nur etwa ein Drittel zu gewinnen, also noch unter die durch Infas errechnete Grenze von 206 Sitzen herabzusinken.

Nußdorf (Bad.-Württ.)

DR. HEINRICH WEBER

Man begeht wohl keinen Fehler, wenn man annimmt, daß etwa ein Drittel der Wähler für die Parteien stimmen werden, die derzeit nicht an der Regierung beteiligt sind. Mir ist nicht klar, mit welchem moralischen Recht man diese Stimmen einfach wegeskamotieren will. Ein Parlament sollte doch den Wählerwillen möglichst genau widerspiegeln.

Bern G. A. MATTAUSCH

Die wahre Volksmeinung kann in einem Parlament aufgrund des sogenannten Mehrheitswahlrechts, das eigentlich »Minderheitswahlrecht« heißen müßte, nie gerecht zum Ausdruck kommen, denn in vielen Wahlkreisen würde eben eine Minderheit die absolute Mehrheit schlagen. Das durch Generationen erstrittene Verhältniswahlrecht ist und bleibt das einzig saubere und gerechte! Es ist lächerlich zu sagen, daß damit keine aktionsfähige Regierung ermöglicht werden könnte. Das ist bei uns bewiesen und wird in vielen anderen Staaten Europas bewiesen. Die Engländer brauchen wir ja nicht zu kopieren.

Augsburg HEINRICH RICHTER

Zwar habe ich als Sozialdemokrat vom alten Schrot und Korn, der nie eine höhere Schule besucht hat, die sicher schöne lateinische Schlußsentenz in Professor Hennis« »Große Koalition ohne Ende?« nicht verstanden, eines ist mir klargeworden: Selbst die aufgeschlossensten deutschen Professoren peilen an der Wirklichkeit meilenweit vorbei. Professor Hennis schreibt da einmal: »Die Determination des Wählerverhaltens in den Bereich des Subpolitischen verlegen, heißt die Intelligenz des Wählers doch ein wenig zu gering einschätzen.« In der Tat kann die Intelligenz des Wählers überhaupt nicht gering genug eingeschätzt werden. Für einen Professor, der immerhin mit halbwegs intelligenten Leuten zusammenkommt, mag das nicht zu erkennen sein, für uns Kanalarbeiter jedoch, die täglich mit dem Mann auf der Straße zu tun haben, ist die politische Unmündigkeit des deutschen Wählers schlicht und schlechthin immer wieder erschütternd. Das heißt praktisch, daß CDU/CSU in einigermaßen normalen Zeiten einer Mehrheit, die SPD hingegen der Oppositionsrolle sicher sein können; sollten sich diese Läufte verschlechtern, so dürfte auch die NPD auf Direktmandaten in den Bundestag einziehen. Ich könnte dem Mehrheitswahlrecht, und das unter großen Bedenken nur dann zustimmen, »wenn, wie in England, ein demokratisches Wechselspiel abzusehen wäre.

Augsburg FRITZ SCHMIDT

Aus eingeweihten Kreisen ist zu erfahren, daß man sich im SPD-Vorstand bis zum nächsten ordentlichen Parteitag mit »Komplice« und »Komplicin« anreden wird.

Barcelona HANS-WERNER FRANZ

verhindertes SPD-Mitglied

Statt um das bescheidene Glück der .30 Prozent Parlamentspfründe mit Pensionsberechtigung nach zwei Legislaturperioden und entsagungsvoller Regierungsbeteiligung zu bangen, sollten die Abgeordneten der SPD ihr Koalitionsversprechen einlösen und damit die einzig legitime Rechtfertigung der Großen Koalition geben. Sie sollten die relative Mehrheitswahl durchsetzen und nicht etwa seltsame Vierer-Wahlkreis-Manipulationen und dann den Wähler an seiner Haustür aufsuchen und mutig in den Wahlkampf ziehen. Sie sollen endlich um den Sieg kämpfen, auch wenn sie ihn 1969 noch nicht erreichen.

Berlin DR. KARLHEINZ KITZEI

Wenn man nämlich versucht, durch Änderung des Wahlrechts die NPD aus dem Bundestag herauszuhalten, so stellt dies eine Manipulation und gleichzeitig ein Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit dar. Fühlt man sich denn schon so schwach, um mit der NPD in der normalen politischen Auseinandersetzung fertig zu werden, um sie in der Diskussion zu stellen und um damit der Bevölkerung zu zeigen, was hinter den wirren nationalistischen Phrasen dieser Herren eigentlich steckt? Etwas mehr Mut und Selbstvertrauen in diesem Punkt möchte man unseren Politikern in Bonn schon wünschen. Bei der NPD ist schließlich noch viel weniger Gold, was glänzt, als in anderen Parteien.

Erlangen KARL-HFANZ HIERSEMANN Unterbezirksvorsitzender der Jungsozialisten

Der kritische Bericht von Professor Wilhelm Hennis »Große Koalition ohne Ende?« im SPIEGEL Nr. 20/1968 ist das sachlich Richtigste und zugleich Überzeugendste, was je über das deprimierende Versagen der SPD in der Wahlrechtsfrage geschrieben worden ist. Ein »Danke-schön« dem SPIEGEL, daß er den Bericht gedruckt hat (welche Hintergedanken er dabei auch immer hatte).

Nun könnte es einem gleichgültig sein, ob sich die SPD ohne Not für weitere Jahrzehnte und auf ewig in der anscheinend manchem lieb gewordenen Opposition ansiedeln möchte oder nicht -- nicht gleichgültig sein kann allerdings, daß dabei unsere Demokratie mit tödlicher Sicherheit ein zweites Mal vor die Hunde geht. Wenn nämlich 1969 die »Große Koalition« nur deshalb fortgesetzt wird, weil es keine regierungsfähige Alternative gibt, und 1973 wieder nach dem derzeitigen Verhältniswahlrecht gewählt wird, mit der Folge, daß es dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch mehr als fünf Parteien im Bundestag geben wird -- dann kann man sich unschwer vorstellen, daß es praktisch unmöglich sein wird, eine funktionsfähige Regierung zustande zu bringen, was schon mit drei und vier Parteien schwer genug ist. Villiprott (Nrdrh.-Westf.)

DR. ERWIN LUNKE Ministerialrat im

Bundesinnenministerium

Einleuchtender als Professor Hennis hat noch niemand in der SPD die Ersetzung von Politik durch Wahlrechtsmanipulation gefordert; über Theorie und Praxis der Notwendigkeit der »Großen Koalition« schludert er nur so dahin.

Hamburg WILLY BISCHOFF

Die Äußerungen, Wilhelm Hennis mute den Deutschen mit seiner Habilitationsschrift eine für sie ungewöhnliche Ansicht zu und habe sich da weder Positivist noch Utopist -- wissenschaftstheoretisch zwischen zwei Stühle gesetzt, zeigen in erschreckender Weise, daß sich der Verfasser dieses Artikels bei seiner »Auseinandersetzung« mit Wilhelm Hennis geistig übernommen hat. Vielleicht ermöglichen Sie dem Verfasser den Besuch einiger einführender Vorlesungen in die Politischen Wissenschaften.

Hamburg IRENA HENDRICHS

In dem Für und Wider eines neuen Wahlrechts, des sogenannten Mehrheitswahlrechts, vermisse ich auch in dem Beitrag von Professor Hennis, daß meines Erachtens vor Einführung des Mehrheitswahlrechts wohl die Vorfrage geklärt werden müßte, ob nicht das Zweiparteiengebilde CDU/CSU im

* Studentin der Politischen Wissenschaften -- Achtes Semester hei Professor Hennis.

Sinne des Mehrheitswahlrechts so etwas wie eine vorweggenommene Koalition ist.

Ebingen (Bad.-Württ.) LUDWIG HIRNER

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