Zur Ausgabe
Artikel 25 / 86

BEVÖLKERUNG / GEBURTENRÜCKGANG Konkrete Utopie

aus DER SPIEGEL 14/1971

Der 34jährige Vater zweier Kinder verteidigt sich und seine Altersgenossen: »Das hat nichts mit nachlassender Potenz zu tun.«

Seit Herbst letzten Jahres erforscht Reinhart Bartholomäi, Diplomsoziologe und stellvertretender Planungschef im Bonner Bundesarbeitsministerium, an der Spitze einer »Arbeitsgruppe längerfristige Auswirkungen des gegenwärtigen Geburtenrückgangs« intensiv die Baby-Rezession in der Bundesrepublik.

Vor wenigen Wochen erfuhr Bartholomäis »Pillenkommission« (Jargon des Hauses), daß der Bundesbürger-Nachwuchs künftig noch knapper ausfallen wird als bislang schon. Denn die jüngsten Ergebnisse einer Prognose des Wiesbadener Statistischen Bundesamtes besagen, daß die seit 1967 nachlassende Gebärfreude in den kommenden fünf Jahren noch mehr schwinden wird.

Anstelle der von den amtlichen Bildungs- und Sozialplanern zu Beginn dieser Bonner Legislaturperiode gemutmaßten Zahl von jährlich einer Million Neugeborener werden künftig, so die Wiesbadener Fruchtbarkeits-Propheten, nur rund 800 000 Babys auf die Welt kommen. 1975 wird sogar das absolute Nachwuchs-Tief seit 1945 erreicht: 793 000 Neugeborene.

Die Baby-Baisse ist eine Folge des veränderten Gebärverhaltens nach dem letzten Krieg. Nachdem von 1945 bis 1949 die Geburtenzahl wegen des Nachholbedarfs erheblich über dem Durchschnitt lag, schlaffte der hochstehende Trend 1951 plötzlich weg, und die wenigen zwischen 1951 und 1953 Geborenen werden bis 1975 zum Ehering greifen. Erst danach sollen Kinder wieder reichlicher anfallen. Dennoch rechnen die Baby-Zähler im Statistischen Bundesamt (im Volksmund: Buddhistisches Standesamt) noch bis 1980 mit Geburten-Defiziten.

Die finanziellen Folgen des Geburten-Schwunds seit 1967, der nach ersten Erkenntnissen der »Pillenkommissare« auch der zunehmenden Verbreitung oraler Antikonzeptionsmittel zuzuschreiben ist, treffen Staat und Gesellschaft freilich in unterschiedlicher Weise und zu verschiedenen Zeiten. Zunächst sind weniger Plätze in Kindergärten, Volksschulen, Gymnasien und später auch in Hochschulen vonnöten, weil jährlich 200 000 Kinder weniger geboren werden.

Dieser Ersparnis der nächsten zwanzig Jahre steht von 1990 an eine stärkere Belastung der gesetzlichen Rentenversicherung entgegen. Relativ wenige junge Leute beginnen zu arbeiten und Versicherungsbeiträge zu zahlen. Relativ viele ältere setzen sich zur Ruhe und kassieren Rente.

Nach neuesten Wiesbadener Berechnungen müssen 1990 rund 35,7 Millionen Bundesbürger im Alter zwischen 18 und 60 Jahren die Rente von 11,5 Millionen älteren Landsleuten aufbringen. Im Jahre 2000 aber werden es nur noch 34,7 Millionen Aktivisten sein, die das Ruhegeld für mittlerweile 12,4 Millionen Pensionäre zusammenlegen müssen. Der Referent für »natürliche Bevölkerungsbewegung« im Statistik-Bundesamt, Hans-Günther Öhlert, resümiert: »Was Herr Arendt mehr braucht, sparen Frau Strobel und Herr Leussink.«

Erste Analysen über die Wirkungen des Geburtenrückgangs sind bereits im Bonner Arbeitsministerium erstellt worden. Arendt-Planer Bartholomäi kam zu dem Resultat: »Bis zum Jahre 1990 ist das ein Bombengeschäft für den Staat.« Und auch Referent Öhlert gibt sich mittelfristig heiter: »Das haben wir uns schon lange gewünscht; Chancen, einen Platz im Kindergarten zu ergattern, Schulklassen mit weniger als 35 Schülern und kein Numerus clausus an der Uni.«

Rund sechs Milliarden Mark -- konstante Löhne und Preise vorausgesetzt -. würde der Staat allein im Jahr 1990 sparen, weil weniger Kinder- und Mutterschaftsgeld fällig wird, Sozial- und Ausbildungsbeihilfen nicht erforderlich und weniger Investitionen für Kindergärten, Schulen und Universitäten vonnöten sind.

Erst vom Jahre 2010 an, so ermittelten die Statistiker in ihrer Modellrechnung, wird die Gebär-Unlust der Bundesbürger den Erben zur Last werden: Defizite in Milliardenhöhe, vor allem in der Rentenversicherung. Dennoch rechnet Sozialplaner Bartholomäi nicht mit höheren Rentenbeiträgen als mit den von 1973 an geltenden 18 Prozent der Brutto-Einkünfte. Bartholomäi: »Es könnte allerdings passieren, daß dieser Beitrag nicht mehr so leicht gesenkt wird, wie man das mal vorhatte.«

Um die biologische Lücke am Arbeitsmarkt zu füllen, die der Geburtenrückgang reißen wird, müssen nach den Erkenntnissen der Bonner und Wiesbadener Ökonomen auch künftig die sonst immer noch unterprivilegierten Gastarbeiter aus Italien und Spanien, aus der Türkei und Jugoslawien einspringen.

Vor zehn Jahren war das Wachstum der in Westdeutschland Wohnenden noch zu zwei Drittel dem Geburtenüberschuß und nur zu einem Drittel der Zuwanderung von Ausländern zuzuschreiben. 1969 aber entfielen fast vier Fünftel der Bevölkerungszunahme auf diesen sogenannten Wanderungsgewinn. Statistiker Öhlert rechnete in einer Wanderungsbilanz, die er bis zum Sommer abliefern will, bis 1990 mit der Zureise von weiteren zwei Millionen Ausländern.

Langfristig sei dem Geburtenrückgang, so Bartholomäi, nur durch mehr soziale Sicherheit für die berufstätige Frau beizukommen. Jede Mutter brauche nach der Geburt einen »Karenzurlaub von ein bis zwei Jahren, bezahlt oder unbezahlt«. In dieser Zeit müsse der Arbeitsplatz für die Frau freigehalten werden. Bartholomäi zu den Chancen eines derartigen Plans: »Im Moment ist das nichts weiter als eine konkrete Utopie.«

Zur Ausgabe
Artikel 25 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren