Jens Daniel KONRAD ADENAUER
Die Welt, wie sie sich am Sterbetag Konrad Adenauers präsentiert, ist anders, als sie dem ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland während der zehn produktiven Jahre seiner Wirksamkeit erschien. Nicht zweigeteilt, und wenn, dann verläuft die Trennungslinie zwischen China einerseits, Rußland/USA andererseits; nicht auf Krieg eingestellt, und wenn, dann wegen amerikanischer, nicht wegen kommunistischer Angst-Aggressionen. Nicht christlich, und wenn, dann in verbrämter Deklaration auf dem Rückzug.
Auch Europa sieht anders aus, als Adenauers Vorstellung früher fassen konnte. Nicht einig durch den Gemeinsamen Markt, sondern getrennt durch ihn; nicht einig durch den Willen der USA, sondern getrennt durch ihn; nicht einig durch die Nato, sondern zu einigen durch Auflösung der Nato; nicht einig gegen die Sowjet-Union, sondern einig in dem Versuch, die kommunistischen Hauptstädte vor dem Mitbewerber zu erreichen.
Hallstein, des toten Adenauer engster und bedeutendster Mitarbeiter, muß weichen, weil er dem großen Adenauer-Freund de Gaulle zu europäisch ist. Das kommunistische Europa selbst kein Block, sondern aufgespalten in nationale Einheiten, nicht auf Eroberung bedacht, sondern auf Konservierung.
Die Bundesrepublik nicht von außen, sondern nur von innen, von ihrem eigenen Immobilismus bedroht, gerettet für diesmal noch durch die SPD, die den »Untergang Deutschlands« garantierende Partei; die Staatspartei CDU wenig Staat und keine Partei.
Päpstliche Vorwürfe wegen Vertragsbruchs an die Adresse eines katholischen Kanzlers; Vorschläge der Wissenschaft, den Rentenberg, Wahlschlager des Jahres 1957, abzutragen: Wahrlich, kein Stein in dieses Mannes Arbeitswelt blieb auf dem anderen.
»Ihm ging es seit je«, rühmte das Wiener »Forum« 1963, »um die tektonischen Bruch- und Spalt- und Trennlinien zwischen Westdeutsch und Ostdeutsch, Süddeutsch und Norddeutsch, Katholisch und Protestantisch, Demokratisch und Autoritär. Die zwei Deutschland sind nicht von heute.« Trennte Adenauer das demokratische vom autoritären Deutschland?
Das ganz hohe Alter hatte ihn weiser, durchsichtiger, feiner, hatte ihn liebenswürdig gemacht. Aber über Widersprüche in seinen Positionen nachzudenken, überhaupt die Konsequenzen zu bedenken, wurde bis zuletzt seine Sache nicht. »Große Politiker«, so entschuldigte ihn einmal Golo Mann, »sind ruchlos auch darin, daß sie Fragen, welche sie selber und ihre Politik in Verwirrung bringen könnten, sich gar nicht stellen.«
Ja, das mag so aussehen. Aber gutgegangen ist es noch nie. Es geht immer nur scheinbar gut, immer nur eine Weile, solange die Verdrängungen des Mannes an der Spitze auch die Verdrängungen seiner Bürger sind.
Adenauer hinterläßt eine Bevölkerung ziemlich braver, an der Politik nicht sonderlich interessierter, für das gemeine Wohl kaum mobilisierbarer Bürger. Wenn mehr nicht zu erreichen war: konnte weniger erreicht werden?
Um Adenauer zu rühmen, muß ich bei Golo Mann ausborgen, der ihn vielleicht abgeklärter beurteilt: »In seiner großen Zeit hat Adenauer den Deutschen gutgetan. Die Erscheinung dieses von jeder Hysterie freien, jeder falschen Pose abholden, seinen außenpolitischen Kurs fest und unbeirrbar steuernden Patriarchen übte nach all dem gräßlichen Hin und Her, all den Greueln und Verrücktheiten eine wohltätige Wirkung aus.«
Vom Politiker, meint Golo Mann, müsse man vielleicht gar nicht verlangen, daß er zur moralischen Erneuerung seines Landes etwas beitrage. Hier stocke ich doch sehr. Ein Volk, das so grausige Dinge aktiv und passiv hat geschehen lassen, bedarf es nicht doch eines winzigen Fingerzeigs zur moralischen Erneuerung, wie die Stromstöße aus Basel uns signalisieren?
Wahr, wahr, die Umwelt erwartet von den Deutschen nichts anderes als die Rückkehr in die Normalität. Aber gerade dazu gehören heute politische Moral und der Wille zur Erneuerung. Woher soll beides kommen, wenn die Staatsmänner nur Laiendirigenten sind, die den Takt nicht geben, sondern vom Orchester empfangen?
Aber wahr ist auch, die Regierung des zweiten Kanzlers nach Adenauer gibt sich vorerst als eine Equipe unaufgeregter, in der Normalität hausender Routiniers. Das kann, mit Glück, mit Gott?, gutgehen. Wenn es nicht gutgeht, wird man sich zu erinnern haben, daß die Regierung aus einem halben Kollaps jeglicher Staatlichkeit hervorging Ein Regierungswechsel nach und durch Wahlen war noch nicht. Adenauers »patriarchalische Demokratie« verhält noch im Ungewissen.
Viel blechernes Pathos, das wir bei Adenauers Abgang 1963 noch hören mußten, blieb uns jetzt erspart. Er hat die Bundesrepublik nicht »gemacht«, nicht »geschaffen«, hat das deutsche Volk nicht »erzogen«, sondern dessen westliche zwei Drittel zehn Jahre lang regiert und 14 lange Jahre beherrscht; hat Deutschland Vertrauen in den USA, in Frankreich und Israel erworben, und Selbstvertrauen. Wem das nicht reicht, dem sei gesagt: Er war ein ganz großer Häuptling.
Meine Friedenspfeife mit ihm habe ich noch geraucht. In einer Besprechung des zweiten Bandes seiner Erinnerungen hatte ich ihn als einen Staatsmann der zähen Beharrlichkeit, der großzügigen Betrachtungsweise und der instinktsicheren Taktik beschrieben, gleichzeitig aber als einen Politiker, dem die gedankliche Kraft des Analysierens nahezu abgehe, ohne Zugang zu den gesellschaftlichen Umwälzungen; dessen Außenpolitik nicht den Realitäten staatlicher Gebilde und der menschlichen Natur, sondern einer aus bürgerlichen Vorurteilen geronnenen ideologischen Fixierung gefolgt sei.
Er bedankte sich handschriftlich für »die große Arbeit«, die er mit »großem Interesse« gelesen habe, sagte aber. »In meinem dritten Band, da werden Sie sehen, daß Sie unrecht haben mit Ihrer Kritik.«
Ich: »Mir ist beim Lesen Ihres Buches aufgegangen, worin nach 1945 Ihre Stärke lag. Sie als einziger von den deutschen Politikern wollten etwas, was Sie erreichen konnten.« Er war es noch nicht zufrieden: »Wichtiger war, daß ich immer so einfach gedacht habe.« Wie verschieden man doch menschliche Fähigkeiten bewerten kann.
Hat Adenauer am Ende doch noch eine Tradition begründet, die dauert? Gibt es einen Königsgedanken, der nicht blind geworden ist? Kiesingers Anfänge könnten so gedeutet werden. Zusammenarbeit mit Frankreich, so tönt es aus dem Grabe, ein umgekehrtes »Macht mir den rechten Flügel stark«.
Aber hier bewähren seine Nachfolger nur Adenauers Fähigkeit, den Gedanken abzubrechen, wenn er stört. Wie soll Frankreich der wichtigste Partner werden, solange man den Druck auf West-Berlin nicht aufhebt? Und wie will man ihn aufheben, ohne die von den Sowjets geschaffenen Tatsachen einzubeziehen? Wie sollen Mitterand und Giscard d'Estaing und Lecanuet und Pompidou Berlin sichern, wenn die Bundesrepublik nicht anerkennen will, was ist?
Noch immer, wie zu Adenauers Hochzeiten, bleibt Deutschland in seine eigenen, aus fehlsamster Politik erwachsenen Widersprüche verstrickt. Aber heute, anders als zu seinen Hochzeiten, sind sie sichtbar. Seine Feindschaften, seine Politik, ja selbst seinen Tod hatte er zum Schluß überlebt.
Konrad Adenauer hat die Spaltung Deutschlands für vollzogen genommen, bevor sie vollzogen war. Hätte er fünf Jahre länger gelebt, so würde ihn nicht nur der SPIEGEL, sondern sogar der Kreml in Moskau betrauern.