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LANDWIRTSCHAFT Kosten ohne Ende

aus DER SPIEGEL 43/1968

Im Sommer machte Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller sich noch bei Deutschlands Bauern beliebt. Auf dem 125 Hektar großen Gutshof Nölle-Wying in der Nähe von Iserlohn fuhr der Professor Traktor, fütterte Hühner und ließ Photos für die Presse schießen.

Im Herbst verbreitete Schiller eine Studie, die alle Erntehilfe nutzlos macht: Danach müssen zwei Drittel aller westdeutschen Bauern und Landarbeiter bis 1980 die Landflucht in die Industrie antreten. Nur das letzte Drittel würde nach dem Bauernlegen noch auskömmlich das Leben auf der Scholle fristen können.

Mit seinen »Vorschlägen zur Intensivierung und Koordinierung der regionalen Strukturpolitik« verärgerte Schiller den zuständigen Agrarminister Hermann Höcherl und den Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes Edmund Rehwinkel gleichermaßen.

Beide raunzten dem SPIEGEL gegenüber:

* Die Schiller-Studie sei »eine typisch bürokratische Milchmädchenrechnung« (Höcherl);

* der Wirtschaftsminister zeige sich in Agrarfragen »wie so oft ziemlich ahnungslos« (Rehwinkel).

Autor der Schillerschen Kabinettsvorlage ist Sozialdemokrat Dr. Herbert Ehrenberg, zuvor bei der Industriegewerkschaft Bau tätig und in der Großen Koalition zum Leiter der Unterabteilung Strukturpolitik im Bonner Wirtschaftsministerium berufen. Er verficht das Programm mit der Begründung, es werde für den Steuerzahler ein »Ende der Kosten« bringen; ohne Strukturmaßnahmen für die Landwirtschaft aber gebe es nur »Kosten ohne Ende«.

Ehrenberg, 41, schrieb 1965 das Buch »Die Erhard-Saga. Analyse einer Wirtschaftspolitik, die keine war«. Er ist der Ansicht, daß Bonn bislang auch keine Agrarpolitik betrieben hat. Den Bauern prophezeit er in seiner Studie, > die Nachfrage nach Agrarprodukten werde im Durchschnitt der nächsten zwölf Jahre um bestenfalls ein Prozent wachsen;

die Preise ließen sich jährlich um höchstens zwei Prozent steigern. Dieses geringe Wachstum, so Ehrenberg, werde Westdeutschlands 2,2 Millionen hauptberufliche Bauern und Landarbeiter weit hinter die übrige Wirtschaft zurückwerfen: Im Jahre 1980 könnten sie nur noch darauf hoffen, ein Fünftel des Durchschnittsverdienstes in den übrigen Wirtschaftszweigen zu erzielen -- 4400 statt 22 000 Mark im Jahr.

Um den Beschäftigten auf dem Lande 1980 mindestens drei Viertel des Durchschnittsverdienstes zu garantieren, muß laut Ehrenbergs Berechnung die Zahl der sogenannten Vollarbeitskräfte um mehr als die Hälfte dezimiert werden. 900 000 Landmänner sollen ausscheiden, 640 000 übrigbleiben.

Mit allerlei Hilfen soll die Bundesregierung die Modernisierung auf dem Lande unterstützen. Zum Beispiel hätte nach dem Modell des Wirtschaftsministeriums jeder Bauer schon vom 50. Lebensjahr an Anspruch auf 300 Mark Mindestrente; für die Jüngeren soll der Bund Beiträge in der sozialen Rentenversicherung nachzahlen. Die Nettokosten des Sozialplans schätzt Ehrenberg auf 33 Milliarden Mark.

Bauernchef Edmund Rebwinkel hält die Berechnungen für »blanken Unsinn": Nach dem Auszug der 900 000 Bauern und Landarbeiter sei die deutsche Landwirtschaft am Ende, es blieben »nur Frauen und alte Leute« übrig.

Der Landmannführer aus Westercelle droht seit einiger Zeit, seine fünf Millionen Bauernwähler notfalls der NPD zuzuführen. CDU/CSU und FDP in Bonn trauten sich deshalb genausowenig, die Bauern über ihre Zukunft aufzuklären, wie sie einst die Bergleute an der Ruhr im unklaren gelassen hatten.

Auch als Hermann Höcherl im Juni dieses Jahres ein Agrarprogramm vorlegte, scheute er konkrete Zahlen. Sein Plan erschöpft sich in programmatischen Erklärungen.

Das Bundeskabinett mochte auch nicht darüber reden. Kiesingers Tafelrunde billigte den Höcherl-Plan lediglich in seinen »Grundsätzen«. Einzelheiten soll ein neu gebildetes Agrar-Kabinett aushandeln, dem der Kanzler vorsitzt, und dem acht Minister angehören.

Aber mehr als ein Vierteljahr zögerte Kiesinger, das Gremium zusammenzurufen. Und da Schiller keine Gelegenheit fand, seine Kritik an Höcherts vagen Vorschlägen im Kabinett anzubringen, entschloß sich sein Staatssekretär und Intimus Klaus von Dohnanyi zur Attacke. Ende September verteilte das BWM die Ehrenberg-Studie an die übrigen Minister, Anfang Oktober auch an die Presse.

Die zwei Grünen Pläne der Bundesregierung enthalten sprengstoffgeladene Unterschiede. Die 300 000 sogenannten Nebenerwerbsbetriebe zum Beispiel, auf denen Industriearbeiter nach Feierabend ihr Feld bestellen, sollen

* nach Höcherls Agrarplan »weiterhin in vollem Umfang an allen Förderungsmaßnahmen« teilnehmen;

* laut Schillers Kontrastprogramm »aus Gründen der internationalen Konkurrenzfähigkeit« abgeschafft werden.

Wegen solcher Divergenzen vor dem Wahljahr rollten Kanzler-Aug und -Stimme. In seiner Regierungserklärung am Mittwoch vergangener Woche warnte Kurt Georg Kiesinger seinen Wirtschaftsminister eindringlich vor der »Gefahr globaler langfristiger Prognosen«.

Und Rainer Barzel rief: »Sehr wahr.«

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