AUSSENPOLITIK Krach mit Brentano
Während in London die Abrüstungsbesprechungen zwischen Amerika, England, Frankreich, der Sowjet-Union und Kanada vorankommen und die Frage der deutschen Einheit mehr und mehr in den Hintergrund zu treten droht, hat der Minister des Auswärtigen der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Heinrich von Brentano, sein Amt verlassen und sich zur Kur nach Bad Wörishofen begeben. Eine tiefe Verärgerung über seinen Regierungschef hat er mit auf die Reise nehmen müssen.
Nach dem Ende der zweiten Genfer Konferenz waren auf Anweisung Heinrich von Brentanos von den Diplomaten des Bonner Auswärtigen Amtes sorgfältig Pläne für ein gekoppeltes Vorgehen in Sachen internationaler Abrüstung und deutscher Wiedervereinigung ausgearbeitet worden.
Nach einer Idee des Außenministers sind in diesen Plänen die beiden Themen nicht nur derart miteinander verbunden, daß am Ende der Abrüstung auch die deutsche Wiedervereinigung stehen würde: Um zu verhindern, daß man auf dem Gebiet der Abrüstung Fortschritte macht, dann aber auf halbem oder dreiviertel Wege einhält und die deutsche Wiedervereinigung völlig ungelöst bleibt, hatte Heinrich von Brentano Vorschläge anfertigen lassen, nach denen in jeder einzelnen Phase der Abrüstung parallel dazu auch die Wiedervereinigung Fortschritte machen müßte.
Um so erschrockener war Westdeutschlands Außenminister, als er Anfang März aus der Presse erfahren mußte, daß Bundeskanzler Konrad Adenauer auf eigene Faust vor dem CDU-Vorstand ein Abrüstungs -Memorandum für die Londoner Konferenz angekündigt hatte, ohne sich auch nur mit einem Blick von dem Stand der Vorarbeiten im zuständigen Ministerium seines Parteifreundes Heinrich von Brentano zu unterrichten. Der sonst so kühle Heinrich von Brentano erlitt einen Wutanfall, dessen Heftigkeit die anwesende Zeugin verstörte.
Tatsächlich ist denn auch das von Botschafter von Herwarth in London überreichte Bonner Memorandum im Bundeskanzleramt entstanden. Des Kanzlers offizielle Bitte in diesem Memorandum, ihn über den Verlauf der Abrüstungsgespräche zu informieren, wurde im Foreign Office eine »Bonner Taktlosigkeit« genannt. Man sei in eine unmögliche Situation gebracht worden. Entweder müsse man nun auch alle anderen Staaten, die es wollen, über die vertraulichen Gespräche informieren, oder dem Bundeskanzler seine Bitte abschlagen und ihn damit vor den Kopf stoßen.
Aber nicht nur im Londoner Foreign Office, auch im Bonner Auswärtigen Amt wurde des Kanzlers Brief als peinlich empfunden. Denn er läßt die Arbeitsergebnisse des Auswärtigen Amtes völlig unberücksichtigt und fordert kein Junktim mehr zwischen der internationalen Abrüstung und der deutschen Wiedervereinigung.
Kaum war einem Sprecher der Bundesregierung am letzten Mittwoch auf einer Pressekonferenz im Bundeshaus dieses Zugeständnis entschlüpft, da begannen die offiziellen Bonner Propagandamühlen auf vollen Touren zu laufen: Die unlösbare Verbindung zwischen Abrüstung und Wiedervereinigung sei zwar nicht in dem Dokument enthalten, aber bei der Überreichung des Schreibens in den mündlichen Erklärungen von Herwarths hervorgehoben worden. Staatssekretär Walter Hallstein versicherte streng vertraulich, gerade um das deutsche Wiedervereinigungsproblem auf der Tagesordnung zu halten, sei überhaupt das ganze Abrüstungs-Memorandum des Bundeskanzlers angefertigt worden.
Die neue Zauberformel, die - einer gemeinsamen Sprachregelung folgend - ein Bonner Regierungssprecher und Staatssekretär Walter Hallstein übereinstimmend für den Zusammenhang von Abrüstung und Wiedervereinigung anwandten, hieß an Stelle von »Junktim": »Zwillingsproblem«.
Nun ist es das Wesen eines Junktims, daß eine Handlung nicht ohne die andere vollzogen werden kann. Selbst siamesische Zwillinge aber wurden schon manches Mal mit Erfolg durch einen geschickten chirurgischen Eingriff getrennt, wenn auch zuweilen der eine von ihnen danach elendiglich zugrunde ging. Daß in diesem Fall der auf der Strecke bleibende Zwilling leicht die Wiedervereinigung sein könnte, ist sogar dem Staatssekretär Walter Hallstein nicht entgangen. Intern gestand er, daß eine separate Abrüstung zwangsläufig die Anerkennung des Status quo bedeuten würde, die Anerkennung der Teilung Deutschlands.
In den Verdacht, die deutsche Wiedervereinigung etwas stiefmütterlich zu behandeln, wäre die Bonner Bundesregierung indessen nicht geraten, hätte sie die Behandlung dieser Frage ordnungsgemäß dem Außenminister Heinrich von Brentano überlassen, und nicht dem Bundeskanzler Konrad Adenauer.
So aber war Heinrich von Brentano nicht bereit, in dieser kritischen Periode internationaler Verhandlungen nur den repräsentativen Popanz zu spielen. Nach einer unwichtigen deutsch-holländischen Konferenz in Den Haag und einem Gratulationsbesuch beim Papst in Rom fuhr er zur Kur nach Bad Wörishofen.
Die untrügliche Witterung
Nun beruht diese Mißstimmung zwischen Bundeskanzler und Bundesaußenminister keineswegs auf einem einmaligen Mißverständnis. Sie bildet vielmehr den einstweiligen Höhepunkt einer Entwicklung, die unmittelbar nach dem Amtsantritt Heinrich von Brentanos einsetzte.
Das Debüt des Adenauer-Nachfolgers im Außenminister-Amt war wider alles Erwarten recht gut verlaufen. Im Ministerium selbst verbreitete sich eine völlig neue Atmosphäre. Während unter Konrad Adenauers Führung in den einzelnen Abteilungen. Leerlauf herrschte, weil die Arbeitsüberlastung es dem Kanzler unmöglich machte, sich um die Routine-Vorgänge des Amtes zu kümmern, konnten nach dem Wechsel die Abteilungsleiter jederzeit ihren Minister sprechen; die politischen Berichte der diplomatischen Missionen wurden gelesen, ausgewertet und in Umlauf gesetzt, statt wie bis dahin in den Aktenschränken zu verschwinden; alle jene Angelegenheiten zweiten Grades, die sich bis dahin vor dem Flaschenhals des Bundeskanzleramtes in endlosen Aktenstößen gestaut hatten, wurden zügig erledigt.
Heinrich von Brentanos Start auf internationaler Bühne verlief nicht minder gut. Kaum daß er seine Antrittsbesuche in Washington und Paris gemacht hatte, akzeptierten ihn die Regierungen der Westmächte als gleichberechtigten Partner, während Konrad Adenauer noch kurz zuvor in engstem Kreise gestanden hatte, er sei sich darüber klar, daß sein Rücktritt als Außenminister für die westlichen Mächte ein schwerer Schlag sein würde und daß die Lücke, die er hinterlasse, naturgemäß unausgefüllt bleiben müsse.
Als schließlich Heinrich von Brentano in seinem Bemühen, mit der SPD-Opposition wieder ins Gespräch zu kommen, offensichtlich auch noch den Beifall der Sozialdemokratie im Auswärtigen Ausschuß fand, machte der Kanzler aus seinem Ärger über die Selbständigkeit seines Paladins kein Hehl mehr.
Bereits in Moskau ließ Konrad Adenauer den Heinrich von Brentano spüren, daß er und nur er die Geschicke der deutschen Außenpolitik lenke. Damals, am Morgen nach dem Abschluß des Handels »Kriegsgefangene gegen Botschafter« drohte Heinrich von Brentano zum erstenmal, der Bundeskanzler werde sich vielleicht schon bald einen anderen Außenminister suchen müssen.
Doch der Kanzler zögerte nicht, seinem Minister bald darauf eine zweite Demütigung widerfahren zu lassen: Nach fast dreimonatigem Hinhalten ließ Bundeskanzler Konrad Adenauer das Kabinett die Ernennung des Botschafters Haas zum deutschen Vertreter in Moskau beschließen, als sich Außenminister Heinrich von Brentano nichtsahnend in Rom befand. Konrad Adenauer hielt es nicht einmal für nötig, den Außenminister selbst telephonisch zu verständigen; er beauftragte den Staatssekretär Walter Hallstein damit.
Von diesem Moment an wußte Walter Hallstein, der sich zunächst, seinem Naturell entsprechend, dem Regime Heinrich von Brentanos gebeugt hatte, daß die Zeit gekommen war, die Verärgerung Konrad Adenauers auszunutzen, um seine alte Position als beflissener Geist am Ohr des Kanzlers wiederzugewinnen. Wie ein Luchs wacht er seitdem darüber, daß kein Referent des Amtes im Direktverkehr mit dem Minister etwas berät, ohne daß er davon erfährt, um es dem Kanzler notfalls mitzuteilen.
Jetzt ist es wegen des Abrüstungs-Memorandums zu einem kaum verhüllten Bruch zwischen Konrad Adenauer und Walter Hallstein einerseits und Heinrich von Brentano andererseits gekommen. Staatssekretär Walter Hallstein erwähnte in einem Informationsgespräch am letzten Donnerstag seinen im Urlaub weilenden Chef Brentano überhaupt nicht mehr. Um so ausführlicher sprach er, wie einst in Integrationszeiten, von sich selbst und dem Bundeskanzler »mit seiner untrüglichen Witterung«. Als gebe es schon gar keinen Außenminister mehr.
Außenminister von Brentano, Kanzler Adenauer: Tiefe Verstimmung trübt alte Sympathien