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RENTEN Kranker Gaul

Kanzler Schmidts Versuch, die Gewerkschaften zum Stillhalten in der Rentenfrage zu bewegen, ist vorerst gescheitert.
aus DER SPIEGEL 8/1978

Kurz nach 19 Uhr, die Diskussion über die Rentenpläne der sozialliberalen Koalition lief am vergangenen Dienstag noch auf vollen Touren, packte Helmut Schmidt seine Akten zusammen und verließ unauffällig die Sitzung der SPD-Fraktion im Bonner Bundeshaus. Der Bundeskanzler hatte noch einen diskreten Abendtermin -- rheinabwärts in der Düsseldorfer Zentrale des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Dort hatte Hausherr Heinz Oskar Vetter fast alle Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften versammelt, um mit dem Regierungschef über die von SPD und FDP ausgehandelten Pläne zur Sanierung der Rentenfinanzen zu debattieren.

Das Thema vertrug keinen Aufschub. Denn was Stunden zuvor in Bonn von den Koalitionsfraktionen gebilligt worden war, lief fast allen Forderungen der Gewerkschaften zuwider.

Der DGB hatte verlangt, das Loch in der Rentenkasse mit einer baldigen Erhöhung des Beitrags zur Sozialversicherung und einer Abgabe der Rentner für ihre derzeit kostenlose Krankenversicherung zu stopfen. Die Koalition verschob -- unter dem Druck der FDP und des um die Kostenlage der Wirtschaft besorgten SPD-Kanzlers -- diese Opfer in die nächste Legislaturperiode.

Dafür sollen die erforderlichen Milliarden bis 1981 allein bei den Rentnern eingespart werden -- durch Steigerungsraten. die niedriger sind, als sie nach der seit 1957 geltenden automatischen Anpassung an die Entwicklung der Brutto-Einkommen der Aktiven sein dürften.

Nach ein Uhr -- die Runde hatte sich zum Abschied noch zu strengem Stillschweigen verpflichtet -- verließ der Kanzler samt seinem im Laufe des Abends hinzu geeilten Arbeitsminister Herbert Ehrenberg die DGB-Zentrale.

Anderntags im Kabinett referierte Schmidt, schon ganz fixiert auf die bevorstehende schwere Belastungsprobe durch die Abstimmung über die Antiterror-Gesetze. nur am Rande über seine nächtliche Exkursion. Es sei ein »außerordentlich sachliches und gutes« Gespräch gewesen, und es habe sich wieder einmal gezeigt, daß die politisch verantwortlichen Gewerkschaftsvorsitzenden den Problemen wesentlich aufgeschlossener gegenüberstünden als »die perspektivisch verengten« Sozialpolitiker in den obersten Gewerkschaftsetagen.

Er habe, so resümierte der Kanzler, die DGB-Zentrale mit dem Eindruck verlassen, die Koalition werde auch bei den Gewerkschaften Verständnis für ihre Rentenpläne finden.

Niemand fragte nach. SPD- und FDP-Minister am Kabinettstisch gingen davon aus, daß es ihr Vormann wieder einmal geschafft habe, die Gewerkschaften umzudrehen.

So blieb verborgen, daß der Kanzler mit seinem beiläufigen Rechenschaftsbericht eine der schwersten Kontroversen verdeckte. die er bis dahin mit den Gewerkschaftsspitzen hatte austragen müssen.

Geduldig hatte die Arbeitnehmerprominenz am Dienstagabend eine Stunde lang dem hohen Gast gelauscht: Schmidt präsentierte sich als der von Dissidenten im eigenen Lager heimgesuchte Regierungschef. der um den Bestand seiner Koalitionsregierung bangen muß und zugleich von großen Sorgen um die weltwirtschaftliche Entwicklung geplagt wird.

Doch als dann Schmidt gemeinsam mit Ehrenberg verlangte, den Gewerkschaftswiderstand gegen die Rentenpläne aufzugeben, war die Harmonie dahin. Aus der Sicht des DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter stellen sich Verlauf und Ergebnis der Sitzung ganz anders dar als in des Kanzlers Kabinettserzählung. Vetter zum SPIEGEL: »Die beiderseitigen Auffassungen blieben im Raum. Es konnte keine Übereinstimmung erzielt werden.«

Vetters Stellvertreter, der von Schmidt gern attackierte Chef-Sozialpolitiker des DGB, Gerd Muhr, assistierte: »Helmut Schmidt muß sehen, daß er für diese Pläne keine Gegenliebe beim DGB findet.«

Selbst die dem Kanzler besonders loyal verbundenen Anführer der Metall- und Chemie-Gewerkschaften mochten nach der nächtlichen Runde nichts von Einigung wissen, IG-Metall-Chef Eugen Loderer: »Wir bleiben bei der Position, die der DGB auch bisher eingenommen hat.«

Befragt, ob der Kanzler mit Nachsieht rechnen könne, wehrte IG-Chemie-Vorsitzender Karl Hauenschild energisch ab: »Wir können kein Einverständnis signalisieren, wenn die Koalitionsfraktionen etwas anderes beschließen, als wir gefordert haben.« Zum entscheidenden Punkt, der Abkoppelung der Renten von den Brutto-Einkommen der Aktiven, bekräftigte Hauenschild: »Da haben wir uns nicht geeinigt.«

Den Widerstand der Gewerkschaftsführer hatte der Kanzler durch allzu forsches Auftreten noch provoziert. Denn als in der Sitzung Widerworte kamen, geriet Schmidt so in Rage (ein Teilnehmer: »Der Kanzler hatte seinen Punkt erreicht"), daß er alle taktischen Gebote außer acht ließ. Mit heftigen Attacken versuchte er einen Keil zwischen die Vorsitzenden und ihre sozialpolitischen Experten zu treiben -- vergeblich.

Wenige Stunden zuvor hatten die zuständigen Vorstandsmitglieder aller Einzelgewerkschaften unter Leitung von Muhr noch einmal einstimmig ihr früheres Veto gegen die Bonner Rentenpläne bekräftigt. Die eigens aus Bonn angereiste Ehrenberg-Staatssekretärin Anke Fuchs, bis vor einigen Monaten selber noch streitbares Mitglied im IG-Metall-Vorstand, hatte keine Chance. Das Vorstandsmitglied der IG Bergbau Rudolf Nickels: »Wir haben auf die Staatssekretärin eingeredet wie auf einen kranken Gaul.«

Da half Schmidt auch nichts, daß er wütend ganze Passagen aus von ihm als ungehörig empfundenen Drohbriefen zitierte, die in jüngster Zeit aus Düsseldorf in Bonn eingetroffen waren.

Nachdem Schmidt bereits Anfang Februar ein Warnschreiben von DGB-Vize Gerd Muhr erhalten hatte, war am vorletzten Dienstag im Büro des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner ein von Vetter und Muhr gemeinsam unterzeichneter Brief abgegeben worden, der einen neuen Stil im Umgang zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften ankündigte. Darin war der »Liebe Herbert Wehner« aufgeklärt worden,

daß sich mit den bevorstehenden Beschlüssen zur Konsolidierung der Rentenfinanzen eine Auseinandersetzung zwischen den Sozialdemokraten in der Regierung und im Parlament einerseits und dem Deutschen Gewerkschaftsbund andererseits anbahnt, die gleichermaßen schädlich und unnötig ist. Die jetzt konzipierten Beschlüsse werden das Vertrauen von Millionen Rentnern und Arbeitnehmern in die Zuverlässigkeit ihrer Alterssicherung schwer anschlagen, gleichzeitig aber auch ihr Vertrauen darin, daß die Sozialdemokraten ihre natürlichen Garanten hierfür sind ...

In dem wichtigsten Punkt, der dynamischen Rentenanpassung, ließen Vetter und Muhr keinerlei Kompromißbereitschaft erkennen:

wir werden uns nie damit abfinden können, daß Rentenanpassungen lediglich aufgrund politisch gegriffener und geschätzter Werte vorgenommen werden. Damit wäre nicht nur das gewichtigste Versprechen aus der Regierungserklärung vom 16.12.1976 gebrochen, nämlich die Renten auch in der Zukunft entsprechend der Bruttolohnsätze festzusetzen. Dies wäre vielmehr eine Herausforderung für zukünftige Regierungen, diese Praxis weiter auszuüben ...

Zum Schluß drohten die beiden DGB-Oberen sogar mit einem politischen Pakt zwischen Gewerkschaften und Konservativen:

... zusammengefaßt dürfen wir betonen. daß wir eindringlich davor warnen, sehenden Auges in eine Auseinandersetzung hineinzuschlittern und Lösungen gegen den Widerstand nun wirklich aller beteiligten und Verantwortung tragenden Gruppen -mit Ausnahme der Regierungsparteien -- zu forcieren, welche die Rentenversicherung zum parteipolitischen Schlachtfeld machen werden, auf dem die Gewerkschaften gegen die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen antreten müssen. Doch statt der von Schmidt erhofften Distanzierung von den rüden Tönen erlebte der Kanzler in Düsseldorf die Solidarisierung der Arbeiterführer. Vetter wies gegenüber dem SPIEGEL jede Irritation über den Inhalt des Schreibens zurück: »Das ist Absprache, das ist die Meinung des DGB. Da geht man nicht von runter.«

So konnte der Bundeskanzler am Ende der Bonner »Renten-Terror-Woche« (ein hoher Regierungsbeamter) zwar das knapp über die Ziellinie gerettete Gesetz zur Bekämpfung von Terroristen abhaken. Fraglich ist aber, ob die Zustimmung seiner Fraktion zu den Rentenplänen auch die demnächst folgenden Gesetzes-Beratungen überdauern wird.

Erst im März, wenn das Kabinett die Ehrenberg-Vorlage beschlossen hat, wollen die Gewerkschaften ihre Kampagne gegen die Rentenpläne öffentlich fortsetzen -- ohne Rücksicht auf bislang eingehaltene Spielregeln. DGB-Muhr: »Wir bleiben bei der Position, die wir für richtig halten. Geren wen und mit wem wir uns dabei solidarisieren, ist für uns nicht der entscheidende Aspekt.«

Wohl aber für die sozialdemokratisch geführte Regierung. Denn für die Genossen in Hamburg, Niedersachsen, Hessen, Bayern und damit auch in Bonn wäre es fatal, wenn in den kommenden Landtagswahlen der ohnehin anstehende Konflikt mit verunsicherten Altenteilern durch eine offene Feldschlacht zwischen SPD und Gewerkschaften verstärkt würde.

Gelegenheit, die Sprengwirkung des Bruderzwistes zu testen, haben die Sozialdemokraten schon im März bei den Betriebsratswahlen. Das SPD-Vorstandsmitglied Werner Vitt, in der Führung der IG Chemie für Betriebsratsarbeit zuständig, hat bei zahlreichen Belegschaftsversammlungen aufgrund der Rentendiskussion eine »höchst problematische Entwicklung« ausgemacht: »Den Nutzen zieht die CDU« -- und dies, obwohl die Union bislang noch keine alternative Rentenposition präsentiert hat.

In der Ludwigshafener BASF, so ermittelte Vitt, wird erstmals bereits für Kandidaten einer »Liste der Freunde der CDU/CSU« geworben.

»Diese Entwicklung kann uns nicht kalt lassen«, warnte der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, Ex-Bildungsminister Helmut Rohde. In der Fraktion kündigte er Widerstand vor allem gegen die von der FDP im Rentenpaket verankerte Klausel an, die zugesagten geringen Rentenerhöhungen könnten bei schlechter Konjunktur noch weiter zurückgenommen werden. Rohde: »Das ist eine Agitationsklausel, das müssen auch die Liberalen sehen.«

Die FDP aber wird sich den Rentenkompromiß wohl kaum verwässern lassen. Sie hat erreicht, daß ihre Anhänger in dieser Legislaturperiode von neuen Kosten durch höhere Rentenbeiträge verschont bleiben.

Nachgiebigkeit haben die Freidemokraten bislang nur im Atmosphärischen gezeigt. FDP-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen: »Wir haben kein Triumphgeheul angestimmt, obwohl uns die Vereinbarung sehr entgegenkommt.«

Vor Widerstand von SPD und Gewerkschaften kann der Genscher-Intimus nur warnen: »Daß es dann schwierig wird, das sehen wir.«

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