BÜCHER Krankes Mondenkind
Es gibt Schallplatten, Bücher, Filme, die, jenseits der großen Schlagzeilen, ihre Verehrer wie Jünger einer Sekte miteinander verbinden. Freunden gibt man den Geheimtip weiter, der längst keiner mehr ist, die imaginäre Gemeinde wächst täglich, andere Medien bemächtigen sich des Gegenstandes. Solch ein etwas schwärmerisches Einverständnis zeigen viele erwachsene Leser des Jugendbuches »Die unendliche Geschichte« von Michael Ende.
Ein Junge stiehlt einem Antiquar ein Buch, das ihn magisch anzieht, versteckt sich auf dem Speicher seiner Schule und beginnt zu lesen. Es heißt »Die unendliche Geschichte« und sieht aus wie das gleichnamige Buch im Thienemanns-Verlag: in kupferfarbene Seide gebunden, schöne, reich verzierte Initiale von A bis Z an jedem Kapitelanfang (Illustrationen: Roswitha Quadflieg), zweifarbiger Druck.
( Michael Ende: »Die unendliche ) ( Geschichte«. K. Thienemanns Verlag, ) ( Stuttgart; 432 Seiten, 26,80 Mark. )
Die Rahmenhandlung über den zehnjährigen Bastian ist rot gedruckt, die Geschichte über das Land Phantasien grün. Gelegentlich unterbricht der jugendliche, blasse Büchernarr auf dem Dachboden seine Lektüre und vergleicht traurig die wunderbaren Helden und Abenteuer der »unendlichen Geschichte« mit sich selbst.
Doch dann werden die Übergänge seltsam fließend, ein Schreckensruf des jungen Lesers hallt durch eine Schlucht in Phantasien, Figuren des Buches sehen ihn, den Leser Bastian, so direkt an, daß er sich »mitten ins Herz getroffen« fühlt. Phantasien ist in Not und braucht ein Menschenkind. Bastian bietet sich per Zuruf an, es kommt fast zum direkten Dialog zwischen Leser und Phantasiefigur.
Schließlich taucht der Titel in einer weiteren Brechung als Buch im Buch auf, und der erschrockene Bastian liest, was wir gerade über ihn lasen, wird zum Teil des Grüngedruckten und avanciert zur Figur im Wunderland Phantasien. »Er, Bastian, kam als Person in dem Buch vor, für dessen Leser er sich bis jetzt gehalten hatte] Und wer weiß, welcher andere Leser ihn jetzt gerade las, der auch wieder nur glaubte, ein Leser zu sein -- und so immer weiter bis ins Unendliche]«
Schon dieses spannende, intelligente Jonglieren mit Vermittlungsformen und Erzählebenen macht Michael Endes Märchenroman zu einer literarischen Überraschung, zu mehr als einem sogenannten Jugendbuch.
Phantasien, das wunderbare Land der Träume und Märchen, der Fabeln und Legenden, dieses »Reich der Geschichten« ist von einer zersetzenden Krankheit befallen: »Das Nichts wird verschlingen den Ort«, klagt melancholisch das Orakel Uyulala.
Das »völlige Nichts«, »grau« und »nebelhaft«, greift wie ein Krebsgeschwür um sich, und traurig, krank wie ihr Phantasiereich, sitzt die kindliche Kaiserin, die auch »goldäugige Gebieterin der Wünsche« oder »Mondenkind« heißt, in ihrem Magnolienblüten-Pavillon hoch oben im Palast.
Ihr Held ist Atreju, der grünhäutige Jäger aus dem Gräsernen Meer. Das Amulett Auryn der Kaiserin verleiht ihm unbegrenzte Macht, und auf dem Rücken des fliegenden weißen Glücksdrachen Fuchur durchstreift er das unbegrenzte Phantasien auf der Suche nach Rettung.
Später trägt Bastian das Amulett und etabliert sehr irdische Zustände in der Märchenwelt. Eitel und selbstgefällig läßt er sich als strahlender Sieger feiern, will sich gar zum Kaiser krönen lassen. Aber sein bedenkenloses Regime richtet sich gegen ihn, die Traumfahrt wird zur Odyssee, erst nach mancherlei Prüfungen kehrt er geläutert in die Realität der Rahmenhandlung zurück.
Atreju lernt, daß er und alle Wesen Phantasiens »nur Figuren in einem Buch« sind, »Traumbilder«, »Erfindungen im Reich der Poesie, Figuren in einer unendlichen Geschichte«; und sein alter ego Bastian begreift, »daß man nach Phantasien gehen mußte, um beide Welten wieder gesund zu machen«.
Wie der Ethnologe Hans Peter Duerr in seinem Kult-Buch »Traumzeit« an die verschüttete »Wildnis in uns« appelliert, an alles in Träume, irrationale Erfahrungen und angeblichen Aberglauben Verdrängte, wie andererseits John Ronald Reuel Tolkien die »Flucht in die Phantasie« propagiert und den Lesern seines »Silmarillion« und der »Herr der Ringe«-Trilogie »Selbstfindung, Erweckung, Gesundung« verspricht, so empfiehlt auch Michael Ende die Reise nach Phantasien als Bereicherung der Realität, als Heilmittel gegen »Wahn und Verblendung«, gegen »die Flut der Lügen in der Menschenwelt«.
Die Parallelen der »Unendlichen Geschichte« zu Tolkien reichen noch weiter. Ähnlich wie der britische Mystiker entwirft Ende mit unerschöpflicher Einbildungskraft einen Kosmos voller phantastischer, schauriger und kauziger Wesen: Zwerge, Feen, Faune, Elfen, Zentauren, Riesen, Gespenster, Kobolde, Feuergeister, Sphinxe, Tintenmännchen, Nacht-Rabauken, Firlefanze, Berserker, Waldschratte, Eisbolde, Wildweibchen, Kopffüßler ...
Und wie Tolkien verleiht er ihnen die skurrilsten Namen. Da gibt es den Nachtalb Wuschwusul und den Winzling Ückück, das Irrlicht Blubb und den Felsenbeißer Pjörnrachzarck, einen Vier Viertel Troll Temperamentnik oder die an Philemon und Baucis erinnenden »Zweisiedler« Engywuck und Urgl.
Der Unterschied der »Unendlichen Geschichte« zum semireligiösen Mystizismus Tolkiens ist ihr deutlich pädagogischer Realitätsbezug. Ende predigt nicht Eskapismus, schafft nicht gefährlich einfache Schwarz-Weiß-Welten, S.190 sondern er lehrt den jungen Leser behutsam, sich auf Phantasie und Poesie einzulassen, aber seine Wünsche und Träume an seiner alltäglichen Wirklichkeit zu messen, statt ganz in die verführerische Ersatzwelt abzudriften.
Immer wieder mahnen die Freunde Atreju und Fuchur den verblendeten Bastian, er solle Phantasien verlassen, müsse zurück in seine Welt und die »in Ordnung bringen«. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, doch in der Außenwelt liegt das Ziel.
Was Endes Märchen für Erwachsene zusätzlich spannend und attraktiv macht, ist die unendliche Fülle der Bezüge und Verweise aus allen Bereichen der Literaturgeschichte bis zu trivialen Utopien und populärem Unterhaltungsstoff; Archaisches und Biblisches, Ritterepen und verschiedene nationale Märchen-Traditionen, Science-Fiction-Elemente und Comics, die Kunstmärchen der Romantik oder »Die Insel Felsenburg« von Johann Gottfried Schnabel geben sich hier ein Stelldichein.
In seiner wuchernden Fabulierfreude spielt Ende mit Topoi und Motiven aus Wagners »Ring« und Schikaneder/Mozarts »Zauberflöte«, aus den Erzählungen Tiecks und E. T. A. Hoffmanns, aus der Lyrik Eichendorffs oder Novalis'' »Hymnen an die Nacht«; Shangri-La-Träumereien von James Hilton »Irgendwo in Tibet« flackern auf, die Filme »Krieg der Sterne« und »Superman« oder Verse »von einem Phantasienreisenden aus längst vergangenen Tagen, der Schexpir oder so ähnlich geheißen hatte«.
All das behindert nicht die kulinarische Erzähllust des Autors. Vieles in seinem poetischen Weltentwurf kommt einem bekannt vor, manches wird deutlich. Wie Tarzan schwingt sich Bastian an Lianen dahin ("Er war der Herr des Urwalds]"), wie Siegfried schwingt er sein Zauberschwert Sikanda; der grimmige Werwolf Gmork gemahnt an den Erdgeist im »Faust« ("Das Nichts zieht Euch mächtig an ..."), und Bastian bewundert, geschichts- und mythenträchtig assoziierend, den »Lichtdom« des mächtigen Nachtwaldes Perelin. Unendlich das Geflecht der Zitate, Bezüge und mühelos eingebrachten Anspielungen.
Michael Ende, 50, der seit 1971 bei Rom lebt, hat mit den Jugendbüchern »Jim Knopf« (1960/62) und »Momo« (1973) weltweit Erfolg gehabt, beide Titel wurden in viele Sprachen übersetzt. »Die unendliche Geschichte«, seit Herbst 1979 auf dem Markt und bereits mehrfach ausgezeichnet, hat inzwischen eine Auflage von knapp 200 000 Exemplaren erreicht.
Stilistisch bleibt der immerhin 432 Seiten starke Schmöker unangestrengt, leicht konsumierbar und schlicht -- zu schlicht manchmal. Aber immer wieder versöhnen der überbordende Erfindungsreichtum S.191 und die romantische Atmosphäre dieser Phantasmagorie, der schwelgende Erzählfluß in der Beschreibung der Märchen-Landschaften, Traum-Figuren und fortwährenden oszillierenden Verwandlungen der Szenerie.
»Die unendliche Geschichte« ist ein überraschendes Stück phantastischer Literatur, ein moralisches Märchen mit allen Qualitäten eines neuen Kultbuches. Seine Rezeption scheint das zu bestätigen: Der Verlag muß inzwischen gerichtlich gegen einen Raubdruck vorgehen, der in den deutschen Universitätsstädten kursiert.
Die Filmrechte der »Unendlichen Geschichte« sind schon verkauft. Phantäsien, Michael Endes realer Traum vom fernen Land Orplid, wird auch diese zeitgemäße Metamorphose überstehen.
S.188Michael Ende: »Die unendliche Geschichte«. K. Thienemanns Verlag,Stuttgart; 432 Seiten, 26,80 Mark.*