PROPAGANDA Krankheit rettet
Zu dunkler Stunde, im Kriegsjahr 1943, leistete den Deutschen ein ärztlicher Berater Beistand: Dr. med. Wohltat. Sein Zuspruch galt allen Volksgenossen, die sich den gesundheitlichen Belastungen beim totalen Kriegseinsatz nicht mehr gewachsen fühlten: »Wer abgespannt. herunter. überarbeitet ist, sich über dauernde Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen, Schlaflosigkeit und Nervosität beklagt«, leide an »Kriegsermüdung des Organismus«. Den Opfern dieses »schleichenden Übels« verordnete der Doktor unverzügliche Bettruhe.
Der Wohltäter empfahl seine Therapie in einer medizinischen Aufklärungsschrift für Front und Heimat. Das Impressum der wohlfeilen Broschüre aus dem Leipziger Verlag Philipp Reclam jun. deutete auf eine wissenschaftliche Kapazität.
Echt an dem ganzen Reclam-Heft war nur der Titel: »Krankheit rettet«. Tatsächlich handelte es sich um einen britischen Flugblatt-Kursus für den »ärztlich beratenen und wohlausgebildeten Simulanten«. Sefton Delmer, Meister der Kriegspropaganda, hatte die Idee ausgeheckt. Als Tarnschrift wurde sie von Nachtbombern und Ballons der Royal Air Force über großdeutschem Herrschaftsgebiet verstreut.
Der rettende Ratgeber praktizierte in wechselnder Verkleidung: Er lehrte in truppendienstlichen Mini-Vorschriften als »Kleiner ballistischer Wegweiser« oder »Sportvorschrift für die Kriegsmarine«. In Feldgesangbüchern beider Konfessionen appellierte er ebenso an den inneren Schweinehund wie in der Feldpostschrift »Lieder der Bewegung«. Er entschlüpfte Briefchen für Lotterielose und Zigarettenpapier. Für fremdländische Rüstungsarbeiter dozierte er auf Französisch und Flämisch.
Den Fernunterricht leitete ein einschlägig erfahrener Landsmann Delmers. Nervenarzt Dr. McCurdy. Er verriet angeblich wissenschaftlich erprobte Rezepte zur Vortäuschung attestreifer Krankheitsbilder, etwa teilweise Lähmung, schwere Rückenschmerzen, geistige Abwesenheit. Gürtelrose oder Tuberkulose.
Ratschläge zur Vorstellung beim Doktor: unbedingt dienstwillig erscheinen, bei einer Krankheit bleiben, nicht zuviel erzählen. Dann werde der Musterer das gewählte Gebrechen schon von Amts wegen feststellen.
Das Wohltat-Opus hat jetzt Verleger Klaus Kirchner im Faksimile nachgedruckt**. Ein Begleitband über Methoden und Wirkungsweise psychologischer Kriegführung erschließt zusätzliches Quellenmaterial über die Rolle der Medizin im Propagandakrieg.
Sammler Kirchner. von Haus aus Bauunternehmer« hat zwanzig Jahre lang all sein Geld und seine freie Zeit in das Flugblatt-Hobby gesteckt und dabei viele Raritäten aus Geheimarchiven hervorgezogen.
Verbreitung von pseudo-ärztlichem Rat sowie Schauermärchen für den medizinischen Laien, so das Forschungsergebnis des Flugblatt-Fans, sind eine besonders raffinierte Form massenpsychologischer Einflußnahme: »Unabhängig von ideologischen Heilsbildern des einzelnen wurde hier unmittelbar
* Künstliche Hautkrankheiten bei Ost-Arbeiterinnen, laut »Deutsche Medizinische Wochenschrift« vom 19.2.1943.
** Klaus Kirchner: »Krankheit rettet -- Psychologische Kriegführung«. Verlag D + C. Erlangen; 304 Seiten: 38 Mark
der natürliche menschliche Selbsterhaltungstrieb angesprochen.«
Als erste kamen die Sowjets auf die Idee. mit einem fiktiven »Divisionsarzt Dr. Zünger«. Auf einem gefälschten Sanitätsdokument ("Vertraulich! Nur zum inneren Gebrauch!") meldete die
Propagandafigur »Dr. Zünger« am 15. August 1942 vom Gefechtsstand einer 15. Division steigende Belegziffern »unserer Feld- und Etappenlazarette durch sogenannte Kranke und Verletzte«. Manche davon seien bereits unentdeckt bei den
Ersatztruppenteilen untergetaucht.
Wie sich dieses Kunststück fertigbringen ließ, erläuterte das sowjetische Prop-Produkt anhand von zehn Musterfällen für Simulation und Selbstverstümmelung. So wurden empfohlen:
* Herzleiden (durch »Kauen von russischer Machorka")
* Knöchelbruch und Sehnenzerrung ("Rad eines Autos oder Fuhrwerks über den Fuß ...") oder
* Heimatschuß durch den Knobelbecher ("Keine Rauchschwärzung auf der Haut").
Der 1c-Offizier der 35. deutschen Infanteriedivision, keine Kunstfigur, war beeindruckt: »Der neueste Trick der Sowjetpropaganda, der an Raffinesse alles bisher Dagewesene übertrifft.«
Die deutsche Propagandatruppe schlug zurück. Sie fertigte eine eigene Flugblattversion zum gefälligen Gebrauch von Rotarmisten, abgesandt vom erfundenen »Chef des Sanitätsdienstes 364. Schützendivision, Militärarzt 2. Ranges, gez. Livschitz«.
Mit dem Propaganda-Unternehmen »Südstern« wurden auch amerikanische GIs 1944/45 in Italien per Flugblatt verarztet -- zu Amöbenruhr durch Abführmittel. Merkspruch für den Simulanten: »Das Wichtigste am Krieg ist, lebend nach Hause zu kommen.« Ein P.K.-Leutnant bei »Südstern« Henri Nannen, heute »Stern«-Chefredakteur, erläutert: »Uns kam es darauf an, zwischen den Fronten so etwas wie ein gemeinsames Gefühl des Hereingelegtseins zu entwickeln, um die Angriffslust der jungen alliierten Soldaten etwas zu zügeln.«
Die Gegenattacke der Amerikaner: Sie verpflichteten als ihren »Kleinen medizinischen Leitfaden« Deutschlands populärsten Sanitätsdienstgrad. den Gefreiten Neumann. Das Simulantenbrevier schmuggelten sie ab 1944 in Güterwagen aus der Schweiz über die Grenze.
Die US-Gesandtschaft im neutralen Bern erfand dazu noch einen gereimten Wegweiser zum Heimaturlaub mit Neumann-Sprüchen. Ein Landser Gustav Lehmann überlistet darin Stabsarzt Himmelkloß und eilt heim zum drallen Paulinchen Hühnerbein. »Pißpottschwenker Neumann« berichtet; wenn der Mensch ein Bösewicht braucht er für den Urlaubsschein überhaupt nicht krank zu sein.« Die Briten engagierten eine andere beliebte Fiktion, die tapfere kleine Soldatenfrau in der Heimat. Sie montierten ein »Merkblatt No. 276. Nationalpolitischer Unterricht im Heere«. Darin kam, vorgeblich zur Abwehr von »wilden Gerüchten über sexuelle Ausschweifungen .. . mit Angehörigen der Heimatfront und Fremdarbeitern«, im Februar 1943 ein montierter Kompanieführer zum »Thema 6: Eheliche Treue und falscher Verdacht«.
Die Belehrung: Kein Grund zur Unruhe, wenn der »beunruhigende Brief« nach zehnmonatiger Abwesenheit vom Ehebett eintrifft, denn bei der deutschen Frau daheim häuften sich Symptome weiblicher Scheinschwangerschaft. Ausbleiben der Regel und Schwellungen des Unterleibs stammten von kriegsbedingter Überanstrengung wie »langem Stehen« oder »Genuß blähenden Kriegsbrotes«.
Sogar der verlauste und verdreckte Ostmensch, den die deutsche Propaganda sich ausgedacht hatte, lauerte in der englischen Propaganda als Prototyp des »bodenständigen«, leider jedoch schon »immunverseuchten« Krankheitsträgers allerorts auf den hygienebewußten deutschen Menschen.
Ein Gesundheits-Merkblatt für die Wehrmacht ("In die Tasche des Soldbuchs einzulegen") ernannte sämtliche Nagetiere und Insekten des Russischen Reiches zu Überbringern einer pestähnlichen »Tularaemie«, die jedoch bei Befall fälschlich als das harmlosere »Wolhynienfieber« diagnostiziert werde.
Zum Jahresumdruck 1942 »Ratschläge an Ärzte zur Pestbekämpfung« reichten die Briten 1943 »Sonderabdruck No. 9« nach. Unter der Kopfleiste »Reichsgesundheitsblatt« inszenierten sie einen Gerüchte-Feldzug zur »Früherkennung« der Pest. Die deutsche echte -- Reichsärztekammer sah sich genötigt, den Panikmacher wenigstens standesintern vorzuführen: Im Deutschen Ärzteblatt« würdigte ein Seuchenspezialist, der echte Dr. med. H. Bauer, das feindliche Machwerk als besonders »markanten Versuch« im Nervenkrieg mit Pestflugblättern.
Die Stellungnahme bestätigte dem britischen Außenministerium die Durchschlagskraft seiner psychologischen Kriegführung: Dr. Bauer hatte Hinweise auf ein Gefühl der Unsicherheit bei Laien zitiert, Verluste an Arbeitsstunden und Überlastung in den ärztlichen Sprechstunden.
Der fiktive Dr. Wohltat fand Eingang in Gestapo-Akten und internes Wehrmachtsmaterial. Beim Oberkommando der Wehrmacht stiftete Wohltat umfangreichen truppendienstlichen Schriftverkehr, so in Mitteilungen an das Offizierkorps (Nr. 29/1944): »Natürlich weiß der Feind, daß anständige Soldaten auf solche raffinierte und gemeine Ansinnen nicht reagieren; er rechnet ja auch immer nur mit den vereinzelten Schloten. die es überall auf der Welt gibt. immerhin ist es gut. wenn die Einheitsführer gut aufpassen, ob diese Art Gift auch in ihrem Bereich festzustellen ist.«
1944 ergingen geheime »Richtlinien zur Erkennung und Erfassung von Selbstbeschädigung«. Der Ermittlungsgang sah unter anderem vor: Einweisung ins Beobachtungslazarett, Vernehmung zum Zwecke der Entlarvung (möglichst durch Abwehroffiziere), Meldung wehrpflichtiger Zivilisten an die Gestapo.
In einem anderen Geheimbefehl wies der Chef des Wehrmachtssanitätswesens die Chef-, Truppen- und Musterungsärzte an, bei ihren Untersuchungen der »Frage der Selbstbeschädigung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken«. »Es sind bereits Fälle zur Aburteilung gelangt und mit Todesstrafe geahndet worden. Der Nachweis ist oft erheblich einfacher, als in den Anweisungen dargestellt wird.«
In der Heimat aber wuchs bei Dienstverpflichteten und Zwangsarbeitern der Rüstungsindustrie die Neigung, sich per Krankenschein vom totalen Krieg abzusetzen. Im geheimen Schriftverkehr der Gestapo ortete Rechercheur Kirchner für die Zeit von November 1944 bis Februar 1945 etwa hundert Berichte über Fälle von Simulantentum und Selbstverstümmelung. Die Leitstelle Halle meldete Rückgang der Krankmeldungen in den I.G.-Werken bis zu 70 Prozent nach Festnahme von 46 Personen. Den Verhafteten drohte Konzentrationslager -- Stufe 2 -- wegen Arbeitssabotage.
Im Nürnberger Prozeß wurde Rüstungsminister Speer über die staatspolizeiliche Behandlung ausländischer Arbeitsverweigerer vernommen. Speer verwies auf die feindliche Luftpropaganda zum Simulieren: »Dagegen haben wir, vielmehr die zuständigen Stellen, Maßnahmen ergriffen, und ich hielt diese Maßnahmen für richtig.«
Eine ungefährliche Maßregel: Dr. med. Wohltat wurde umgedreht. Wörtlich ins Englische rückübersetzt, mit persönlichen Grüßen an die alliierten Soldaten versehen, schickte ihn die Wehrmacht-P.K. Ende 1944 ins späte Gefecht. Als Tarnung diente ein Streichholzbriefchen mit aufgedruckten V-Zeichen. Dazu die Drückebergerparole: »Komm lebend nach Hause! Der 2. Weltkrieg ist fast vorbei!«
»Eine der befriedigendsten Rückmeldungen unserer »schwarzen Propaganda"«, kommentiert Delmer in seinen Memoiren. Bei zivilen Renten- und Rezeptjägern erzielten Restexemplare der englischen Version in den Bücherstuben Sohos bis 1952 hohe Liebhaberpreise. Etwas später überlegten CIA-Agenten in West-Berlin, ob sich durch einen Aufruf zur Krankmeldung aller Eisenbahner in der DDR das Verkehrssystem lahmlegen ließe, Der Plan wurde verworfen,
Flugblatt-Experte Kirchner bezweifelt sogar, daß sich Dr. Wohltats Rezepte auch nur zum Anzapfen der Krankenkasse verwenden lassen: »Ich warne dringend vor Nachahmung, denn die Ratschläge waren alles andere als harmlos gemeint. Außerdem hat sich die ärztliche Diagnosekunst inzwischen erheblich verfeinert und der Vertrauensarzt hat den falschen Reclam-Doktor womöglich auch konsultiert,"·