OPPOSITION Krawall aus München
Der Bundespolitiker Edmund Stoiber wusste, worauf es ankam: »So viel Union war nie«, tönte der CSU-Vorsitzende vor einem Jahr, als er noch Kanzlerkandidat war. »Mit Geschlossenheit und Zusammenhalt« könne das christliche Lager »ökonomischen Unsinn verhindern«. Das war Stoibers Parole vor zwei Monaten in München. Die Union habe in der Sozialpolitik »vollständige Einigkeit« erreicht, bekräftigte er vor einem Monat.
Vergessen, vorbei. Vergangene Woche war von der viel beschworenen Gemeinsamkeit zwischen der CDU und ihrer bayerischen Schwesterpartei nicht mehr viel zu spüren.
Ob Europapolitik, Gesundheitsreform oder die richtige Oppositionsstrategie - rücksichtslos fordert der Münchner Ministerpräsident die Christdemokraten öffentlich heraus. Einen Brief an CDU-Chefin Angela Merkel mit 16 Kritikpunkten am EU-Verfassungsentwurf lancierte Stoiber in der »Frankfurter Allgemeinen« - eine bewusste Brüskierung seiner Kollegin. In der Gesundheitspolitik sperrt er sich dagegen, Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung herauszunehmen, obwohl er vorher der CDU Entgegenkommen signalisiert hatte.
Stoiber hat mittlerweile nur noch ein Ziel vor Augen: die bayerische Landtagswahl im September. Dort will er das gute CSU-Ergebnis bei der Bundestagswahl von 58,6 Prozent wiederholen. Bei einem Stimmenverlust, so fürchtet er, würde er gegenüber Merkel und dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch an Einfluss verlieren. Die Hoffnung auf eine erneute Kanzlerkandidatur, die Stoiber pflegt, wäre bei einem allzu großen Minus dahin. Selbst in München könnte ein Kampf um die Nachfolge beginnen.
Merkel spürt die Veränderungen hautnah. Fast jeden Tag telefonierte Stoiber in der vergangenen Woche aus dem Urlaub heraus mit der CDU-Vorsitzenden, um eine Linie bei der Gesundheitsreform zu finden. Der Ton wurde von Tag zu Tag rauer. Am vergangenen Donnerstag, bei der morgendlichen Telefonschaltkonferenz mit den Spitzen von CDU und CSU, gipfelte der Streit schließlich in einem scharfen Wortwechsel. »So nicht«, beschied Merkel Stoiber kühl.
Der Konflikt dreht sich vor allem um die Frage, ob Zahnbehandlungen weiterhin von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt werden sollen. Merkel will diesen Posten in eine private Pflichtversicherung ausgliedern, Stoiber dagegen plädiert für eine höhere Eigenbeteiligung bei medizinischen Leistungen.
Ein Papier der parteiinternen Reformkommission unter Vorsitz des Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog, das CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer eigentlich am vergangenen Donnerstag verschicken wollte, wurde wegen des Streits zunächst unter Verschluss gehalten. Auch bei einer Krisensitzung einiger Gremiumsmitglieder in Berlin, an der Meyer und CSU-Vize Horst Seehofer teilnahmen, gab es keinerlei Annäherung. Mehrfach schaltete sich die CDU-Vorsitzende per Telefon ein, um zu verhindern, dass ihre Position aufgeweicht würde. Am Dienstag soll die Herzog-Kommission abstimmen. Seehofer kündigte an, die Sitzung zu boykottieren.
Die CSU-Seite will in den Verhandlungen hart bleiben. »Bei einer Privatisierungsorgie mache ich nicht mit«, schimpft Seehofer. »Das macht es für die Menschen nicht besser, sondern nur teurer.« Da könne man den Bürgern gleich den Lohn um zehn Prozent kürzen, spottet er und mahnt: »Wir dürfen das Soziale an der Marktwirtschaft nicht vernachlässigen.«
Auch über die Zukunft Europas wird herzhaft gestritten. Merkel hat intern deutlich gemacht, dass die Union es sich nicht leisten könne, im Bundestag gegen den Entwurf zur EU-Verfassung zu stimmen, die Brüssel mehr Rechte einräumt.
Stoiber dagegen, lautstark unterstützt von CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, sieht noch grundsätzlichen Änderungsbedarf, vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und beim Ausländerrecht, das er gern straffer formuliert sähe. Der Bayern-Premier macht die Lösung der von ihm angesprochenen Probleme zur »wesentlichen Grundlage« für die Zustimmung zum EU-Vertragstext.
Bei einem Krisengipfel am Freitag wollen die beiden Parteivorsitzenden einen letzten Einigungsversuch unternehmen. Man dürfe »den Sack nicht wieder aufschnüren«, warnt der CDU-Europapolitiker Peter Hintze. Doch Landesgruppenchef Glos droht den Fraktionskollegen von der großen Schwesterpartei bereits: »Die CSU darf nach Fraktionsvertrag nicht überstimmt werden.«
Stoiber geht es nicht nur um sein Profil als Konservativer mit einem Herz für die kleinen Leute. Ihm passt Merkels Oppositionsstrategie nicht. Während die CDU-Chefin der Bundesregierung fortwährend Verhandlungsbereitschaft signalisiert, wettert der CSU-Kollege nach guter bayerischer Art gegen Kungelrunden mit Rot-Grün.
Mit seinem Krawallkurs bringt der Münchner Landesfürst Merkel in eine schwierige Lage. Nach der Sommerpause muss die CDU-Vorsitzende eine geschlossene Haltung der Union gegenüber der Reformagenda von Kanzler Gerhard Schröder vorweisen können. Doch ob Stoiber beidreht, ist keineswegs sicher. Bei einem guten Landtagswahl-Ergebnis rechnen Parteifreunde mit einem Auflodern seiner bundespolitischen Ambitionen. Ein CSU-Präside ist sich sicher: »Stoiber will nach Berlin.« RALF NEUKIRCH, CHRISTOPH SCHULT