BRIEFWAHL Kreuz für Oma
Im Jahre 1956 bescherte der Deutsche Bundestag dem Volk »etwas Neues« -- eine politische Einrichtung, die, wie Debattenredner damals anmerkten, »in anderen demokratischen Ländern« längst »selbstverständlich« sei und ohne Zweifel auch in der Bundesrepublik die »Wahlfreudigkeit« fördern werde.
Ein Vierteljahrhundert später scheint die Errungenschaft von einst Bonner Politikern »an vielen Ecken und Enden äußerst faul« (SPD-Abgeordneter Axel Wernitz) und zumindest reformbedürftig, wenn nicht abschaffungsreif: das Wähler-Recht, den Stimmzettel in den Briefkasten statt in die Urne zu werfen.
* Für die SPD will Innen-Experte Wernitz im Januar eine »drastische Eingrenzung des Briefwahlrechts« auf die Tagesordnung des von ihm geleiteten Innenausschusses setzen.
* Gemeinsam mit Unionspolitikern anderer Bundesländer möchte der Mainzer Innenminister Kurt Böckmann »die Möglichkeit einer Initiative im Bundesrat prüfen«.
* Für die FDP will der saarländische Parteivorsitzende und Wirtschaftsminister Werner Klumpp »darauf drängen«, daß das Briefwahlrecht geändert wird.
Anlaß für die Allparteien-Denkanstrengung ist der Umstand, daß die bequeme Fernabstimmung -- eingeführt, um Alten und Gebrechlichen den Urnengang zu ersparen -- zur bevorzugten Wahlform für Millionen geworden ist (1957: 4,9 Prozent, 1980: 13 Prozent Briefwähler) und allenthalben zu Schwindel, Fälschung und Wahlbetrug verführt.
Längst geht es nicht mehr nur um Einzelfälle wie im Koblenzer Stadtteil Lay, wo der CDU-Ortsvorsteher Hellmut Rübel bei der Briefwahl seiner Großmutter behilflich war. Hinter dem Rücken der 90jährigen kreuzte der Wahlhelfer auf dem Stimmzettel die christdemokratische Liste an, fälschte auf dem Wahlschein die Unterschrift der Greisin, und ab ging die Post.
Das Kreuzchen für Oma, das dem rührigen Rübel eine Verurteilung wegen falscher eidesstattlicher Versicherung eintrug, ist nur eines von vielen Beispielen. So ermittelte in einer nordrhein-westfälischen Stadt, wie Düsseldorfs Innenminister Herbert Schnoor weiß, die Staatsanwaltschaft in »mehreren hundert Fällen«. Und im Saarland, klagt FDP-Klumpp, »denaturieren« Briefwahlen in einzelnen Gebieten »mehr und mehr zu einer Stimmensammlung per Kolonne«.
Die Methode scheint immer die gleiche: Übereifrige Parteimitglieder offerieren gleichgültigen, bequemen oder verbitterten Mitbürgern ebenso wie alten und kranken Wahlberechtigten ihre Dienste. Die Wahlhelfer gehen von Haus zu Haus, lassen sich Vollmachten ausstellen, bringen wenig später die Briefwahl-Unterlagen ins Haus, füllen sie teils selber aus und stecken sie häufig auch noch in den Briefkasten.
Beim Mogeln ertappt wurde der Gemeindedirektor im oberbergischen Nümbrecht. Der CDU-Mann hatte sieben gebrechlichen Bewohnern eines Alten- und Blindenheims beim Ausfüllen des Stimmzettels sehr energisch die Hand geführt und anschließend mit zittrigen Buchstaben die Unterschriften der betagten Wähler nachgeahmt. Die sieben CDU-Stimmen kosteten den Kommunalbeamten sechs Monate Freiheitsstrafe wegen Wahlfälschung.
Im rheinischen Hilden fahndet die Staatsanwaltschaft nach einem Chorknaben des katholischen Gesangvereins, der im städtischen Altenheim nicht nur gesungen, sondern für vier Heimbewohnerinnen auch briefgewählt haben soll -- zugunsten der CDU und gegen den Willen der Senioren.
In einem Heim im bayrischen Vilseck führten ein CSU-Kandidat und eine hilfreiche Schwester gleich 23 Gebrechlichen beim Kreuzchenmachen die Feder. Und in einem Pflegeheim im Schwarzwaldort Schömberg verschaffte ein Pfleger der CDU und einer CDU-nahen Wählergemeinschaft die Stimmen Dutzender von Heiminsassen, die ihre Stimmzettel teilweise erst gar nicht zu Gesicht bekamen. In beiden Fällen wurde eine Wiederholung der Gemeindewahlen angeordnet.
Aus der Angst vieler älterer Menschen vor dem nicht ganz einfachen Briefwahlverfahren versuchte auch der CDU-Bundestagsabgeordnete und Weinfabrikant Elmar Pieroth Vorteil zu ziehen. In seinem Wahlkreis Bad Kreuznach ließ er vor der Bundestagswahl Tausende betagte Wahlberechtigte per Rundschreiben wissen, daß »eine Person meines Vertrauens« zur Verfügung stehe, um »bei der richtigen Handhabung behilflich zu sein«.
Mit Freibier, so argwöhnen rheinlandpfälzische Christdemokraten, haben Jusos in Koblenz Frührentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger zur Briefwahl und zur Stimmabgabe für die SPD animiert. In einigen Straßen wählten über 30 Prozent der Anwohner per Post. Schon bei der Europa-Wahl hätten dort, behaupten mißvergnügte CDU-Parteigänger, ein Gewerkschaftsfunktionär und eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt einen Blick in die Wählerverzeichnisse riskiert, um sich zugunsten der SPD hartnäckigen Nichtwählern der letzten Jahre widmen zu können.
Wie auch immer -- vom Verfassungsgrundsatz der freien und geheimen Wahl kann bei der Stimmabgabe daheim häufig keine Rede mehr sein. Aus dem Wahlgeheimnis wird unter den Blicken von Hausgenossen oder Wahlhelfern ein offenes Geheimnis.
Der saarländische SPD-Landtagsabgeordnete Reinhold Kopp etwa, der in Alt-Saarbrücken die Klinken putzte, verhalf nach eigener Erinnerung »weit über hundert« Bürgern zum Stimmzettel. S.53 Klar, daß er seine Botendienste mit Propaganda verband. Wie erfolgreich so ein Briefwahlkämpfer ist, liegt laut Kopp nur »an den psychologischen Fähigkeiten des einzelnen«.
Kopp und sechzig weitere Genossen im Außendienst waren offenbar psychologisch gut vorbereitet. Im Wahlkreis Saarbrücken I jedenfalls stieg der Anteil der Briefwähler seit der Bundestagswahl 1976 von 14 auf 17,3 Prozent. Fast jeder zweite Briefwähler entschied sich für die SPD. Der in Saarbrücken unterlegene CDU-Kandidat Stefan Weszkalnys empörte sich prompt über den »Stil von Zeitschriftenwerberkolonnen«, durch den »faule Staatsbürger, die sonst nicht gewählt hätten«, zur Briefwahl gebracht worden seien.
Faulheit zählt in der Tat nicht zu den im Gesetz festgelegten Voraussetzungen, die zur Briefwahl berechtigen. Bisher jedoch wurde kaum nachgeprüft, ob ein Briefwähler wirklich, wie vorgeschrieben, durch Alter, Krankheit, »infolge seines körperlichen Zustands« oder »aus wichtigem Grund« verhindert ist.
Nur eine Minderheit unter den fünf Millionen Briefwählern der letzten Bundestagswahl, so vermuten Politiker aller Parteien, würde einer solchen Prüfung standhalten. Peter Beckmann, zuständiger Abteilungsleiter im hessischen Innenministerium, hält die meisten Briefwähler schlicht für »Sonntagsausflügler«.
Wo ausnahmsweise mal nachgeprüft wurde, wie in Koblenz, registrierten die Beamten »eindeutige Unregelmäßigkeiten«. Eine Hausfrau beispielsweise, die mit dem Hinweis auf halbseitige Lähmung die Briefwahlunterlagen beantragt hatte, öffnete den Kontrolleuren kerngesund die Tür.
Die Koblenzer Kontrollaktion freilich blieb folgenlos. Falsche Angaben auf dem Briefwahlantrag ziehen nicht einmal einen Bußgeldbescheid nach sich. »Die Glaubhaftmachung«, kritisiert Sozialdemokrat Wernitz, »ist praktisch zu einer Farce geworden.«
Bei den geplanten Änderungen des Briefwahlrechts steht, so der Mainzer Innenminister Böckmann, eine »intensivere Überprüfung der Glaubhaftmachung« folglich ganz vorn. Zudem sollen »die Möglichkeiten zur Bevollmächtigung von Wahlhelfern reduziert werden« -- nicht zuletzt auf Wunsch der mitgliederschwachen FDP, die keine Helferkolonnen in die Wahlschlacht schicken kann.
Weiter als alle anderen Briefwahlkritiker geht der SPD-Abgeordnete Wernitz: Er plädiert schlicht für die »Abschaffung der Briefwahl«, die »sauberste und beste Lösung«.
Die Wahlberechtigten in Krankenhäusern und Pflegeheimen will Wernitz gleichwohl nicht um ihr Wahlrecht bringen: Mehr als bislang sollen »fliegende Wahllokale« eingesetzt werden.
Wenn Wernitz sich mit seinem radikalen Streichungsvorschlag durchsetzt -- und nur dann --, ließe sich verhindern, was noch bei der jüngsten Wahl in der niedersächsischen CDU-Hochburg Cloppenburg klappte: Dort fingerten nächtens Unbekannte mindestens fünf Wahl-Kuverts aus dem Briefkasten der Kreisverwaltung.
Wer anders gewählt hatte, als es den Dieben gefiel, bekam seinen Stimmzettel wenig später per Post mit Grüßen von den unbekannten »Kämpfern für Recht und Ordnung« retour: »Auf Ihre Stimme können wir verzichten.«